Über die Notwendigkeit, Kindern und Jugendlichen in der Schulgestaltung zuzuhören
Die Welt von morgen wird anders aussehen als die von heute. Lange herrschte der Glaube, dass junge Menschen sich kaum für Politik und das derzeitige Weltgeschehen interessieren. Mittlerweile hat sich herausgestellt: Tun sie doch, und dabei drängt es. „Dabei wäre es das einzig Sinnvolle, die Notbremse zu ziehen. […] Selbst diese Bürde überlassen Sie uns Kindern.“ – nicht nur bei diesem Zitat aus der emotionalen Rede der Klimaaktivistin Greta Thunberg beim UN-Klimagipfel in Kattowitz 2018 wird klar, mit welchen Zukunftssorgen Kinder und Jugendliche zu kämpfen haben.
Heranwachsende stehen angesichts steigender Komplexität gesellschaftlicher Herausforderungen unter Druck – das Versprechen, die eigene Zukunft gestalten zu können und sein Glück zu schmieden, erscheint anhand von am Horizont erscheinenden enormen Umbrüchen unsicher. Das stimmt manche kämpferisch, oft wirkt es aber auch lähmend. Große Jugendbewegungen wie Fridays for Future, aber auch die steigende Zahl an Depressionen im Kinder- und Jugendalter stehen sinnbildlich für dieses Spannungsfeld.
Komplexität begreifen lernen in Schulen
Gleichzeitig befindet sich die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen als Schüler*innen einen Großteil der Woche in Klassenräumen: Schule ist mehr denn je gefragt, Kinder und Jugendliche dafür zu gewinnen, global, demokratisch und umweltbewusst zu denken, zu handeln und sich gegenüber Gesellschaft und Umwelt verantwortungsbewusst zu verhalten. Das hohe Tempo des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels erfordert, dass die Lernenden gut mit den erforderlichen Schlüsselkompetenzen und transversalen Fähigkeiten ausgestattet sind, um Unsicherheiten zu begegnen, widerstandsfähig zu sein, gemeinsam an Lösungen komplexer Probleme zu arbeiten und aktive Bürger zu werden, denn: Auf sie kommt so einiges zu.
Dabei hat die Schule als Station im Leben, die alle in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen durchlaufen, echtes Potential: Sie könnte jungen, sehr unterschiedlichen Menschen die Erfahrung bringen, dass die eigene Meinung, aber auch das eigene Handeln Auswirkungen hat. Solche Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und auch der eigenen Verantwortung in Umfeld und Umwelt sind unabdingbar. Erprobungen davon finden in Schulen noch geschützte Räumen, die Platz lassen sollten, auch mal falsch zu liegen, über die Stränge hinauszuschlagen oder außerhalb bestehender Normen zu hinterfragen.
In der Form, in der von jungen Menschen Weltoffenheit, globales Denken und couragiertes Handeln gefordert, erwartet und benötigt wird, müssen auch die Orte des Lernens entsprechend strukturiert sein – insbesondere die, in denen sich die jungen Menschen aus institutionalisierter Verpflichtung aufhalten: Schulen. Das bedeutet nicht nur, dass alle Schulen enorme finanzielle Mittel aufbringen müssen, um zeitgemäß ordentlich digital ausgestattet zu sein. Das geht beispielsweise in Deutschland schon angesichts starker regionaler und bildungspolitischer Unterschiede nicht in absehbarer Zeit und in gleicher Geschwindigkeit.
Das gesamte Bildungssystem müsste dagegen flexibler und dynamischer werden, innovative Ansätze für das Lernen und Lehren anwenden, die traditionellen Rollen und Akteure im Bildungswesen überdenken und sich für ein breiteres Spektrum von Akteuren, Gemeinschaften und Lebenswelten öffnen. Dabei ist besonders relevant, nicht nur zu überdenken, was, sondern vor allem wie gelernt wird. Diesen Anspruch haben bereits viele Schulen und Lehrende in sich. Doch wie anfangen, wenn wie bereits genannt finanzielle Mittel fehlen und institutionelle Vorgaben sich nur langsam verändern?
Schulen als lernende Organisationen
Die Initiative „Schule macht sich…“ setzt genau hier an und will Schulen dazu befähigen, sich mithilfe von Partizipation, erweiterten Lernformen, innovativen Lernformaten sowie passenden und adaptiven Lernumgebungen weiterzuentwickeln, um auf diese Weise selbst zu lernenden Organisationen zu werden. Die Beteiligung der „Expert*innen vor Ort“, also der Schüler*innen, der Lehrer*innen und der Eltern, spielt dabei eine zentrale Rolle.
Das Ziel ist, auf der alltäglichen Ebene des Schulsystems Innovationsprozesse zu initiieren, zu entwickeln und zu testen. Dadurch soll einzelnen Schulen und langfristig dem Bildungssystem insgesamt ein „Werkzeugkoffer“ für Innovationen von unten zur Verfügung gestellt werden.
Gelungen ist das bereits in der Südschule Bad Tölz. Die Schule will partizipative Schulentwicklung fördern. Mit dem Projekt „Hack your Classroom“ sollte die Umgestaltung des Schulgebäudes bis auf die Klassenzimmerebene herunter gebrochen werden, denn: Ein groß geplanter Umbau ist kosten-, zeit- und energieintensiv und braucht oft lange Zeit bis zur Realisierung. Zudem gibt es durch die kleinschrittigen Veränderungen für die Nutzer*innen der Schule die Möglichkeit auf neu auftretende Situationen zu reagieren, sie zu beeinflussen und zu initiieren und bereits Getätigtes gegebenenfalls wiederum zu überarbeiten.
Konkret haben sich in der Südschule Bad Tölz drei Klassen aus unterschiedlichen Jahrgangsstufen gemeinsam mit ihren Lehrer*innen auf den Weg gemacht, ihr Klassenzimmer durch kleine „hacks“ zu ertüchtigen. Die Projektleiterin Vera Steinhauser betont, dass es dabei vor allem auf das Erfahren von Selbstwirksamkeit für die Schüler*innen ankommt. Die entstandenen Prototypen wurden von einem Schreiner in Bauanleitungen für die Möbel übersetzt und gemeinsam mit den Schüler*innen gebaut. So entstanden neue Möglichkeiten, den Raum schnell und bedürfnisorientiert an Lernformate und Situationen anzupassen. Die räumlichen Veränderungen bieten auch neue Potentiale für innovative Lehrformate.
Auch weitere Projekte von „Schule macht sich“ unterstützen bei der Etablierung neuer, innovativer Strukturen und Praktiken – zum Beispiel das »Inspiration Game«: Dabei handelt es sich um ein Spiel für Schulentwicklungsprozesse. Es soll ermöglichen, neue Lern- und Lehr-Ansätzen zu unterstützen sowie auf dem Weg zu einer neuen Lernkultur. Durch die Beschreibung innovativer Lernformate bietet es Inspirationen und gleichzeitig eine methodische Struktur, um diese für den individuellen Schulentwicklungsprozess kreativ zu nutzen. Ziel ist dabei, Schulteams bei der Entwicklung neuer Lernformate zu begleiten. Das »Inspiration Game« besteht aus unterschiedlichen Spielkarten – Inspirations- und Prozesskarten – mit deren Hilfe Teams aus Lehr*innen ihren Schulentwicklungsprozess kreativ gestalten können. Durch solche hilfreiche Tools können auch andere Schulen Erfahrungen, die in Bad Tölz gemacht wurden, reproduzieren. Die Projektinitiator*innen sehen darin die Chance, „durch kleine und große Projektideen zu inspirieren und somit einen langfristigen Wandel in der Schulgestaltung einzuleiten“.
Montessori-Pädagogik und Mehrsprachigkeit für alle
Auch die frisch eröffnete Schule „Campus di Monaco“ in München verfolgt neben der Montessori-Pädagogik einen innovativen Ansatz: Die ganztägige Mittelschule mit M-Zug vereint Konzepte der Mehrsprachigkeit und Inklusion miteinander. Durch die unterschiedlichen Hintergründe der Kinder und Jugendlichen wird mitbestimmt, welche Sprachen im Unterricht mit einfließen. Ziel ist dabei nicht, dass die Kinder und Jugendlichen in jeder Sprache alles verstehen, sondern dass sie ein übergreifendes Verständnis für sprachliche Vielfalt entwickeln und damit neue Zugänge zu unterschiedlichen Themen- und Wissensfeldern finden. Die neue Mittelschule bietet mehrere Fremdsprachen, bilingualen Fachunterricht sowie „Deutsch als Zweitsprache Klassen“ an.
Außerdem soll der Genuss der Montessori-Pädagogik explizit auch Kindern aus einkommensschwachen Familien ermöglicht werden: Durch ein Solidarprinzip können Kinder aus Familien mit geringem Einkommen ermäßigtes Schulgeld, Kinder aus Familien ohne Einkommen ganz ohne Schulgeld am Unterricht der Schule teilnehmen. Der Aufbau der Modellschule wird wissenschaftlich begleitet, im nächsten Schuljahr steht ein Umzug in ein neugebautes Schulhaus in Ramersdorf-Perlach an.
Transformation braucht auch Bestrebungen der Bildungspolitik
Um transformativen Wandel in der Bildungslandschaft zu erreichen, die gegenwärtige gesellschaftliche Veränderungen aufgreift, sind isolierte Beispiele innovativer Schulen ein guter Anfang, reichen jedoch in eben dieser Isolation nicht aus. Die Bildungspolitik muss sich besser dafür einsetzen, wie und wann sie innovative Ansätze in ihren laufenden Bemühungen um die Förderung von Reformen des Bildungssystems und die Verbesserung seiner Steuerung und Innovationsfähigkeit übernimmt. Das Wissen darüber, wie Schüler am besten lernen, ist heute viel umfangreicher als zu Zeiten der Entwicklung der Schulpolitik.
Abgesehen von einigen seltenen Ausnahmen erfordert die Einführung innovativer Ansätze in bereits bestehenden Schulen grundlegende Veränderungen in der Schulkultur, anstatt einfach isolierte Praktiken einzuführen oder zu ändern. Um erfolgreich zu sein, müssen Schulinnovationen flexibel sein, auf lokale Bedürfnisse reagieren, in lokale Kontexte eingebettet und offen für ihr Umfeld sein. Auch kulturelle Sensibilität und das tatsächliche Einbeziehen unterschiedlicher Interessensgruppen ist dafür notwendig – denn „Einheitsgrößenmodelle“ gibt es nicht.
Es ist an der Zeit, neue Wege des Lernens zu denken und diese auch zu beschreiten. Dabei wird es unabdingbar sein, auf individuelle Bedürfnisse und Lebenswelt einzugehen und gleichzeitig die Einbettung der schulischen Bildung von Kindern und Jugendlichen in einer diversen, komplexen Welt zu begreifen.