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„Uns ist wichtig, wie man etwas macht und nicht nur was.“

Wie ein Startup die Arbeit von Fahrradkurieren sozialer gestaltet und mit einer Mitfahrzentrale für Dinge aller Art zu mehr ökologischer Nachhaltigkeit beiträgt

Bequemer könnte es kaum sein. Beinahe alles lässt sich heutzutage mit einem einfachen Klick online bestellen und in Windeseile nach Hause liefern. Der Haken: besonders nachhaltig ist das nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn etwa eine nachhaltige Zahnbürste mit einem alten Dieselfahrzeug transportiert wird und der Fahrer dieses Gefährts mehr schlecht als recht bezahlt wird. Um das zu ändern, wurde TiMMi Tranport ins Leben gerufen. Entstanden ist damit ein Start-Up, das einerseits mit einer eigenen Online-Plattform deutschlandweit die Arbeit von Fahrradkurieren fair gestalten will und anderseits mehr Raum für Soziales und ein Beitrag zum Umweltschutz leisten soll. Dafür wurde außerdem eine Mitfahrzentrale für zu transportierende Dinge ins Leben gerufen. In Form einer Community-Plattform können mit dessen Hilfe Privatpersonen und ehrenamtliche Organisationen Lieferungen von A nach B transportieren lassen, indem sie von Menschen mitgenommen werden, die ohnehin auf der gefragten Strecke unterwegs sind. Das spart CO2 und bringt Menschen wieder näher zusammen. Wie es dazu kam und was hinter den Kulissen das Start-Ups passiert, hat uns die Gründerin des Start-Ups Christina Kleinau im relaio-Interview verraten.   

Wie bist du auf die Idee gekommen, ein Start-Up wie TiMMi Transport zu gründen?

Christina: Ich habe in Wirtschaftsethik promoviert. Dabei wurde immer wieder darüber gesprochen, dass nachhaltige Geschäftsideen dringende gesellschaftliche Probleme lösen sollen und somit die besseren Geschäfte sind. Aus Konsumentensicht hatte ich zudem beobachtet, dass es zwar nachhaltige Produkte gibt, sie meist aber nur online bestellbar sind. Da kommt eine Lieferkette zustande, in der schlecht bezahltes Personal in umweltschädlichen Fahrzeugen diese dann ausliefern – das ist total inkonsistent. Deswegen haben wir uns letztendlich dem Thema der nachhaltigen und fair bezahlten Lieferung angenommen. Gleichzeitig war Ende 2015 die Flüchtlingssituation sehr präsent. Viele Sachspenden waren nötig. Die gab es auch und man wusste, wo sie hinmüssen, jedoch gab es ein Transportproblem. Man wusste nicht, wie man die Spenden von einem zum anderen Ort bringen sollte. In diese Lücke sind wir gesprungen und haben gesagt: „Wir probieren es einfach aus!“ Indem wir mit einer Organisationsplattform online gehen und schauen wer sich da anmeldet, um etwas zu transportieren.

Als Mitgründerin von TiMMi Transport will Christina Kleinau (links) für mehr Nachhaltigkeit in der Mobilität kämpfen. (C) TiMMi 

Also war Flüchtlingsversorgung euer Startschuss?

Christina: Ja, die Idee war schon da, aber das war letztlich der Initialzünder um es auszuprobieren. Das hat auch gut funktioniert. Wir haben tausende Kilogramm an Sachen durch die Stadt bewegt, innerhalb von einem Tag. Dafür musste alles ziemlich zügig im Hintergrund ablaufen. Wir sind dadurch schnell mit unserer Plattform online gegangen – innerhalb von zwei Wochen. Wir versuchen also schon Lean-Methoden umzusetzen, indem wir erstmal etwas entwickeln und den Leuten in die Hand geben, bevor wir versuchen es zu perfektionieren. Klar, zu Beginn war es schon sehr rudimentär, aber es hat ausgereicht – jemand kann einen Auftrag aufgeben und jemand kann darauf antworten: „Ja, das mach ich.“

Mittlerweile nutzen auch andere Menschen eure Plattform?

Christina: Meistens sind es Lieferungen für gemeinnützige Organisationen, generell auch Sachen die irgendwo vergessen wurden. Oder Dinge von kleineren, nachhaltigen Produzenten, die ihre Produkte über unsere Plattform versenden. Es gab auch mal ein Projekt für nachhaltige Särge, die mit Hilfe einer Mitfahrgelegenheit transportiert wurden, dann aber mit einem Auto. Für die Lieferoption „Mitfahrgelegenheit“ gibt es keine Bindung an Fährräder.

Als Lieferoptionen bietet ihr professionelle Kurierdienste und private Mitfahrgelegenheiten an: Warum eigentlich beides?   

Christina: Professionelle Lieferoptionen mit einer Garantie, dass die Lieferung sicher und schnell ankommt, bilden einen großer Bestandteil der Nachfrage am Markt, den wir mit Mitfahrgelegenheiten allein nicht abdecken könnten. Am liebsten würden wir als Zentrale und Plattform für verschiedene Fahrrad-Kurierdienste gesehen werden. Das ganze aus dem Hintergrund, dass ein Unternehmen uns gefragt hatte, ob sie unsere Plattform für Mitfahrgelegenheiten nutzen können, um ihre Lieferungen ausfahren zu lassen – gegen Bezahlung. Das ist natürlich für professionelle Fahrradkuriere interessant. Und so sind wir immer mehr mit Kurieren ins Gespräch gekommen. Wir haben uns dann gedacht: „Ja klar, alles was umweltfreundlich ist, machen wir mit.“ So hat sich es entwickelt, dass wir die Software und ihre Funktionen weiterentwickelt und angepasst haben, damit sie auch für die Kurier-Profis gut funktioniert.   

Das TiMMi-Kernteam (v.l.n.r.): Alex, Christina, Petros & Sandra (C) TiMMi

Wir stemmt ihr das alles finanziell?

Christina: Die Software selbst, die die tagtägliche Arbeit der Kuriere digital abbildet und vereinfacht, wird vergütet. Wenn wir den Kurieren neue Aufträge bringen, bekommen wir auch eine Provision. Wichtig zu wissen ist: diese Softwarelösung, für die Profi-Kuriere, ist nicht dieselbe wie die Community-Plattform für die Mitfahrgelegenheiten. In der öffentlichen Plattform nehmen wir keine Gebühren, verdienen also nichts daran. Ursprünglich hatten wir schon gedacht, auch da eine Provision einzuführen, aber die Option der Mitfahrgelegenheit wird größtenteils für gemeinnützige und ehrenamtliche Lieferungen genutzt, die eh kostenfrei sind. Hinzu kommt, dass die Abwicklung sehr kompliziert ist. Wir arbeiten schon Vollzeit, sind jedoch noch förderungsgestützt. Unsere größte Förderung war bisher ein Technologie-Gründerstipendium der Sächsischen Aufbau Bank. Zudem sind zwei kleinere Seed-Investoren dabei, die uns finanziell helfen. Es soll aber darauf hinauslaufen, mit professionellen Lieferoptionen den Lebensunterhalt zu verdienen und die gemeinnützige Säule der Mitfahrgelegenheiten zu tragen.

Einfach ist das bestimmt nicht immer: Was ist momentan eure größte Herausforderung?

Christina: Momentan gibt es ein großes Wachstum im Same-Day-Delivery-Bereich durch Online-Shops. Andere Kurier-Plattformen, die daran verdienen wollen, werden meist mit viel Wagniskapital unterstützt und drücken die Preise. So gibt es Angebote für fünf Euro pro Lieferung innerhalb von 90 Minuten. Die 25 Euro die es eigentlich kostet, wird den Kurieren mit Hilfe des Wagniskapitals zwar bezahlt, aber die Kunden bekommen davon nichts mit und denken: „Ach toll, nur fünf Euro“. Das Problem der Kuriere ist, dass sie somit diesen Unternehmen helfen in den Markt einzusteigen und gleichzeitig zum Preisdumping der eigenen Arbeit beitragen. Das ist für uns natürlich eine riesen Herausforderung, weil wir für faire Preise und Arbeitsbedingungen kämpfen wollen.

Welches Ziel habt ihr vor Augen, wenn ihr solchen Unternehmen die Stirn bietet wollt?  

Christina: Ziel ist der Aufbau einer Community. Der Gedanke ist, dass die Person die deine Sachen liefert – egal ob über die Community Plattform oder über den Profibereich – weniger anonym ist und menschliche Interaktionen mehr im Vordergrund stehen. 

Gerade bei Online-Shops ist die Lieferung die einzige menschliche Interaktion, die noch stattfindet

Es ist das Gefühl, dass wir damit transportieren wollen, dass alle füreinander wirtschaften. Allgemein war es nie der Wunsch ein Start-Up zu gründen, was nur zum Geldverdienen da ist, sondern auch gesellschaftliche Probleme löst. Der Anspruch ist das System nachhaltiger zu gestalten. Uns ist wichtig, wie man etwas macht und nicht nur was.


(c) Titelbild: Timmi Transport

Eco Toiletten – Nachhaltige Alternativen zum stillen Örtchen

Die mobilen WCs vom Start-Up Eco Toiletten sind eine geruchslose Alternative zum chemischen Klohäuschen. Das Endprodukt wird weiterverwendet – als Dünger.

Wenn es draußen wieder wärmer wird, der Schnee geschmolzen ist und alles grünt, dann sprießen sie nur so aus dem Boden: Festivals, Open-Air-Veranstaltungen, Stadt-und Straßenfeste. Ein ständiger Begleiter dieser Momente, sind leider auch mobile Plastiktoiletten, man bereits schon nach wenigen Stunden nicht mehr betreten möchte – der Geruch von Chemie und Fäkalien ist meist nur mit zugehaltener Nase zu ertragen. Das Start-Up Eco Toiletten bietet da eine umweltfreundliche, geruchsneutrale Alternative. Statt mit Wasser zu spülen und damit unser Grundwasser zu verunreinigen, wirft man hier nach dem Toilettengang einfach eine Handvoll Holzspäne nach. Das bindet den Geruch und überdeckt gleichzeitig die Hinterlassenschaften.

Das Gründerteam (von li nach re): Sven, Kevin, Thomas.

Doch wie kommt man auf so eine Start-Up-Idee? Grundsätzlich kann man sagen, dass unser Problem mit mobilen Toiletten wohl eher ein Wohlstandsproblem darstellt. Denn weltweit gibt es etwa 2,5 Milliarden Menschen, die gar keinen Zugang zu Toiletten haben. Daraus resultieren meist gesundheitliche Probleme durch sich verbreitende Krankheitserreger in umgekippten Gewässern und Böden, die versauern. Die Gründer von Eco Toiletten, Kevin Kuhn, Sven Riesbeck und Thomas Jakel überlegten während ihres Studiums – Geografie und BWL – , welche Möglichkeiten es gibt, so ein Weltproblem anzugehen. Thomas machte daraufhin 2012 eine Fahrradtour von Berlin nach Indien, um auf das Problem Aufmerksam zu machen und sammelte Spenden, um vor Ort Toiletten bauen zu können. Dabei kamen 15.000 Euro von privaten Spendern, Crowdfunding und einem veranstalteten Event zusammen. Mit Hilfe des Ministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und einem Förderprogramm konnten am Ende sogar 35.000 Euro mit einer Partnerorganisation umgesetzt werden. Bis heute arbeitet der daraus gegründete Verein Non-Water-Sanitation an der Verbesserung der Situation.

Doch dann stellten die Drei sich die Frage, wie sich das Ganze wirtschaftlich nachhaltig in Deutschland umsetzen lässt und gleichzeitig Bewusstsein schafft – denn schlussendlich ist es ein Thema, das uns alle betrifft. So entstanden zwei Ideen: mobile Trockentoiletten und feste Trockentoiletten für Kleingärtner und öffentliche Standorte.

Aus Fäkalien wird Kompost

Der größte Vorteil an Trockentoiletten liegt auf der Hand: sie brauchen kein Wasser. Verwendet werden nur ökologisches Toilettenpapier, Holzspäne und Handdesinfektionsmittel. Der zweite große Pluspunkt ist, dass die Nährstoffe aus den Fäkalien recycelt und damit wieder nutzbar gemacht werden. „Seit wir Wassertoiletten benutzen, haben wir den Nährstoffkreislauf durchbrochen. Denn eigentlich gehen die Nährstoffe in den Boden, von dort in die Pflanze und dann wieder zu uns und nicht in die Gewässer“, erklärt Mitgründer Kevin Kuhn. Damit die Hinterlassenschaften recycelt und zu Kompost gemacht werden können, muss das Start-Up zum einen selber für die Verwertung bezahlen und zum anderen viel Aufklärungsarbeit leisten. Denn selbst bei den Ämtern herrscht viel Unwissenheit und Angst vor dem Material. „Das sind Bedenken aus dem Mittelalter, wo man noch keine Verfahren hatte, um Krankheitserreger in den Fäkalien zu erkennen. Heute gibt es die“, sagt Kevin. Diese alten Vorbehalte sorgen auch dafür, dass der Kompost aus menschlichen Fäkalien in Deutschland nicht zum Düngen verwendet werden darf – doch auch daran arbeiten sie und leisten damit in Deutschland Pionierarbeit.

Die mobilen Eco Toiletten.

Mittlerweile ist auch das Start-Up selbst gewachsen. Ganze 300 mobile Eco Toiletten sind in Deutschland unterwegs und acht fest installierte in Berlin und in Sachsen. 2018 sollen weitere in München hinzukommen. Klar ist, dass die Trockentoiletten ein Stück teurer sind als die üblichen Dixi-Klos. Im Vergleich zur chemischen Konkurrenz zahlt ein Betreiber für die alternativen Toiletten etwa das Doppelte – also grob gerechnet für zehn mobile Eco Toiletten etwa 2500 Euro. Das liegt noch an der geringen Größe des Start-Ups, aber auch an der Kompostierung, die teurer ist als das Klärwerk bei den Chemietoiletten. Dafür gibt es aber bei der nachhaltigen Alternative einen Reinigungsservice vor Ort.

Holzspäne gegen den Geruch

Die Holzspäne für die Toiletten kamen zu Beginn von Tischlereiabfällen, doch leider musste das Start-Up von dieser Verwertungsidee wieder abkommen. Die Späne waren zu staubig für die Kabinen und teilweise mit Lacken vermischt, die nicht kompostierbar waren. Die aktuell produzierten Späne kommen von deutschen Kiefern und die Menge hält sich, gerade im Vergleich der Fäkalienmenge, in Grenzen und ist daher für das Start-Up auch ökologisch vertretbar. Es gibt sogar bereits eine Technologie, die ohne die Holzspäne funktioniert und bei den fest installierten Toiletten umgesetzt wird. Dort gibt es eine Art Förderband, welches die flüssigen und festen Stoffe gleich trennt und somit auch kein Geruch entsteht.

Selber finanzieren kann sich das Start-Up leider noch nicht. Doch mit Hilfe von Privatinvestoren und externen Finanzierungen kommen die zehn Mitarbeiter, die teilweise auch in Teilzeit arbeiten, einigermaßen über die Runden. Trotzdem rückt der Blick auch immer wieder ins Ausland. Mit dem Verein Non-Water-Sanitation treiben sie verschiedene Pilotprojekte voran und planen eventuell auch mit Ghana ein weiteres Land aufzunehmen.

Je mehr Aufmerksamkeit sie bekommen und somit ein Bewusstsein in unseren Köpfen schaffen, desto eher wird das Thema unsere Hinterlassenschaften vielleicht doch irgendwann eines, das sich auch am Esstisch diskutieren lässt und so zu einer nachhaltigen Lösung beigetragen wird.


(c) Alle Bilder von Eco Toiletten

Khala Kolumna – Folge 6

Über die Höhen und Tiefen einer Start-Up-Gründung: Über Sonne, Mut und mehr

Im Juli 2017 hat das Start-Up Khala die Crowdfunding-Kampagne für ihre Slow-Fashion-Mode erfolgreich abgeschlossen. Daraufhin hätte eigentlich die Produktion in Malawi anlaufen sollen. Doch so einfach war es nicht. Es gab Probleme mit dem Stofflieferanten und die Zusammenarbeit mit der Designerin in Malawi musste beendet werden. Dadurch ging auch das Atelier für die Produktion verloren. Doch davon ließen sich Mel, Bene und Hubi nicht unterkriegen. Was sie alles erleben – vor allem in Malawi vor Ort – erzählt Bene von Khala hier bei uns.

“Ganz schön mutig, was ihr macht,” sagte das Mädchen mit dem netten Lächeln und dem halbvollen Plastikbecher, den sie in der Hand hielt. Mit der anderen Hand skippte sie sich gerade durch die verschiedenen Modelle unserer Bomberjacken, die an einer Kleiderstange baumelten. Von der nahe gelegenen Bühne wummerten Bässe zu uns herüber und die Sonne beschien wohlwollend das Festivaltreiben der Münchner Afrika Tage, auf denen wir uns befanden.

Der Sommer war seit Langem hier und zeigte, was er konnte. Die lähmende Hitze hatte auch den Betrieb bei Khala gedrosselt. Urlaube wollten gemacht werden, Reisen unternommen, Open Airs besucht, Seen bebadet und die sonderbar zahlreichen warmen Tage in diesem Jahr genutzt werden. In Anbetracht all dieser Optionen und der harten Arbeit der vorangegangenen Monate, rückte unser Business bisweilen ein wenig in den Hintergrund. Die Verkaufserlöse unseres Online Shops genügten, um den laufenden Betrieb in Malawi zu finanzieren. Vom Hustle am Anfang des Jahres hatten wir uns weitgehend verabschiedet. Wir mussten nicht mehr um Spenden werben oder eigene Gelder zuschießen. Khala trug sich selbst. Um unseren Lebensunterhalt zu finanzieren, hatten wir allerdings noch Jobs nebenher. Die machten zwar Spaß, gleichzeitig kosteten sie wertvolle Stunden und trugen dazu bei, dass unsere Zeiteinteilung manchen Tages zu Lasten des eigenen Unternehmens ausfiel.

Bei Khala selbst nahmen Verwaltungsarbeiten sehr viel Raum ein, allem voran die Koordinierung und Planung der Produktion in Malawi. Hinzu kamen Inventuren, Einkäufe, Besuche beim Zollamt, Vorträge, Fotoshootings, die leidige Buchhaltung und dergleichen mehr. Vertrieb und Marketing hatten wir hingegen etwas schleifen lassen.

So dauerte es nicht lange und die trügerische Sicherheit konstanter Absatzzahlen, in der wir uns selbstzufrieden gewähnt hatten, war plötzlich wieder passé. Geschluckt vom Sommerloch. Immer weniger Bestellungen kamen über unseren Online Shop rein. In der Postannahmestelle des kleinen Kiosks, wo ich alle paar Tage ein paar Päckchen über die Theke geschoben hatte, musste mich die Angestellte, die so angenehm unkonventionell das Porto berechnet, wohl schon vermissen.

Es galt also, über neue Vertriebswege die Verkäufe anzukurbeln. Soweit es sich zeitlich einrichten ließ, brachten Mel und ich daher auf Festivals unsere Ware unters Volk.

Während also von der unweit entfernten Bühne die Bässe zu unserem Stand wummerten und die Sonne wohlwollend das Festivaltreiben beschien, hatten wir dem Mädchen mit dem halbvollen Plastikbecher jede Menge Fragen zu Khala beantwortet. Etwa über die Bedeutungen des Wortes Khala in Chichewa, der Nationalsprache Malawis. Dass es so viel heiße wie sein, sich hinsetzen, bleiben, relaxen. Dass das zumindest ein gängiges Deutsch-Chichewa-Wörterbuch behaupte. Und dass wir mittlerweile herausgefunden hatten, dass khala auch Holzkohle heißt. Das Mädel hatte sanftmütig gelächelt und weiter Fragen gestellt. Und dann sagte sie, dass es so mutig sei, was wir machen. Irgendwann leerte sie ihr Getränk, probierte ein paar Sachen an und kaufte schließlich eine Jacke.

 

Der Khala-Alltag

Ich war indessen nachdenklich geworden. Ist es mutig, was wir machen? Ich erinnerte mich daran, wie ich den Khala-Stand einige Tage zuvor montiert hatte. Es war einer der vergessenen Regentage in diesem Jahr gewesen. Unter dem Dach eines halbaufgebauten Bierzeltes hatte ich die einzelnen Module des Standes frühmorgens zusammen geschraubt und, übertönt vom auf mich prasselnden Regen, laut fluchend nach draußen auf den uns zugeteilten Stellplatz getragen, wo ich sie, von einer Plane bedeckt, abgestellt hatte. Vollkommen durchnässt radelte ich danach in die andere Arbeit, meine Erwerbstätigkeit. Mutig kam ich mir dabei nicht vor. Höchstens fragte ich mich, warum ich mir das Ganze antue.

Das Mädchen auf dem Festival war nicht die erste, die unser Tun als mutig bezeichnet hatte. Aber was wirkt auf die Leute so mutig?

Ist es mutig, dass wir uns die Zeit nehmen für Khala? Dass wir so viele unwiederbringbare Stunden investieren? Oder, dass wir nicht in die Rentenkasse einzahlen? Dass wir Geld investiert haben? Dass wir Verantwortung für eine Hand voll Menschen in Malawi tragen, die auf ihre Löhne angewiesen sind? Dass wir ohne wirkliche Erfahrung ein internationales Unternehmen aufbauen? Ich hatte nie wirklich darüber nachgedacht. Und dass Mel bald wieder für ein halbes Jahr nach Malawi geht, ist das auch mutig?

Uns selbst kommt das alles gar nicht so mutig vor. Und würden wir es nicht spüren, wenn es Mut wäre? Was ist Mut überhaupt? Weil ich mir schwer tat, zu einer Definition zu kommen, begab ich mich auf Recherchereise ins Internet. Dort  erfuhr ich, Mut sei die “Fähigkeit, in einer riskanten Situation seine Angst zu überwinden”. Hmmm. Ängste müssen wir höchstens überwinden, wenn wir irgendwo einen Vortrag halten müssen. Die nächste Definition nannte Mut die “Bereitschaft, angesichts zu erwartender Nachteile etwas zu tun, was man für richtig hält”. Da lag der Hund schon eher begraben. Allerdings erwarten wir keine Nachteile. Auch wenn wir scheitern sollten, was soll denn schon passieren?

Schwierig also, das mit dem Mut. Dass wir uns mit Khala keiner leichten Aufgabe stellen und dass wir aus der Reihe tanzen, ist uns klar. Einen kleinen Dachschaden braucht man wohl. Aber Mut? Sind denn alle anderen feige, weil sie kein Modelabel in Afrika gründen?

Eine akzeptable Antwort darauf, warum viele uns für mutig halten, fand ich schließlich in einem alten Lied der Beginner. Der US-amerikanische Psychologe und Philosoph Rollo May wird darin zitiert: “Das Gegenteil von Mut in unserer Gesellschaft ist nicht Feigheit, sondern Anpassung.”

Aha!

Was in dem Beginner-Song keinen Platz gefunden hatte, war der Anfang des Zitats: “Viele Leute fühlen sich machtlos, etwas wirksames mit ihrem Leben anzustellen. Es erfordert Mut, neue Wege zu gehen, aber für viele ist Konformität bequemer.”

Wenn dieser Rollo recht hatte, dann ist es wohl doch mutig, was wir mit Khala machen. Wir müssen ständig unsere Komfortzone verlassen; oft stoßen wir an unsere eigenen Grenzen, wenn wir etwa Dinge tun müssen, die wir nicht können oder in Situationen geworfen werden, die uns überfordern. In der Rolle derer, die etwas anders machen als der Rest, sind wir in der Position, unser unstetes Leben zu rechtfertigen. Und sollten wir eines Tages doch scheitern, haben es alle bereits besser gewusst.

Insofern ist es auch vollkommen nachvollziehbar, warum viele Menschen ihre Träume verblassen lassen, nicht ausbrechen, ungeliebten Jobs nachgehen und letztlich womöglich in der gesellschaftlichen Konformität landen: den Mut aufzubringen, dagegen zu rebellieren, ist harte Arbeit.

Das soll nicht selbstgefällig klingen. Wir kommen uns trotzdem nicht mutig vor. Für uns ist es schlicht nicht denkbar, in irgendeinem Angestelltenverhältnis zu einer Wirtschaft ohne Ideale beizutragen. Unser Ausweg ist, mit Khala selbst etwas zu schaffen, wohinter wir stehen können.

Wir sind nicht die einzigen, die sich diesen Stress geben. Über viele Umwege hatte mich meine Recherche zu Mut auf eine Website geführt, die mich stutzig machte. Was ich dort las, klang ein wenig nach Bizarro-World: Es gibt ein faires Modelabel, das mit seinem kleinen Team in Malawi aus Chitenje-Stoffen Kleidung herstellt, unter anderem Bomberjacken. Der Name des Labels: Khama. Die Marke wurde vor einigen Jahren von einer Engländerin gegründet, hat einen sozialen Hintergrund und fußt auf der Idee, dass Handel eine nachhaltigere Veränderung erzielen kann, als Spendengelder.

Gerne hätte ich den Leuten von Khama ein paar Fragen gestellt, leider antwortete mir niemand auf meine Mails. Ich kann mir denken warum: vermutlich sind sie beschäftigt mit Verwaltungsarbeiten, der Koordinierung und Planung der Produktion in Malawi, Inventuren, Einkäufen, Besuchen beim Zollamt, Fotoshootings, der leidigen Buchhaltung und so weiter.

Was ‘Khama’ bedeutet, bekam ich aber auch so heraus. Es ist Chichewa und heißt soviel wie harte Arbeit. Würde uns irgendwie auch besser stehen als Kohle und Relaxen.

Khala Kolumna – Folge 5

Über die Höhen und Tiefen einer Start-Up-Gründung: Unter Strom

Im Juli 2017 hat das Start-Up Khala die Crowdfunding-Kampagne für ihre Slow-Fashion-Mode erfolgreich abgeschlossen. Daraufhin hätte eigentlich die Produktion in Malawi anlaufen sollen. Doch so einfach war es nicht. Es gab Probleme mit dem Stofflieferanten und die Zusammenarbeit mit der Designerin in Malawi musste beendet werden. Dadurch ging auch das Atelier für die Produktion verloren. Doch davon ließen sich Mel, Bene und Hubi nicht unterkriegen. Was sie alles erleben – vor allem in Malawi vor Ort – erzählt Bene von Khala ab sofort regelmäßig.

Ein Vöglein, das irgendwo vor meinem offenen Fenster in der Sonne saß, zwitscherte mich sanft aus den Träumen.

Am Vorabend war es wieder spät geworden in dem Restaurant, in dem ich ein paar Mal pro Woche arbeite und ich war heute mal etwas länger liegen geblieben. Weil wir mit Khala selbst kein Geld verdienen, hatten Mel und ich Teilzeitjobs angenommen, um unsere Rechnungen bezahlen zu können. Nach diesen regulären Arbeitstagen trafen wir uns oft noch, um für Khala Zeugs zu erledigen, Pakete zu packen, Pläne zu schmieden und Strategien zu entwickeln. Zeit ist ein kostbares Gut geworden. Heute, an diesem warmen Frühlingstag aber, würde ich endlich wieder einmal genug davon haben, um all das zu erledigen, was sich in den letzten Wochen angesammelt hatte. Erst für heute Abend um fünf Uhr stand ein wichtiger Khala-Termin im Kalender.

Vor drei Wochen war ich umgezogen, hatte aber noch keine Zeit gefunden, mich in meinem neuen Zimmer anständig einzurichten. Auch das stand heute auf der Liste. Ich stieg aus dem Bett und bahnte mir einen Weg durch nicht ausgepackte Umzugskartons, kletterte über die Matratze meines Vormieters, die schon seit einiger Zeit den Flur meiner neuen WG blockierte, und ging ins Bad.

Benes Zimmer steht noch voller Umzugskisten.

Mel hatte gestern Hals über Kopf beschlossen, morgen früh nach Malawi zu fliegen. In den vorangegangenen Wochen hatten wir oft tagelang die Verbindung zu Patrick, unserem malawischen Projektkoordinator, verloren. Und Klaar, eine belgische Hobby-Designerin, die mit ihrer Familie in Malawis Hauptstadt Lilongwe wohnt und unser Team dort einmal in der Woche im Atelier besucht, hatte in ihren letzten Nachrichten ein recht desolates Bild von der aktuellen Situation und der Stimmung im Team gezeichnet. Wir fürchteten, dass unsere Leute überfordert waren mit der Verantwortung, die wir ihnen übertragen hatten. Ein neuer Motivationsschub war nötig. Also hatte Mel nach einer schlaflosen Nacht einen Entschluss gefasst. Ihr Chef hatte Verständnis gezeigt und ihr zwei Wochen freigegeben.

In den nächsten Tagen stand einiges bevor. Hubi würde ab kommender Woche eine mehrmonatige Auszeit nehmen und sich nach Südamerika absetzen. Dadurch, dass Mel in Malawi sein würde, würde ich die Organisation in Deutschland alleine übernehmen: Flyer entwerfen, einen Banner drucken lassen, Modenschauen organisieren, E-Mail-Anfragen beantworten, den Versand abwickeln, an unserer Verkaufsbude arbeiten, Freundinnen und Freunde gewinnen und koordinieren, die uns glücklicherweise immer wieder gerne unterstützen, Lieferanten in Afrika anschreiben und vieles mehr. Dazwischen drängten sich die Schichten meiner beiden Nebenjobs.

Um nach Malawi einzureisen, benötigte Mel noch US-Dollar. Da sie heute arbeiten musste, würde ich später zum Hauptbahnhof radeln und in einer Wechselstube die fürs Visum benötigten Dollars holen. Das markierte ich mir noch auf meiner imaginären To-Do-Liste, während ich einen Haufen Wäsche, der in einer Ecke meines Zimmers herangewachsen war, in die Waschmaschine stopfte. Mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand stieg ich über die Matratze im Flur und wanderte zurück in mein Zimmer, wo ich mich an das bunte Chaos meines Schreibtisches setzte. Lange war ich nun schon nicht mehr dazu gekommen, an einer neuen Khala Kolumna zu schreiben. Auch dem wollte ich mich heute widmen. Ich wusste noch nicht genau, worüber ich schreiben sollte. Jeden Tag passiert so wahnsinnig viel. Diese Flut aus Anekdoten und Erkenntnissen in geregelte Bahnen zu leiten, und möglichst unterhaltsam und informativ über die Höhen und Tiefen einer Start-Up-Gründung zu schreiben, fällt nicht immer leicht. Zumal es dafür Muse braucht. Eigentlich wollte ich irgendwas über Geld schreiben – ein urfades Thema. Man müsste es in eine Geschichte verpacken, irgendwas mit menschlichem Scheitern, das würde das Ganze auflockern.

Das Khala-Atelier in Malawi.

Meine Überlegungen wurden vom Vibrieren meines Handys unterbrochen. Ein Whatsapp-Anruf aus Malawi. Es war Patrick. „Hello Mr B.“ begrüßte er mich.

Ich finde es witzig, dass er mich so nennt. Natürlich dürfte er mich ruhig Bene nennen. Aber das wäre gegen die malawischen Höflichkeitskonventionen.

Ich erinnere mich nicht mehr genau, worüber wir in den folgenden zwanzig Minuten sprachen. Vermutlich ging es um die Anmeldung bei der malawischen Steuerbehörde, die sich mit Händen und Füßen dagegen sträubte, unsere Zahlungen anzunehmen. Der zuständige Beamte wollte immer neue Dokumente vorgelegt bekommen. Einmal glaubte man uns nicht, dass da zwei Deutsche nach Malawi kommen und ein Unternehmen mit so wenig Kapital gründen. Dann mussten wir eine Briefkasten-Adresse vorweisen, die wir nicht hatten und für deren Einrichtung die malawische Post wiederum einige Monate Vorlaufzeit benötigte. Es war ein ewiges Hin und Her. Während ich mit Patrick telefonierte, schaufelte ich die nasse Wäsche aus der Waschmaschine. Das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt und den Wäschekorb in den Händen, überwand ich die Matratze im Gang. Mit dem rechten Ellenbogen öffnete ich die Wohnungstür, um auf den Dachboden zu steigen und die Wäsche aufzuhängen. Ich gab der Tür hinter mir mit dem Fuß einen Stups. Sie fiel ins Schloss.

„Oh Shit,“ entfuhr es mir. „What’s up, Mr B?“ Ich hatte keinen Wohnungsschlüssel eingesteckt. Jetzt stand ich ausgesperrt im Treppenhaus, barfuß, in Jogginghose und dem Shirt, in dem ich geschlafen hatte. Ich beendete das Gespräch mit Patrick, hängte meine Wäsche auf und überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, wieder in die Wohnung zu gelangen. Mit einem gebogenen Kleiderbügel fummelte ich ungeduldig durch den Briefschlitz in der Türe, um die Klinke von Innen  herunterzudrücken. Nach ein paar ungeduldigen Versuchen rutschte der Kleiderbügel durch den Schlitz und schepperte drinnen zu Boden. Zumindest hatte ich ein Handy dabei. Es dauerte eine halbe Stunde bis ich heraus bekam, wo mein Mitbewohner arbeitete. Dort würde ich seinen Wohnungsschlüssel ausleihen können. Sein Arbeitsplatz befand sich am anderen Ende der Stadt. Ich ging wieder auf den Dachboden und schlüpfte in ein nasses, aber zumindest frisches, T-Shirt von der Leine. In einer Ecke fand ich ein Paar zerlöcherte Schuhe, die mir eine Nummer zu klein waren. Nachdem ich meine nackten Füße hineingezwängt hatte, konnte es losgehen.

Der Schlüssel für das Schloss meines Fahrrads war dort, wo auch mein Wohnungsschlüssel war. Beim Schwarzfahren wollte ich ohne Geld und Ausweis lieber nicht erwischt werden. Also sprang ich hinaus in den Frühling und begann zu joggen.

Der wichtige Khala-Termin am Abend rückte nun doch bedenklich nahe. Es gab ja noch einiges zu erledigen.

Es war ein sehr heißer Tag für die Jahreszeit. An der Isar lagen zufriedene Menschen in der Sonne. Ich hastete vorüber. An die grüne Wand eines Transformatorenhäuschens hatten nachdenkliche Unbekannte in schmucklosen weißen Lettern gepinselt: KANN DiE WELT NICHT RETTEN ABER FiND DiE iDEE GUT. Ich hatte gerade andere Sorgen. Die Schilder verschiedener Stadtviertel zogen vorbei. Es ging bergauf und bergab, stadteinwärts und wieder hinaus. Meine To-Do-Liste für den heutigen Tag schrumpfte auf wenige Punkte zusammen. Mein Outfit erntete befremdete Blicke. Wie hatte Karl Lagerfeld, der andere Modezar, einst gesagt: „Wer in Jogginghose das Haus verlässt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“

Irgendwann stand ich wieder vor meiner Wohnungstür. Diesmal mit dem Schlüssel meines Mitbewohners in der Hand. Drei Stunden waren vergangen, seit mir der Kleiderbügel durch den Briefschlitz gefallen war. Ich kletterte über die Matratze, duschte geschwind, zog mir eine Khala-Jacke an, sprang aufs Fahrrad und radelte zum Bahnhof, wo ich das Geld für Mel wechselte. Immerhin das konnte ich von der Liste streichen. Dann weiter zu dem wichtigen Termin – glücklicherweise ganz in der Nähe. Es war schon zwanzig nach fünf. Gehetzt betrat ich das große Gebäude. Ein Portier wies mir den Weg. Ich wand mich durch Trauben von Leuten in Abendgarderobe und Tracht. Ein kulanter Türsteher ließ mich noch hinein ins Studio des Bayerischen Rundfunks. „…Und wenn ihr euren Namen hört, dann kommt gleich auf die Bühne, wartet nicht darauf, was die anderen machen, das ist sonst tote Zeit. Da sagt keiner was und ich weiß auch nicht, was ich sagen soll und die Zuhörer denken sich ‚was ist da denn los?‘,“ instruierte ein Moderator Mel und ein paar andere Leute.

Khala bei der Preisverleihung zum „Guten Beispiel 2018“. (c) BR/Markus Konvalin

Die Preisverleihung zum „Guten Beispiel 2018“ würde in wenigen Minuten beginnen. Wir waren mit Khala im Finale. Es gab viel Geld zu gewinnen. Geld, das wir dringend benötigten, um neue Materialien für die Produktion zu kaufen, Mels Flug morgen zu bezahlen und überhaupt weitermachen zu können.

Wir gewannen den zweiten Platz. Und im Foyer gab es Schnittchen. Ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen.


(c) Bilder von Benedikt Habermann

Khala Kolumna – Folge 4

Über die Höhen und Tiefen einer Start-Up-Gründung: Das Haus, das verrückt macht

Im Juli 2017 hat das Start-Up Khala die Crowdfunding-Kampagne für ihre Slow-Fashion-Mode erfolgreich abgeschlossen. Daraufhin hätte eigentlich die Produktion in Malawi anlaufen sollen. Doch so einfach war es nicht. Es gab Probleme mit dem Stofflieferanten und die Zusammenarbeit mit der Designerin in Malawi musste beendet werden. Dadurch ging auch das Atelier für die Produktion verloren. Doch davon ließen sich Mel, Bene und Hubi nicht unterkriegen. Was sie alles erleben – vor allem in Malawi vor Ort – erzählt Bene von Khala ab sofort regelmäßig.

So ein Unternehmen gründet man nicht alle Tage. Khala ist nach diversen anderen Projekten unser erstes ernst zu nehmendes Start-Up. Vieles ist für uns neu. Die meisten Prozesse, die sich aus der Kontinente übergreifenden Zusammenarbeit mit unseren Schneidern ergeben, sind uns zunächst völlig unbekannt. Oft kommen unterschiedliche Herangehensweisen an eine neue Herausforderung in Frage und erst durch Trial and Error stellt sich die für uns richtige heraus. So bildet sich Stück für Stück die Basis für den späteren Erfolg. Das ist einerseits strapaziös, andererseits wird es auch nie langweilig; Khala ist ein einziges großes Abenteuer. Wir lernen täglich dazu, erleben tausend erste Male.

Zu den ersten Malen, die wir in den vergangenen Wochen erlebten, gehört die erste Überführung frisch gefertigter Kleidungsstücke von Malawi nach Deutschland. Da unsere kleine Manufaktur noch nicht genug produziert, um einen Schiffscontainer zu füllen, hatten wir beschlossen, den Transport der Ware mit einem malawischen Luftfrachtunternehmen abzuwickeln.

Im  Dezember,  als  ich  mich  in  Malawi  aufhielt,  war  ich  mit  Patrick,  unserem  malawischen Projektkoordinator, zum Flughafen eine halbe Stunde außerhalb Lilongwes gefahren. Der Anlass unseres Ausflugs war, den künftigen Ablauf des Versendens zu simulieren und Näheres über die gesetzlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen herauszufinden. Wir wurden damals sehr nett empfangen. Die gesamte Führungsriege des Frachtunternehmens legte ihre Arbeit nieder, um sich unser Projekt vorstellen zu lassen. Auch für sie war es ein erstes Mal, mit Deutschen Geschäfte zu machen. Patrick und ich bekamen die Informationen, die wir haben wollten, ein Mittagessen oben drauf, und fuhren nach einigen Stunden zufrieden zurück. Nach dieser Generalprobe lag es zwei Monate später an Patrick, denselben Prozess noch einmal zu durchlaufen. Diesmal mit tatsächlicher Ware im Gepäck.

Nachdem uns der einzige verfügbare Kartonhersteller Malawis unter einer Abnahmemenge von 1000  Stück  nicht  hatte  beliefern  wollen,  musste  sich  Patrick  zunächst  anderweitig  nach Verpackungsmaterial umsehen. Pappkartons sind in Lilongwe gar nicht so einfach zu bekommen.

Endlich ist die Bomberjacke von Khala verpackt.

Also klapperte Patrick verschiedene Geschäfte in der Stadt ab und kaufte zusammen, was er kriegen konnte. Die so zusammen gesammelten Kartons packte er bis zum Rand mit Jacken, Röcken und den anderen Khala-Teilen, die unser Team in den vorangegangenen Wochen geschneidert hatte. Endlich fuhr er damit zum Flughafen, von wo aus die Pakete die Reise nach Europa antreten sollten.

So  unkompliziert,  wie  uns  der  Versandprozess  im  Dezember  am  Konferenztisch  des Frachtunternehmens geschildert wurde, gestaltete er sich dann freilich nicht. Patrick wurde von den Frachtarbeitern zu den Zöllnern verwiesen und wieder zurück. Plötzlich fehlten Dokumente, von denen nie zuvor die Rede gewesen war und die unseren Recherchen zufolge auch gar nicht nötig waren für die Einfuhr nach Deutschland. Die Leute am Flughafen redeten Patrick aber ein, dass unsere Pakete vom deutschen Zoll verbrannt werden würden, würde man die geforderten Formulare nicht mitschicken. Und der malawische Zoll verlangte Geld für seine Arbeit, welches Patrick nicht dabei hatte. Nach langem Hin und Her, zähen Verhandlungen und tausend Sprachnachrichten, die zwischen Malawi und Deutschland durch den Äther wanderten, durften sich unsere Pakete zwei Tage später in die Lüfte erheben. Patrick war fix und fertig. Wir auch.

Das Bangen war damit aber nicht vorbei. Wenn bei dieser ersten Lieferung etwas nicht klappen sollte, eines der Pakete verloren gehen würde, dann könnten wir den Laden dicht machen. Wir würden  nicht  genug  Geld  haben,  die  Kleidungsstücke  noch  einmal  zu  produzieren.  Und  der deutsche Zoll, der verbrennt doch nicht wirklich einfach so Sachen, wenn Dokumente fehlen, oder?

Falschinformationen  von Angestellten,  undurchsichtige  Prozesse,  Hilfe  verweigernde  Beamte, unvorhergesehene  Mehrkosten  –  das  Bewerkstelligen  verwaltungstechnischer  Formalitäten  in diesem Staat kostet einen ungemein viel Zeit und Nerven. Warum macht man es uns nur so schwer? Wir sind doch die Guten.

Drei Tage später bekamen wir einen Anruf. Vier Pakete lägen für uns am Flughafen München und warteten darauf, abgeholt zu werden. Yeah.

Die Pakete sind da — aber nicht so einfach zu bekommen.

Mel  hatte  im  Vorhinein  mehrmals  mit  dem  deutschen  Zoll  telefoniert  und  die  Konditionen abgeklärt. Eine Einfuhranmeldung für die Kleidungsstücke sei nicht nötig, da unsere Ware unter dem dafür relevanten Mindestwert liege. Voll Vorfreude fuhren wir zum Flughafen und hielten dort gut gelaunt ein Pläuschchen mit den Frachtarbeitern, während sie unsere Pakete ausfindig machten. Nach wenigen Minuten war alles abgehandelt. „Ihr könnt die Pakete gleich mitnehmen,“ unterwies man uns, „sobald der Zoll eure Einfuhranmeldung bestätigt hat.

Na toll.

Wer schon einmal Asterix erobert Rom gesehen hat und sich an die Szene mit dem    Passierschein A38 im „Haus das Verrückte macht“ erinnert, kann den nächsten Absatz getrost überspringen. Das Pendant zum Passierschein A38 ist in unserer Geschichte das sogenannte Einheitspapier 0737.

Aber von vorne: Gespannt, was nun wieder auf uns zukommen würde, verließen wir das Büro des Luftfrachtunternehmens und begaben uns ins Haus, das Verrückte macht. Der erste Zöllner, dem wir unser Anliegen vortrugen, pampte uns in feinster Beamtenmanier an, dass man zur gewerblichen Einfuhr von Waren selbstverständlich eine Zollanmeldung brauche. Das, was man Mel am Telefon erzählt hatte, sei Unsinn. Wir hätten die Anmeldung im Voraus im Internet machen müssen. Es gebe noch  die  Möglichkeit,  die  Einfuhr  vor  Ort  anzumelden.  Dafür  müssten  wir  das  sogenannte Einheitspapier 0737 ausfüllen. Vergnügt riet uns der Zöllner aber davon ab. Es sei unmöglich das Einheitspapier 0737 zu verstehen. Alternativ, schlug er uns vor, könnten wir eine der im Haus ansässigen Speditionen mit unserer Einfuhranmeldung beauftragen. Wir stapften hinauf ins nächste Stockwerk, wo wir uns von einer Spedition zur nächsten verweisen ließen, bis uns schließlich eine Firma das Angebot machte,  die Einfuhranmeldung für  uns zu  übernehmen. „Das  würde dann zwischen 100 und 150 Euro kosten,“ informierte man uns. „Oh. Da müssen wir uns kurz beraten,“ entgegneten wir und dachten: „Auf keinen Fall. Soviel Kohle haben wir nicht übrig. Die dümmsten Menschen der Welt sind wir nun auch nicht. Füllen wir diesen popeligen Passierschein eben händisch aus.“

Wir stapften wieder zurück zu unserem Zöllner. Der zeigte sich höchst eingeschnappt darüber, dass wir  es,  entgegen  seiner  Empfehlung,  nun  doch  selbst  probieren  wollten,  das  Einheitspapier auszufüllen.

– „Ich sag’s Ihnen, es ist ausgeschlossen, das Formular beim ersten Mal richtig auszufüllen!“

– „Dann geben Sie uns am besten gleich zwei.“

Unser Kampfgeist war geweckt.

Wir  setzten  uns  an  einen  Tisch  und  beugten  uns  über  die Aufgabe,  die  sich  die  deutsche Zollverwaltung da für uns ausgedacht hatte. Das giftig grüne Formular bestand aus lediglich einer DinA4-Seite, zwei Durchschläge hefteten ihm an und… häh? Was? Ok, keine Ahnung, was die da von uns wollen. Aber wir leben im 21. Jahrhundert. Wir tragen das Wissen der Menschheit in unseren Hosentaschen herum. Irgendwer da Draußen wird sein Knowhow zum Einheitspapier 0737 sicherlich irgendwann einmal im Internet kundgetan haben. Wir griffen nach unseren Handys.

Während es draußen dunkler wurde und sich die Batterieanzeigen auf unseren Spiderappdisplays von grün zu rot verfärbten, brüteten wir über den blanken Kästchen der Einfuhranmeldung. Wir fanden heraus, dass es ein Merkblatt zu unserem einseitigen Formular gab. Unser Zöllner konnte uns  dieses  Merkblatt  mit  der  griffigen  Bezeichnung  GZD-Z  3455-2016.00006-DV.A.2 (201700249692)  leider nicht aushändigen: „Das gibt es nur noch online.“ Nach kurzem Suchen fanden wir das passende PDF. Es hatte 192 Seiten.

Nachdem wir innerhalb von zwei Stunden etwa drei Zeilen des Einheitspapiers 0737 vervollständigt hatten, kapitulierten wir vor dieser bürokratischen Ausgeburt des Teufels. Bei einem revitalisierenden Kaffee in der Zollkantine beschlossen wir, in die nächstgelegene Stadt zu  meinem  Bruder  zu  fahren  und  an  seinem  Laptop  die  Einfuhranmeldung  über  das menschenfreundlichere Onlineformular zu erledigen.

Endlich können die Pakete eingeladen werden.

Weitere  zweieinhalb  Stunden  später  betraten  wir  erneut  das  Haus,  das  Verrückte  macht,  die ausgefüllte Einfuhranmeldung ausgedruckt in der Hand. Glücklicherweise hatte in der Zwischenzeit ein Schichtwechsel stattgefunden. Ein frischer Sachbearbeiter besah gutmütig unsere Dokumente, korrigierte mit uns, was wir falsch ausgefüllt hatten, setzte schließlich den Stempel des Zolls darauf und schickte uns zurück zu dem Frachtunternehmen, bei dem unsere Odyssee sieben Stunden zuvor begonnen hatte.

Vier  Pakete  karrte  man  dort  heran.  Sie  hatten  unterschiedliche  Größen.  Leichte  Lädierungen zeugten von ihrem Tausende Kilometer langen Weg durch die Lüfte. Auf einer der Schachteln prangte das Logo einer Cornflakes-Marke – Patrick hatte bei seiner Suche nach Kartons keine Option ausgelassen. Wir luden ein und verließen den Flughafen so schnell wie möglich.

Falschinformationen  von Angestellten,  undurchsichtige  Prozesse,  Hilfe  verweigernde  Beamte, unvorhergesehene  Mehrkosten  –  das  Bewerkstelligen  verwaltungstechnischer  Formalitäten  in diesem Staat kostet einen ungemein viel Zeit und Nerven. Warum macht man es uns nur so schwer? Wir sind doch die Guten.

Wieder zu Hause öffneten wir unsere Cornflakes-Schachteln. Die Kleidungsstücke, die vor fünf Tagen Malawi verlassen hatten, sahen super aus. Unsere Leute hatten gute Arbeit geleistet. Darauf stießen wir erst einmal an. Die Strapazen auf dem Flughafen waren schnell vergessen. Wir hatten wieder eine Lektion gelernt, eine Herausforderung bewältigt und wichtige Grundlagen geschaffen. Und das Beste: von jetzt an würde es nur noch bergauf gehen. Wer einmal das Einheitspapier 0737 vor sich liegen hatte, hat das Schlimmste hinter sich. Oder?


(c) Bilder von Benedikt Habermann

Khala Kolumna – Folge 3

Über die Höhen und Tiefen einer Start-Up-Gründung: Back to Normality

Im Juli 2017 hat das Start-Up Khala die Crowdfunding-Kampagne für ihre Slow-Fashion-Mode erfolgreich abgeschlossen. Daraufhin hätte eigentlich die Produktion in Malawi anlaufen sollen. Doch so einfach war es nicht. Es gab Probleme mit dem Stofflieferanten und die Zusammenarbeit mit der Designerin in Malawi musste beendet werden. Dadurch ging auch das Atelier für die Produktion verloren. Doch davon ließen sich Mel, Bene und Hubi nicht unterkriegen. Was sie alles erleben – vor allem in Malawi vor Ort – erzählt Bene von Khala ab sofort regelmäßig.

Dünner Regen tröpfelte aus einem grauen Himmel auf die weihnachtlich dekorierte Stadt. Mit Lametta umhangene Schaufenster, Menschen in dicken Winterjacken und festlich beleuchtete Restaurants zogen an mir vorbei. Im Radio trieben sie es auf die Spitze und spielten Phil Collins „Another Day in Paradise“. Ich hatte dieses Lied nie gemocht. Die Stimme meines Bruders, der das Auto lenkte, drang durch das Gewühl meiner Gedanken: „Was machst’n du, schläfst du?“

Am Vorabend war ich aus Malawi zurückgekommen und bewegte mich nun wieder auf europäischem Boden. Ich war zurück in der „Normalität“. Meine Heimatstadt hatte sich in den letzten Monaten nicht großartig verändert, doch nahm ich sie jetzt anders wahr. Zuviel war in der Zwischenzeit passiert.

Der Aufbau eines Unternehmens in Malawi ist ein steiniger Weg.

Wie aus Steinen im Weg Gebirge werden 

Zweieinhalb Monate war ich in Malawi gewesen, hatte dort mit Mel die Schneiderei aufgebaut, zum Laufen gebracht und für die Arbeit der kommenden Monate vorbereitet. Es war zehrend gewesen. Vieles von dem, was wir uns vorgenommen hatten, hatten wir erreicht, vieles andere nicht mehr geschafft. In einem der ärmsten Länder der Welt ein Business aufzubauen, ist kein einfaches Vorhaben.

Arm bedeutet, nach eurozentrischem Verständnis, wirtschaftlich wenig entwickelt zu sein. Darin liegt eine der größten Herausforderungen für Khala: zum Wirtschaften in Malawi fehlt es oftmals bereits an den Grundlagen. Dinge, die in Deutschland im Handumdrehen erledigt sind, wachsen in Malawi zu Mammutaufgaben heran. Für Besorgungen, die man in Deutschland an jeder Straßenecke erledigen kann, muss man in Malawi stundenlang die Stadt durchforsten oder das Gesuchte Wochen vorher aus dem Ausland bestellen. Die sehr lückenhafte Infrastruktur erschwert vieles. Dazu kommt eine oftmals andere Arbeitskultur, die selbst Behördengänge und Termine bei Institutionen bisweilen zu grotesken Schauspielen werden lässt. Nachdem ich mir etwa von zwei verschiedenen Anwälten die Machbarkeit des Vorhabens versichern lassen hatte, nahm ich die Eröffnung eines Bankkontos für Khala in Angriff. Es dauerte über eine Woche und verlangte mir die Odyssee durch die Büros der Filialleiter*innen verschiedener malawischer Banken in Verbindung mit hartnäckigem Hinterher-Telefonieren und dem Ausfüllen unzähliger Formulare ab, bis ich schließlich die relevante Information erhielt:

„Since you don’t have a residency in Malawi, opening an account will be very difficult.“ „Difficult or impossible?“
Zögern.
„Impossible.“

Rückschläge gehören dazu. Mel und ich tauschten uns mit vielen Unternehmerinnen und Unternehmern über die Schwierigkeiten des Geschäftslebens in Malawi aus. Dass es einem manchmal vorkäme, als würde man bei der Unternehmensgründung gezielt Steine in den Weg gelegt bekommen, vertrauten wir uns dem deutschen Manager einer Lodge am Malawisee an. Er riss die Augen auf. „Steine?“, schüttelte er energisch den Kopf, „Gebirge!“

Baut man in Deutschland ein Unternehmen auf, profitiert man vom Reichtum und der wirtschaftlichen Entwicklung unseres Staates. In Malawi ist die Mission von Khala aber zunächst, bei der Schaffung wirtschaftlicher Entwicklung mitzuwirken. Insofern war es zwar frustrierend, aber kaum überraschend, wenn wir hilflos mitansehen mussten, wie aus dem steinigen Weg, der vor uns lag, immer wieder neue Gebirgsmassive entwuchsen.

In Malawi gibt es kaum wirtschaftliche Entwicklung und damit auch keine Aufstiegschance für die Menschen.

It’s another day for you and me in paradise

Man muss sich das noch einmal bewusst machen: Wir agieren in einem Land, welches das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen der Welt aufweist. Der Zugang zum Gesundheits- und Bildungswesen ist nicht jedem möglich. Die Menschen leben in der Regel von der Hand in den Mund. Dadurch, dass es kaum wirtschaftliche Entwicklung gibt, gibt es keine Aufstiegschancen. Die Misere der Menschen zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es für die meisten keinen Ausweg daraus gibt *.

In Deutschland haben die Menschen Chancen – das ist der Unterschied. Als Kinder der Mittelschicht können wir uns selbst erfinden. Wir können sein, wer wir sein möchten, Yuppies, Hippies, Karrieremenschen, Dauerstudierende, Reisende; wir können uns ausprobieren. Alle Türen stehen uns offen, wir müssen uns nur eine aussuchen.
In Malawi gibt es solche Türen kaum. Man ist gezwungen, die nächstbeste zu nehmen, sonst gibt es abends nichts zu Essen. Ein malawisches Mädchen kann das Zeug zur Gehirnchirurgin, IT-Beraterin oder Elektroingenieurin haben. Weil sie aber nur wenige Jahre zur Schule gehen wird und zur Verwirklichung einer Geschäftsidee nicht an Startkapital gelangt, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie letztendlich am Straßenrand Tomaten verkauft. In unserer Welt entscheidet der Ort, an dem man geboren wird, darüber, ob man seine Potentiale als Mensch entfalten darf. Selbst, wenn die Tomatenverkäuferin niemals Gehirnchirurgin geworden wäre: was rechtfertigt es, dass sie nicht zumindest die Chance darauf bekommt?

„Für deutsche Unternehmen ist Malawi ein weißer Fleck auf der Landkarte – und das grundsätzlich mit Recht“, schreibt die Deutsche Industrie- und Handelskammer für das südliche Afrika verbittert. Dabei hat dieses Land Projekte wie das unsere so nötig. Es fehlen Investitionen, damit Malawi eine Konjunktur entwickeln kann, die unabhängig von Spendengeldern ist. Die Menschen brauchen Perspektiven, um Glauben an die Zukunft und ein Verständnis für Nachhaltigkeit zu entwickeln; wer nicht daran glaubt, dass sich je etwas ändert, dem ist auch egal, was morgen passiert. Sie brauchen Chancen, um ihre Talente zu nutzen und selbst etwas aufzubauen. Irgendwer muss damit anfangen, den Weg dorthin zu ebnen.

Viele Menschen in Malawi kennen Europäer nur aus dem Fernsehen, vorausgesetzt sie besitzen einen Fernseher. Im Fernsehen wohnen wir in weihnachtlich dekorierten Städten, tragen schicke Jacken und fahren Autos ohne Sprünge in der Windschutzscheibe. „Was machst’n du, schläfst du?“, drang die Stimme meines Bruders durch das Gewühl meiner Gedanken und vorbei an Phil Collins, der es im Radio auf die Spitze trieb: „Oh, think twice, ‚cause it’s another day for you and me in paradise.“

Khala Kolumna – Folge 2

Über die Höhen und Tiefen einer Start-Up-Gründung: Die Modenschau

Im Juli 2017 hat das Start-Up Khala die Crowdfunding-Kampagne für ihre Slow-Fashion-Mode erfolgreich abgeschlossen. Daraufhin hätte eigentlich die Produktion in Malawi anlaufen sollen. Doch so einfach war es nicht. Es gab Probleme mit dem Stofflieferanten und die Zusammenarbeit mit der Designerin in Malawi musste beendet werden. Dadurch ging auch das Atelier für die Produktion verloren. Doch davon ließen sich Mel, Bene und Hubi nicht unterkriegen. Was sie alles erleben – vor allem in Malawi vor Ort – erzählt Bene von Khala ab sofort regelmäßig.

Wir machen es uns aber auch nicht leicht. Im Oktober kamen wir nach Malawi, um innerhalb von zwei  Monaten einen laufenden Betrieb aufzubauen und dann wieder nach Deutschland zu verschwinden. Die ersten Schritte, wie die Suche nach einer geeigneten Immobilie, der Einzug und das Einrichten des Ateliers, das Einstellen und Einarbeiten der Schneider und unserer Cutterin, schafften wir in drei Wochen. Parallel dazu galt es stets, einen Blick auf den deutschen Teil unseres Business zu halten. Mit Hubi, der Khala in München vertrat, machten wir Marketing, kämpften uns durch Bürokratie, bemühten uns, unsere Crowdfunder nicht zu vergraulen und kümmerten uns um die Bestellung neuer Arbeitsmaterialien.

Die Produktion in Malawi und der Vertrieb in Deutschland, das sind die beiden Teile von Khala, an denen wir seit Monaten arbeiten. In beiden Ländern sehen wir uns unterschiedlichen Herausforderungen gegenübergestellt. Ein Start-Up auf zwei Kontinenten zu gründen ist nicht einfach. Und immer wieder kommt es zu zusätzlicher Arbeit, die wir nicht
vorhergesehen haben.

Zuletzt mit dem Africa Fashion Festival. Um der Welt ihre Kreationen vorzuführen, kamen zu diesem Event Ende November Designer und Designerinnen aus allen möglichen afrikanischen und einigen europäischen Ländern in die Hauptstadt Malawis, Lilongwe. Zufällig fiel das Festival in die Zeit, in der auch Mel und ich in Malawi waren. Diesen Zufall hatten wir nicht nicht ungenutzt lassen wollen und uns noch im September von Deutschland aus für die Show angemeldet.

Es würde unsere erste professionelle Modenschau werden. Wir bekämen Models gestellt, die wir einkleiden würden und jede Menge Publicity im Heimatland von Khala. Unsere bisherigen Designs allein genügten dafür aber nicht. Obwohl wir andere Baustellen offen hatten, mussten wir also ein paar neue Kleidungsstücke aus dem Hut zaubern. Dieser Aufgabe nahm sich vor allem Mel an. Für unsere erste Kollektion hatten wir in München mit einem Designstudio zusammengearbeitet.

Gründerin von Khala Mel beim Second-Hand Shopping.

Back to the roots

Nun waren wir mit unseren Schneidern auf uns selbst gestellt. In einer lang andauernden Trial-and-Error-Phase versuchte sich Mel an neuen Entwürfen, während wir nebenher die Manufaktur zum Laufen brachten. Zunächst hatten wir falsche Vorbilder vor Augen gehabt, hatten an diese Bilder von Modenschauen mit abgedrehten Styles gedacht, die im richtigen Leben niemand trägt. Das Festival rückte immer näher und wir wussten nicht, was von uns erwartet werden würde. Irgendwann besannen wir uns darauf, dass wir kein Unternehmen gegründet hatten, um die Erwartungen der Modewelt zu erfüllen.

Also back to the roots: Khala macht Neo-traditional Streetstyle mit afrikanischen Chitenje-Stoffen. Wir begannen, unsere bestehenden Schnitte abzuwandeln und erweiterten unser Bomberjacken-Sortiment. Auf dem chaotischen Markt Lilongwes besorgte Mel Second-Hand-Jeans in Übergrößen. Es gibt hier auf den Märkten eine riesige Auswahl an gebrauchter Kleidung. Die Flut von Second-Hand-Kleidung, die die europäische Konsumgesellschaft auf die afrikanischen Märkte hereinbrechen lässt, stellt ein enormes Problem für die hiesige Textilwirtschaft dar. Durch den massenhaften Import billiger Kleidung aus westlichen Ländern, haben in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Schneiderinnen und Schneider ihre Arbeitsplätze verloren. Das ist einer der Gründe, warum wir Khala eigentlich machen.

Mel kaufte nun also die Jeans aus Europa und zerschnibbelte sie. Zusammen mit Frederic, unserem Chefschneider, kombinierte sie den freigewordenen Denim-Stoff mit Chitenje. Ein neues Bomberjacken-Design ward geboren. Auf ähnliche Weise upcyclete Mel alte Latzhosen. Die Kollektion wuchs. Ich leistete meinen Beitrag, indem ich meinen Traum einer Leinenjacke realisieren ließ. Von den Kleidungsstücken, die bei dem Prozess entstanden, wählten wir letztendlich 13 für die Modenschau aus.

Die Khala Fashion Show Kollektion.

Man gewöhnt sich an vieles

Seit dem Beginn unseres Aufenthalts war einige Zeit ins Land gezogen. Die häufiger werdenden Regengüsse kündeten von der nahenden Regenzeit. Wir waren in den Wochen in Malawi gewachsen, hatten Hoch- und Tiefphasen erlebt, uns oft in die Haare gekriegt und genauso oft wieder versöhnt. Wir waren mitgenommen. Unser Budget war längst im Minusbereich angekommen. Gleichzeitig hatten wir fünf Angestellte, die auf ihren Lohn angewiesen waren. Dieser Umstand veranlasste uns dazu, unsere Ansprüche so gering wie möglich zu halten und an allen Ecken und Enden zu sparen[1]. Das größte Sparpotential hatten wir bei unserer Unterbringung wahrgenommen. Mit drei jungen Malawiern bewohnten wir ein landestypisches, aus Lehmziegeln gemauertes Haus. Noch besser als uns Menschen, gefiel es dort der Rattenfamilie, die durch ein Loch in der Küchendecke das Zusammenleben bereicherte.

Man gewöhnt sich an Vieles. Der Magen-Darm-Trakt gewöhnt sich an den Genuss malawischen Leitungswassers. Und wir gewöhnten uns etwa daran, dass wir abends kein Licht hatten und manchmal kein Wasser,  dass auch zwei Bananen ein Abendessen sein können und dass, wenn es anfängt an den Beinen zu kribbeln, wohl wieder eine Ameisenkolonie ihre Route verlegt hat.[2]

Wir gingen davon aus, dass das African Fashion Festival ein wenig Abwechslung in diesen Alltag bringen würde. Der Tag kam. Mel und ich waren die ganze Woche im Stress gewesen. Zur Feier des Tages zickten wir uns kontinuierlich an. Der Abend brach herein, in unserem Viertel herrschte wieder Stromausfall. Die Zeit drängte. Mel hatte einen Spiegel von der Wand gehängt und schminkte sich im staubigen Vorhof unter den matten Strahlen der untergehenden Sonne. Ich zwängte mich währenddessen in die zu kleine Hose eines unserer Mitbewohner, da ich selbst keine saubere mehr hatte, die dem Anlass gerecht werden hätte können. Kurz darauf kam unser Chauffeur.

Die Unterkunft von Mel und Bene.

Die Spannung steigt

Als wir im Tuk-Tuk an dem Luxushotel vorfuhren, das den Veranstaltungsort des Fashion Festivals darstellte, verloren wir für einen Moment die Kontrolle über unsere Kinnläden. Wir befanden uns am edelsten Ort, den wir bisher in Malawi gesehen hatten. Ein roter Teppich markierte den Weg zu einem türkisfarbenen Pool, um den sich die schneeweißen Gebäude des Hotelkomplexes sammelten. Über den Pool hatte man eine Rampe gelegt, die den Laufsteg für die Modenschauen darstellte. Rundherum standen die noch lichten Stuhlreihen. Links neben dem Laufsteg wartete eine alte Nähmaschine auf ihren Einsatz bei einer Performance-Kunstdarbietung.

Ein Herr mit Dreadlocks nahm uns in Empfang und geleitete uns in den Backstagebereich, wo es bereits vor Models und DesignerInnen wimmelte. Wir mussten uns noch ein paar Models aussuchen und den Khala-Imagefilm aus dem Internet laden. Es war viertel nach fünf, als uns der Mann mit den Dreadlocks mit der Ankündigung  überraschte, dass wir um sechs Uhr die Ersten seien würden, ihre Kollektion zu präsentieren. Diesen Zeitdruck hätte es gar nicht unbedingt gebraucht, um die Spannung zu steigern.  Denn der nächste Schock ereilte uns beim Öffnen der Box, in der sich die Outfits für die Models befanden. Unsere Managerin hatte ihren Auftrag, die Kleidungsstücke zu reinigen und zu bügeln, offenbar nicht besonders ernst genommen. Glücklicherweise gab es in der Unterkunft der Models ein Bügeleisen, welches wir benutzen durften. Während Mel eine Technik dafür entwickelte, Hemden so zu tragen, dass sie ihre eigenen Flecken verdecken, rannte ich zum Bügeln. Zugegeben, die weitere Handlung ist ein wenig vorhersehbar.

Die Models lassen sich vom Chaos hinter der Bühne nichts anmerken.  Fotocredit: Luke De Borde

Wenn etwas schief läuft, dann aber richtig

Natürlich brannte ich ein Loch in eines der Outfits. Es war ein Jumpsuit mit einem Oberteil aus Chitenje und einer gelben Chiffon-Hose – eines der exklusivsten Stücke unserer Kollektion. Zu diesem Zeitpunkt machte es bereits keinen Sinn mehr, sich über irgendetwas zu ärgern. Ich überlegte kurz, ob ich der Symmetrie wegen auch ein Loch in das andere Hosenbein brennen sollte, entschied mich aber dagegen und schnitt die Hose über dem Brandloch kurzerhand ab. Der Jumpsuit endete im unteren Teil nun eben als Shorts. Weil ich nicht sauber geschnitten hatte, sah das eher so mittel aus. Inzwischen war Patrick eingetroffen, die gute Seele unseres Ateliers.

Jetzt kommt die Performancekunst-Nähmaschine ins Spiel.

Patrick nahm an der Nähmaschine am Pool platz. Vor ihm rutschte das Publikum auf seinen Sitzen herum. Es war bereits nach sechs. Der Dreadhead blieb ruhig: „Dann fängt die Show eben um halb sieben an“. In den Minuten, in denen Patrick das neue Jumpsuitdesign fertigimprovisierte, unterwiesen und koordinierten wir unsere Models, die Moderatoren der Show unterwiesen uns. Gespannt warteten wir auf Patrick, der sein Werk bald vollendet hatte und uns zufrieden das brandneue Design überreichte. Es konnte losgehen. Es war sieben. Malawisches sechs. Der minutenlange Höhepunkt der wochenlangen Vorbereitungen begann. Eines nach dem anderen, schritten die von uns eingekleideten Models über den Pool.

Eine erfolgreiche Modenschau für Khala. Fotocredit: Luke De Borde

Die Kollektion kam gut an. Mel hatte sich als Designerin bewiesen. In unserer kurzen Rede, die wir im Anschluss auf dem Runway hielten, erklärten wir dem Publikum, dass sich Khala als Kollektiv versteht, dass die Designs in Zusammenarbeit vieler verschiedener Menschen entstehen.

Der Jumpsuit war natürlich das erste Outfit, das nach der Darbietung bestellt wurde. Auch unsere Bomberjacken waren der Renner. Der Moderator der Show schlüpfte zu jeder Ankündigung in ein anderes der neuen Modelle, der Manager des Luxushotels kaufte uns am nächsten Tag eines ab, die Moderatorin bestellte Jacken für ihre ganze Familie. Mit den Erlösen würden wir unsere Produktion wieder eine Zeit lang finanzieren können.

„T.I.A.,“ sagen die jungen Leute hier, „This is Africa.“

[1] Keine Angst, nicht an der Produktion der Kleidungsstücke.

[2] Ans Weißbrot und ans Bier gewöhnt man sich allerdings nicht, kulturelle und kulinarische Aufgeschlossenheit hin oder her.


(c) Bilder von Benedikt Habermann

Khala Kolumna – Folge 1

Über die Höhen und Tiefen einer Start-Up-Gründung: Das neue Atelier

Im Juli 2017 hat das Start-Up Khala die Crowdfunding-Kampagne für ihre Slow-Fashion-Mode erfolgreich abgeschlossen. Daraufhin hätte eigentlich die Produktion in Malawi anlaufen sollen. Doch so einfach war es nicht. Es gab Probleme mit dem Stofflieferanten und die Zusammenarbeit mit der Designerin in Malawi musste beendet werden. Dadurch ging auch das Atelier für die Produktion verloren. Doch davon ließen sich Mel, Bene und Hubi nicht unterkriegen. Was sie alles erleben – vor allem in Malawi vor Ort – erzählt Bene von Khala ab sofort regelmäßig.

Benedikt Habermann ist unser Khala Kolumnist.

Ich muss mich kurz fassen. Seit vier Wochen sind Melanie und ich bereits in Malawis Hauptstadt Lilongwe. Es wäre einfacher, ein Buch über unsere Erlebnisse in dieser Zeit zu schreiben, als das alles in ein paar hundert Sätzen zusammenzufassen. Aber durch das Schreiben von Büchern ist, soweit ich weiß, noch niemand reich und berühmt geworden. Das Beste wird wohl sein, sich auf eine Episode zu beschränken.
„Sieben Uhr vierundfünfzig. Das schaffen wir nie.“ Wir begannen zu rennen. In unserer Unterkunft hatte es vorhin wieder keinen Strom gegeben, darum hatten wir keinen Kaffee machen können und das Haus ungedopt verlassen müssen. Zur Feier des Tages hatte ich mich schick gemacht, also ein Hemd angezogen. Auch Mel hatte sich rausgeputzt. Den Chitenje-Rock aus unserem Sortiment trug sie in Kombination mit einer weißen Bluse. Während wir nun durch die staubige Morgenhitze Lilongwes schnauften, um nicht zu spät zu unserem Termin zu kommen, bildeten sich dunkle Flecken auf unseren Outfits. Für acht hatten wir einen Termin bei George. Als wir ihn eine Woche zuvor in seinem Herrenhaus aufgesucht hatten, hatten wir uns um eine Viertelstunde verspätet.

Im Hinblick auf die Erfahrungen, die wir zuvor mit dem malawischen Verständnis von Pünktlichkeit gemacht hatten, hatte ich gedacht, das wäre voll im Rahmen. Doch George belehrte uns eines besseren. Vor seiner Pensionierung war er Politiker gewesen und hatte während seiner jahrzehntelangen Karriere einige preußische Tugenden verinnerlicht. Er war der erste Malawier, den wir kennenlernten, für den Zeit ein Thema ist. Unsere Verspätung damals hatte ihn erzürnt. Uns hingegen hatte es einigermaßen verwundert, dass wir es nun waren, die sich eine Predigt über Zeitmanagement anhörten. In den vorangegangenen Wochen nämlich, waren wir mit unseren Mitarbeitern immer ungeduldiger geworden und hatten bereits gemutmaßt, dass unser Anspruch, bei einem vereinbarten Termin weniger als eine Dreiviertelstunde warten zu müssen, etwas sehr Deutsches sei.

Das Verständnis von Zeit und Pünktlichkeit ist in Malawi tendenziell ein anderes. Man unterscheidet zwischen der Zeit, die die Uhr anzeigt und der „malawischen Zeit“, die einem sehr subjektiven Empfinden unterliegt. Die meisten Menschen haben hier genug Zeit. Man muss nicht sparsam mit ihr umgehen – anders als in den Industriestaaten, wo Zeit knapp und gleich Geld ist. Weil wir Georges Zeitverständnis nun kannten, rannten wir. Mel verfluchte ihre Schuhe. Erstaunte Blicke der Frauen, die am Straßenrand Bananen und Teigtaschen verkauften, wanderten uns hinterher. Wir waren so um Georges Gunst bemüht, weil er etwas hatte, das wir haben wollten: einen wunderschönen Raum mit großen Fenstern, die viel Licht hinein lassen und den Blick auf ein bisschen Grün im Garten gewähren. Der Raum befindet sich in einem Seitenflügel von Georges großem Haus und wir wollten ihn anmieten, um unsere Manufaktur dort einzurichten. Zu einem guten Preis, versteht sich.

Wir hatten zuvor einige Schwierigkeiten gehabt, einen geeigneten Raum zu finden. Grundsätzlich gibt es in Lilongwe genügend verfügbare Immobilien. Aber die Ansprüche an unseren Produktionsstandort stellten sich als nicht so leicht zu befriedigen heraus. Dazu muss man wissen, dass Lilongwe in verschiedene Bezirke aufgeteilt ist, die Areas. Die Verteilung der Areas stellt die Krönung des für Außenstehende undurchschaubaren Chaos dieser Stadt dar. Ein Bekannter brachte es vor Kurzem auf den Punkt, als er sagte, Lilongwe sei, als hätte man es aus einer Flasche geschüttelt. Area 1 ist neben Area 8, dann kommt Area 2. Neben Area 2 findet man tatsächlich Area 3, aber direkt daneben schon wieder Area 46. Das muss man halt so hinnehmen. Als Standort für unsere Manufaktur kamen allerdings nur bestimmte Areas in Frage. Es gibt die Reichen-Areas, die konnten wir uns nicht leisten. Es gibt Areas, die sind für unser Projekt zu gefährlich. Andere Areas sind für uns oder unser Team zu umständlich zu erreichen. Von den Areas, die grundsätzlich in Frage kamen, mussten wir einige ausschließen, weil die Stromversorgung dort zu oft zusammenbricht. Ein Problem, das in so gut wie allen Areas zum Alltag gehört.

Das neue Khala-Atelier.

Um es kurz zu machen: von den über fünfzig Areas in Lilongwe blieben genau vier übrig, in denen wir nach einem Raum für unsere Werkstatt suchen konnten. Das Internet ist hier bei der Immobiliensuche keine große Hilfe. In Malawi läuft alles über Connections. Wir hatten mehrere Bekannte auf die Suche nach Räumlichkeiten angesetzt. Einige von ihnen tauchten daraufhin unter. Ein anderer Kontakt, mit dem wir eine Woche lang hin- und hergeschrieben hatten, stellte sich als eine vollkommen andere Person, als erwartet, heraus. Schließlich entschieden wir uns für eine andere Strategie und engagierten einen Makler. Wir hatten unseren Makler als den Koch eines Backpacker Hostels kennengelernt. Es ist hier nicht ungewöhnlich, dass man mehrere Jobs hat. Die Leute müssen schauen, wo sie bleiben. Leider konnte auch der makelnde Koch keine befriedigenden Räume für uns ausfindig machen. Bis auf einen: Georges Raum.

Wir wollten diesen Raum unbedingt haben. Wir schleppten uns die letzten Meter in Georges Büro. Nichts anmerken lassen. Zufrieden streckte uns der betagte Mann sein Handy entgegen. 08:03 Uhr stand auf dem Display. „You worked on your time management“, triumphierte er. Die Verhandlungen der folgenden zwei Stunden gaben uns keine Möglichkeit, zu verschnaufen. Zumindest trocknete unsere Kleidung in dieser Zeit. Die Strapazen lohnten sich letztendlich. Wir konnten uns mit George einigen und einige Tage später damit beginnen, unsere Manufaktur einzurichten. Scheinbar hatte Einstein recht: Zeit und Raum stehen in Relation zueinander.

Creapaper – Papier aus Gras

Jährlich werden in Indonesien Wälder in der Größe der Schweiz gerodet und zu Papier verarbeitet – eine Firma in Hennef hat dafür eine Alternative: Graspapier.

In vielen Bereichen wird Nachhaltigkeit groß geschrieben: nachhaltige Kleidung, Essen und Carsharing. Was viele nicht im Blick haben: Papier. Der Papierverbrauch steigt kontinuierlich – auch in Deutschland. Hierzulande wird zwar sehr viel Altpapier recycelt, aber trotzdem ist Deutschland der zweitgrößte Zellstoffimporteur der Welt . Pro Kopf werden hier laut WWF 253 Kilogramm Papier verbraucht. Katastrophal für die Wälder dieser Erde. Ein Grund für den steigenden Verbrauch ist auch der Versandhandel. Immer mehr Produkte werden online bestellt und im Karton geliefert. Uwe D’Agnone hat dafür eine umweltschonendere Alternative entwickelt, auf die bisher niemand gekommen ist: Papier aus Gras, beziehungsweise aus Heu.

„Vor etwa sechs Jahren habe ich einen Bericht gesehen über die Rodung indonesischer Urwälder. Dabei wird jedes Jahr eine Fläche so groß wie die Schweiz für die Zellstoffgewinnung abgeholzt. Dieses Material wird überwiegend im asiatischen Raum eingesetzt. Das hat mich einfach schockiert“, sagt Uwe D’Agnone. Der gelernte Industriekaufmann hat schon immer im Bereich Druckerei und Papier gearbeitet und sich mit gerade Mal 28 Jahren mit seiner Firma Creapaper selbstständig gemacht. Trotzdem waren ihm – wie vielen anderen, die in dieser Branche arbeiten – die Ausmaße nicht bewusst. Doch D’Agnone blieb nicht in Schockstarre, sondern wollte etwas an der Situation ändern: dafür brauchte es einen neuen Rohstoff.

Papier aus Holz braucht sehr viel Wasser

Doch wie entsteht überhaupt aus einem so festen und harten Produkt wie Holz etwas leicht Zerstörbares wie Papier, Karton oder Toilettenpapier? Damit der natürliche Kleber, der das Holz zusammenhält, das Lignin, sich lösen kann und die Fasern separiert werden können, muss bei der Papierherstellung einiges an Chemie eingesetzt werden – und Wasser. Alleine um eine Tonne Holzzellstoff zu gewinnen, benötigt man zweieinhalb Tonnen Holz und 6000 Liter Wasser. Uwe D’Agnone hat sich daher auf die Suche gemacht und ist fündig geworden: Gras. Denn damit weniger Chemie und Wasser verbraucht werden, sollte es eine Pflanze sein, die nicht so hoch wächst und daher weniger Lignin enthält. Gras beziehungsweise Heu ist daher ideal und braucht nicht mal Chemie bei der Aufbereitung. „Bei der Grasfaser findet nur ein Trocknungsprozess statt. Daher braucht es nur zwei Materialien: Wasser und Energie. Aber eben nur zwei Liter Wasser pro Tonne für Grasfasern und drei Prozent der Energie im Vergleich zur herkömmlichen Papierherstellung, um den Zellstoff zu separieren“, erklärt er. Insgesamt beinhaltet die Grasfaser-Produktion somit nur ein Viertel der herkömmlichen Co2-Emissionen.

REWE nutz bereits das Graspapier für die Verpackung seiner Bio-Ware.

Der Rohstoff für das Graspapier ist immer eine Mischung aus 40 bis 60 Prozent Grasfasern, Altpapierfasern und/oder neuen Holzfasern. Die Grasfasern werden dann zu Pellets gepresst, um möglichst viel Volumen transportieren zu können, aber auch, damit die Papierfabrik sie direkt und einfach einsetzen kann. Genutzt wird das Graspapier für Kartons und bei Obstverpackungen, als Ersatz für Kunststoffe. Aber auch als ganz normales Schreibpapier und auch ein Toilettenpapier mit Grasfasern ist im Entstehen.

Das ökologischste Papier der Welt

Eine tolle Entdeckung – könnte man meinen. Die Reaktion der Papierbranche war aber verhalten. „Die Papierindustrie ist sehr konservativ und nicht ganz förderlich ist die Tatsache, dass die großen Player auf der Welt integrierte Papierhersteller sind“, sagt D’Agnone. Integrierte Papierhersteller, das bedeutet, dass diese Konzerne die Wälder besitzen, aus denen sie das Holz nehmen und auch die Papierfabrik, in der der fertige Karton hergestellt wird. Ein alternativer Rohstoff spielt in dieser Größenordnung keine große Rolle. Nur wenige wollten daher das Graspapier herstellen. Also änderte D’Agnone seine Taktik. Er ging mit den Testergebnissen nicht mehr zu den Papierfabriken, sondern direkt zu den Endkunden. Mit deren Aufträgen konnte er sich dann Zeitfenster in der Fabrik kaufen, um Produkte aus Graspapier zu produzieren. Der erste Kunde, der eingestiegen ist, war der Ottoversand. Mittlerweile sind aber auch Rewe, Penny, Norma und Aldi dabei. Im Februar 2018 hat D’Agnones Idee den IKU Innovationpreis für Klima und Umwelt 2017 des Bundesumweltministeriums gewonnen. „Das Thema ist jetzt wirklich anerkannt und man kann sagen, dass wir das ökologischste Papier auf der Welt haben“, sagt D’Agnone.

Uwe D’Agnone, der Gründer von Creapaper.

Das Heu für das Graspapier bezieht D’Agnone vor allem von den sogenannten Ausgleichsflächen. Flächen, die als Ausgleich für die Verdichtung von Straßen, Häuser und anderen Böden, oft in ländlichen Regionen, geschaffen werden. Die Landwirte bekommen für diese Flächen Geld – dürfen dort aber auch nichts anbauen und das Gras nur zwei bis drei Mal im Jahr mähen. Perfekte Bedingungen für das Graspapier. Denn das Gras ist meist zu lang, als dass es die Nutztiere noch fressen würden und wird höchstens noch für Biogasanlagen verwendet. Außerdem sind die Fasern geeigneter, je länger das Gras wachsen darf. 95 Prozent dieses Heus bleibt aber ungenutzt. Das Gras von städtischen Grünflächen können sie leider nicht nutzen: „Diese Flächen sind zum einen nicht besonders groß, zum anderen oft kontaminiert. Gerade weil wir viel im Bereich Lebensmittelverpackung machen, geht das nicht, wenn auf dem Gras Hundekot war“, erklärt D’Agnone.

Die Nachfrage steigt

D’Agnone versucht seine Anlagen zur Herstellung der Rohstoffpellets für das Graspapier immer in der Nähe der Papierfabriken anzusiedeln – damit das Heu aus der Region genutzt wird und keine weiten Transportwege nötig sind. Noch sind die Mengen zu klein, als dass sich der günstigere Rohstoffpreis auf den Papierpreis auswirkt, aber das Graspapier ist auch nicht teurer als normales Papier. Wenn die Produktion steigt, soll sich das auch in einem günstigeren Preis bemerkbar machen. Nachfrage gibt es auch aus dem Ausland und Uwe D’Agnone hofft ab 2019 auch auf dem amerikanischen Markt vertreten zu sein. Irgendwann kann er dann vielleicht auch wieder durch die Schweiz fahren ohne daran zu denken, dass genau diese Fläche jedes Jahr gerodet wird, um Zellstoff zu produzieren, sondern immer noch ein Urwald in Indonesien ist.


(c) Alle Bilder: Creapaper

Be My Eyes – Die App für den richtigen Durchblick

Das dänische Start-Up hat sich zum Ziel gesetzt mit einem relativ einfachen Tool blinden Menschen im alltäglichen Leben zu helfen – mit Erfolg

Eigentlich wollte Hans Jørgen Wiberg Landwirt werden. Schon als Kind. Mit 25 Jahren – fast fertig mit allem, was er für seinen Wunschberuf brauchte – bekam er die Diagnose Retinitis Pigmentosa, auch bekannt als Tunnelblick. Die Krankheit führt dazu, dass die Netzhaut immer mehr abstirbt und sich das Sichtfeld verkleinert – am Ende sind die Betroffenen blind. Noch ist es nicht soweit bei Hans. Es ist ein schleichender Prozess. Aber er lässt sich davon nicht unterkriegen. Er wechselt das Fach, studiert Philosophie, heiratet und betreibt mit seiner Frau eine Firma, die alte Möbel restauriert. Nebenher arbeitet er als Berater für eine dänische Blindenvereinigung. Dabei kommt ihm 2012 eine Idee: Könnte man nicht eine App entwickeln, die Blinden im Alltag hilft?

 

Be My Eyes-Gründer Hans Jørgen Wiberg

 

Auf einem Wochenende für Start-Ups fand der 54-Jährige die passenden Mitstreiter und bis Ende 2013 schaffen sie es Stiftungsgelder in Höhe von 30.000 US-Dollar zu sammeln. Über ein Jahr entwickeln sie eine App, mit der Blinde bei ganz alltäglichen Problemen, wie „Ist die Milch noch haltbar?“ oder „Habe ich jetzt das richtige Programm der Waschmaschine eingeschaltet?“, Hilfe bekommen. Freiwillige können sich die App runterladen und bei einem Problem über die Videofunktion die Fragen beantworten. 2015 launchten die Dänen die App und mittlerweile gibt es 83.000 Nutzer und 1,4 Millionen Freiwillige, die die App installiert haben. Geholfen werden kann in 182 Sprachen. „Wir bieten eine neue Sprache erst an, wenn es mindestens 50 registrierte Helfer gibt, die sie als Muttersprache sprechen“, sagt Hans. So stellen sie sicher, dass es auch wirklich Hilfe gibt, wenn sie gebraucht wird. Die Freiwilligen geben immer eine Muttersprache an und, wenn vorhanden, eine zweite, die sie gut beherrschen. Sollte gerade niemand mit der passenden Muttersprache für den Blinden da sein, wird immer nach einem muttersprachlichen Helfer gesucht, der dem blinden in seiner zweiten Sprache matcht.

Full-Profit für mehr Service

Angefangen hat das Team von Be My Eyes als Non-Profit-Unternehmen. Doch schnell war klar, dass sie mehr Geld brauchten. Weitere Fördergelder zu generieren, stelle sich jedoch als schwierig heraus. Also änderten sie ihren Status zu einem Full-Profit-Unternehmen und fanden Investoren, die das Projekt weiterfinanzierten. „Bis vor einigen Monaten hat die App immer noch keinen Gewinn abgeworfen“, sagt Hans. Doch seit Neuestem gibt es die Möglichkeit entweder einen freiwilligen Helfer oder einen spezialisierten Helfer anzufragen.  Spezialisierter Helfer steht für spezialisiert in einem bestimmten Bereich. Bisher konnten wir dafür den Support von Microsoft gewinnen. Hat ein Blinder ein Computer-Problem, kann er über Be My Eyes dort anrufen und sich helfen lassen“, sagt Hans. Microsoft zahlt dafür einen monatlichen Beitrag an Be My Eyes, denn durch die Videofunktion der App werden Probleme schneller erkannt und leichter behoben. Für die Nutzer bleibt alles kostenlos.

 

Die App Be My Eyes hilft sehbehinderten Menschen in ganz alltäglichen Situationen.

Hilfe rund um die Uhr – weltweit 

In Zukunft würde Hans gerne mit Banken, weiteren Tech-Unternehmen, aber auch Haushaltswarenhersteller  zusammenarbeiten, um weitere spezialisierte Hilfe zur Verfügung zu stellen. Und wenn mitten in der Nacht Hilfe benötigt wird? „Die Helfer werde immer nur zwischen 8 Uhr morgens und 21 Uhr abends angeschrieben. Sollte jetzt eine blinde Person in Deutschland um drei Uhr morgens Hilfe benötigen, so wird jemand in einer anderen Zeitzone benachrichtigt“, erklärt Hans. Ein Sicherheitsproblem sieht er nicht. Die Blinden werden angehalten nie ihre Kreditkarte oder ihren Pass vor der Kamera zu zeigen. Genauso wenig sollte man die App nutzen, wenn man beispielsweise eine Straße überquert. Denn dem Helfer fehlt auch mit Kamera der Rundumblick und nur ein paar Sekunden Verzögerung können dann fatale Folgen haben. Außer mit Scherzbolden, die gar nicht blind waren und den Helfern Streiche gespielt haben, gab es bisher keine negativen Erfahrungen mit der App. „Eine sehr große Herausforderung ist immer noch die Blinden selbst zu erreichen. Wir sind ein Team von zehn Leuten und da ist es nicht so einfach Blindenorganisationen und Initiativen auf der ganzen Welt zu erreichen“, meint Hans.

Einen großen Fortschritt haben sie im Oktober 2017 verzeichnet, als ihre App auch auf Android-Smartphones verfügbar wurde – was für eine steigende Nutzerzahl in Indien und Afrika gesorgt hat. Ein kleiner Haken an der Sache? Es gibt etwas, dass Hans und sein Team nicht beeinflussen können: die Internetverbindung. „Manchmal wollen die Leute gerne helfen, merken aber nicht, dass ihr Empfang nicht für eine Videoübertragung ausreicht“, sagt Hans. Aber dann steht meist schon die nächste Person bereit, die Anfrage entgegen zunehmen.

 

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