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Kuchentratsch – Mit Liebe gemachte Kuchen von Oma

Eine gesellige Backstube verknüpft Beschäftigung und Generationen übergreifenden Austausch mit finanziellem Zugewinn für Senior*Innen

Omas Kuchen schmeckt immer noch am besten. Die traditionellen Rezepte, die jahrzehntelange Backerfahrung und die Liebe zum Detail lassen so manch einen Konditor alt aussehen. Viele verbinden den Kuchen bei Oma mit Erinnerungen an Kindheit und Heimat. Doch das Bild der Großmutter, die jedes Wochenende der Familie und den Enkeln einen Kuchen backt, gehört oft der Vergangenheit an. Stattdessen ist das Leben der über 60-jährigen immer mehr geprägt von Einsamkeit und Isolation. Für viele Menschen stellt sich mit dem Austritt aus dem aktiven Arbeitsleben auch ein Gefühl des Nicht-mehr-gebraucht-Werdens ein und Altersarmut wird für immer mehr Senior*Innen zum Problem.

Bei Kuchentratsch bringt jede Senior*In eine Vielzahl an Rezepten mit, für die man sich bei der Bestellung entscheiden kann.

Das Sozialunternehmen Kuchentratsch möchte etwas gegen dieses Problem machen – mit einer Backstube für Senior*Innen. Seit 2014 bietet Gründerin Katharina Mayer eine Anlaufstelle, in der Beschäftigung, generationenübergreifender Austausch und finanzieller Zugewinn miteinander verknüpft werden. Das Backen von Kuchen in guter Gesellschaft und mit Platz für so manchen Tratsch steht dabei im Vordergrund. Mitmachen können alle, die sich schon im Ruhestand befinden. Mehr als 30 Senior*Innen arbeiten bei Kuchentratsch – und übernehmen so Verantwortung in einem Unternehmen, für das ihre Ideen, ihr Wissen und ihre Fertigkeiten von maßgeblicher Bedeutung sind – und dementsprechend wertschätzt.

Gebacken wird bei Kuchentratsch jeden Vormittag und wenn besonders viel los ist auch nachmittags. Aus rund 75 Kilo Mehl und Zucker sowie eintausend Eiern entstehen so pro Woche über 150 Kuchen. Die werden dann an der Backstube verkauft, für Firmen zu Cateringanlässen aufgetischt, oder auf Einzelbestellung an Privatleute in München und Deutschland verschickt. Die Kuchenauswahl ist riesig – Jede Senior*In bringt eine Vielzahl an Rezepten mit, für die man sich bei der Bestellung entscheiden kann. Und den backen sie auch selbst, in ihrem persönlichen Tempo und so wie sie ihn am liebsten mögen. Die Senior*Innen arbeiten dabei nicht nach festen Vorgaben, sondern können sich individuell, flexibel und selbstständig in den Dienstplan eintragen und sich auch in anderen Bereichen, wie dem Verpacken und Ausfahren der Ware einbringen. Die Senior*Innen sind dabei auf 450-Euro-Basis angestellt. Doch neben diesem Verdienst ist vor allem das Gefühl der Freude an der Arbeit und der Wertschätzung für viele Senior*innen ausschlaggebend.


(c) Bilder: David Freudenthal

Quartiermeister – zum Wohle aller

Durch Bierkonsum soziale Projekte in der Nachbarschaft fördern

Kann Konsumieren nachhaltig sein? Vor allem wenn es um das Konsumieren von Dingen geht, die erhebliche negative Auswirkungen auf Körper und Gesellschaft haben? Die Rede ist vom Alkoholkonsum, vom Biertrinken genauer gesagt: Die Macher des Sozialunternehmens Quartiermeister beantworten diese Frage klar mit ja. Bier ist ein in Deutschland gesellschaftlich fest verankertes Genussmittel, viele genießen gerne frisches Bier, egal ob in der Bar oder unter freiem Himmel, daheim auf der Couch oder in geselliger Runde. Es bringt Menschen zusammen und regt zu Unterhaltungen an. Für die Quartiermeister*Innen lag es da auf der Hand, die Geselligkeit, die aus dem gemeinsamen Konsum von Bier entsteht, mit einem gesellschaftlichen Mehrwert zu verknüpfen: Durch das Biertrinken sollen soziale Projekte in der Nachbarschaft gefördert werden. Die Sozialunternehmer*Innen wirtschaften also nicht um selbst reich zu werden, sondern um die Nachbarschaft zu bereichern. Zehn Cent pro Liter verkauftem Bier fließen daher in lokale Initiativen. In ihrer Arbeit sind sie unabhängig von Investor*innen, kontrolliert wird die Arbeit von einem ehrenamtlichen Verein. Dieser überwacht die Transparenz und Prinzipientreue des Unternehmens und entscheidet, welche sozialen Projekte in eine Online-Abstimmung kommen sollen. In der kann dann jede*r Biertrinker*In entscheiden, welches Projekt aus der Nachbarschaft vom Konsum der Quartiermeister Biere profitiert.

Gebraut wird das Bier allerdings nicht von den Quartiermeister*Innen selbst, sondern in lokalen Brauereien, die die Überzeugungen von Quartiermeister teilen. Die Stadtbrauerei Wittichenau, an der Grenze zwischen Brandenburg und Sachsen, versorgt Berlin, Leipzig und Dresden mit Bier, darunter auch mit dem traditionellen Rotbier. Für die Region Süd, also Bayern und Baden-Württemberg, kommt das Bier aus der Genossenschaftsbrauerei Gut Forsting östlich von München. Hier werden aus heimischen Rohstoffen und teils in Bio Qualität Pils und vor allem das regionaltypische Helle produziert. „Wir haben uns bewusst dazu entschieden, das Bier und auch den Geschmack regional zu halten. Ein Quartiermeister in München schmeckt anders als in Berlin und das finden wir gut so.“, sagt Benni Tiziani, der sich bei Quartiermeister um den Vertrieb in Bayern kümmert. „Wir lieben die vielfältige Bierlandschaft und nutzen sie für unser regionales Konzept. So halten wir die Lieferwege kurz, stärken kleine Betriebe und erhalten die regionale Bierkultur.“

Benni Tiziani kümmert sich bei Quartiermeister um den Vertrieb in Bayern.

Die Arbeit von Quartiermeister zielt dabei nicht darauf ab, Menschen zum häufigeren Biertrinken zu animieren, sondern ihren bisherigen Konsum mit einem sozialen Mehrwert zu verknüpfen. Damit wollen sie das Bewusstsein dafür stärken, dass durch nachhaltigen Konsum Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft ausgeübt werden kann. Das ist dem Sozialunternehmen schon ein Stück weit gelungen: Durch den Verkauf der Biere konnten schon 125 Projekte mit rund 125.000 Euro unterstützt werden.


(c) Bilder: Sebastian Preiß

Spoontainable – nachhaltig Eis löffeln

Mit essbaren Löffeln aus Kakaoschalen lineare Verbrauchsmuster durchbrechen

Rund 113 Kugeln Eis schleckt jeder Deutsche im Jahr – eine willkommene Abkühlung bei den immer heißeren Sommertemperaturen. Dabei werden aber auch pro Jahr mehr als 360 Millionen Eislöffel aus Plastik verwendet, die nach einmaligem Gebrauch im Müll, auf dem Boden oder irgendwann einmal im Meer landen: Eine unnötige Ressourcenverschwendung, die Umweltverschmutzung und Klimaerwärmung noch weiter vorantreibt Die beiden Managementstudentinnen Amelie Vermeer und Julia Piechotta haben zusammen mit der Ernährungsexpertin Anja Wildermuth diesem Auswuchs der Wegwerfgesellschaft den Kampf angesagt. Gemeinsam haben sie in wochenlangen Back-Experimenten in ihrer WG-Küche in Stuttgart den Spoonie entwickelt, eine nachhaltige Alternative zum Plastiklöffel. Hergestellt aus einem Teig aus Kakaoschalen, einem Überbleibsel aus der Schokoladenherstellung, sind die Löffel essbar und schmecken leicht nach Schokolade. Aber sie schmelzen nicht, geben keinen Geschmack an das Eis ab und weichen erst nach 60 Minuten auf – bis dahin ist das Eis sowieso schon geschmolzen oder besser längst aufgegessen. Hergestellt wird der Spoonie in Deutschland und auch die Verpackungs- und Marketingmaterialien wurden unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten gestaltet. Der Spoonie stellt also wohl die nachhaltigste Art dar, im Sommer sein Eis zu löffeln.

Doch Moment einmal. Wäre es nicht nachhaltiger, die kühlende Erfrischung im Eiscafé im Glasgeschirr und mit normalen Metallbesteck zu löffeln? Oder zum Mitnehmen in der Waffel bestellen und ganz ohne Löffel schlecken? Oder am besten bei stetig steigender Klimaerwärmung ganz auf ein Produkt verzichten, das unter hohem Energieaufwand gekühlt werden muss und nur wenige Augenblicke Erfrischung bietet? Handelt es sich bei dem vermeintlich nachhaltigen Löffel nicht viel mehr um ein kluges Marketingkonzept, das den aktuellen Nachhaltigkeitstrend ausnutzt? Möglicherweise kann man mehrere oder alle dieser Fragen mit Ja beantworten.

Doch das würde von dem großen Potential ablenken, das der Spoonie hat. Hergestellt aus einem Abfallprodukt wird aus dem Spoonie selbst ein Lebensmittel, das gegessen werden kann: Ein seltener Fall von einem echten Upcyclingprodukt, in dem aus scheinbar wertlosen Stoffen wirklich etwas Höherwertiges geschaffen wird.  Damit wird das lineare Wirtschaften der Wegwerfgesellschaft an dieser Stelle durchbrochen, in dem Kakaoschalen nicht im Müll und Plastiklöffel nicht im Meer landen. Das mag auf die Müllmenge erstmal nur einen kleinen Unterschied machen, aber der nachhaltige Löffel kann einem beim Eis essen vor Augen führen, dass eine Kreislaufwirtschaft möglich ist und dafür nur ein Umdenken in der Gesellschaft nötig ist.

Teilhabe im Alter – Zwei Projekte machen es vor

Die Projekte „Mohr-Villa bringt Freu(n)de“ und „KulturistenHOCH2“ liegen zwar 800 Kilometer voneinander entfernt, haben aber etwas gemeinsam: Sie bringen Jung und Alt zusammen und ermöglichen Allen mehr gesellschaftliche Teilhabe.

Es brummt in der Luft vor lauter Stimmengewirr. In Grüppchen sitzen Senior*innen und Schüler*innen aus der 8. Klasse zusammen, diskutieren, zeigen, gestikulieren. Heute ist Technikstunde. Das Thema scheint genau den Nerv der Zeit zu treffen. Denn auch die Senior*innen besitzen Smartphones, doch irgendwie wollen die oft nicht dasselbe wie sie. „Ich dachte erst, dass die Schüler*innen vielleicht nicht so einfach einen Zugang zu den Senior*innen finden, sich nicht trauen sie anzusprechen. Die waren aber total offen, haben teilweise sogar ihre Telefonnummern mit den Senioren*innen ausgetauscht, falls noch Fragen gibt, “ erzählt Helena Nitsche, die ein Freiwilliges Soziales Jahr Kultur im Kulturzentrum Mohr-Villa Freimann in München macht und das Projekt initiiert hat.

Bei einem Getränk in der Pause können sich Seniorin und Schülerin über das Gesehene austauschen. (c) KULTURISTENHOCH2

Ortwechsel: Gedämpfte Klänge, Teppichboden. Die vorbeiziehenden Menschen sind schick gekleidet. Es klingelt. Einmal. Zweimal. Die Pause in der Oper ist vorbei, jeder soll wieder an seinen Platz zurück. Auch eine Schülerin und eine Seniorin stellen ihre leeren Gläser weg und bewegen sich zurück Richtung Saal. Enkelin und Großmutter? Nicht ganz. „Es gibt viele ältere Menschen, die gerne zu kulturellen Veranstaltungen gehen würden, aber sie haben nicht das Geld und trauen sich auch nicht alleine. Für die jungen Leute ist die größte Motivation, dass sie eigentlich oft keinen Kontakt zu Senior*innen haben – außer zu den Großeltern, die oft weit weg wohnen“, erzählt Christine Worcht, Gründerin und Leitung von KULTURISTENHOCH2 in Hamburg.

Kaum Begegnungsorte für Generationen

Die zwei Projekte mit unterschiedlichem Ansatz verfolgen dasselbe Ziel: Senior*innen am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen und den Austausch zwischen Jung und Alt zu fördern. Fakt ist: Die Bevölkerung wird immer älter. Laut dem Statistischen Bundesamt wird die Anzahl der über 60-jährigen von 27,1 Prozent in 2013 auf 37,6 Prozent ansteigen. Dazu kommt, dass die Angst, aber auch eben die reelle Gefahr von Altersarmut immer weiter steigt. Gleichzeitig fragt man sich bei der ganzen Berichterstattung im Alltag auch: Wo sind diese ganzen älteren Menschen?

„Viele wohnen in entlegeneren Stadtteilen, wo die Mieten nicht so hoch sind und gehen auch wenig aus, weil die Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehrt teuer und sie auch einfach alleine sind“, erklärt Christine Worcht. Mit ihrer Initiative KULTURISTNEHOCH2 geht sie die Probleme Altersarmut, Einsamkeit und Isolation von älteren Menschen an. Hier werden ältere Menschen mit Schüler*innen aus einer nahegelegenen Schule zusammen gebracht, um eine gemeinsame kulturelle Veranstaltung zu besuchen – von Theater bis zum Heavy Metal Festival Wacken.

Das Team von KULTURISTENHOCH2 (In der Mitte Chrstine Worch)                                                (c) KULTURISTENHOCH2

Die Tickets gibt es über die Teilhabe-Organisation Kulturleben. Sie organisieren Eintrittskarten für kulturelle Veranstaltungen und stellen sie armen Menschen in Hamburg kostenlos zu Verfügung – ein Pendant dazu in München wäre Kulturraum München e.V. Christine Worcht und ihr Team sorgen für die Tandems, die Fahrkarten und die Möglichkeit, dass sich das Tandempaar ein Getränk kaufen kann. „Ich habe damals mitbekommen, wie mein Vater nach dem Tod meiner Mutter sehr vereinsamt ist. Ich habe weit weggewohnt, wie das heute oft so ist, und konnte nicht viel für ihn da sein“, sagt Worcht. Genauso geht es den Schüler*innen, die ihre Großeltern oft auch nicht in der Nähe haben – nicht selten sind sie auch im Ausland. Ein weiterer toller Nebeneffekt: Es ist nicht nur ein Generationen-, sondern auch ein interkultureller Austausch.

Austausch zwischen Schüler*innen und Senior*innen

Ein Austausch von Generationen hatte auch Helena im Sinn. Als Freiwillige im FSJ Kultur bekommt man in der Mohr-Villa die Möglichkeit, sich ein eigenes Projekt auszudenken, das man über das Jahr hinweg betreut. Auf die Idee etwas mit Senior*innen zu machen ist Helena wegen ihrer eigenen Großmutter gekommen: „Durch das Lernen fürs Abitur und den Umzug nach München, habe ich einfach nicht mehr den Kontakt zu meiner 90-jährigen Oma. Und bei vielen meiner Bekannten ist es ähnlich.“ Dabei kann man so viel von den Älteren lernen – sie sind Zeitzeugen der Geschichte, haben viele Erfahrungen gemacht und könnten ihr Wissen, von alten Rezepten bis zur Handwerkskunst, weitergeben, bevor es vielleicht verloren geht. Aus all diesen Gründen und noch vielen mehr, hat Helena daraufhin das Seniorenwohnen Kieferngarten in München kontaktiert und ihre Idee eines Austausches vorgeschlagen. Seitdem gibt es einmal im Monat unter dem Motto „Mohr-Villa bringt Freu(n)de“ eine Aktion mit den Senior*innen – vom Spielenachmittag über ein Erzählcafé bis hin zur Technikberatungsstunde mit Schüler*innen aus der nahegelegenen Mittelschule an der Situlistraße.

Beim PRojekt „Mohr-Villa bringt Freu(n)de“ wird auch mal zusammen gebastelt. (c) Mohr-Villa e.V.

Gute 800 Kilometer entfernt: Das Interesse an einem Kontakt mit Senior*innen ist auch bei den Infoveranstaltungen an den Schulen in Hamburg groß. Bevor Schüler*innen aber mitmachen können, müssen sie ein fünfstündiges Alterssimulationstraining absolvieren. Das heißt, sie müssen mal einen Tag nachfühlen, wie es ist, alt und nicht mehr so beweglich zu sein. Damit sie auch richtig mit ihren Tandempartner*innen umgehen. Die Senior*innen werden in Stadtteilen mit signifikant hoher Altersarmut angesprochen – über Seniorentreffs und kirchliche Gemeinden. Dabei ist es gerade zu Beginn nicht einfach, da die Schamgrenzen – zuzugeben, dass man nicht mehr als 1100 Euro zum Leben im Monat hat – sehr  hoch sind. Mittlerweile ist die Initiative aber bekannt – und am besten funktioniert immer noch Mundpropaganda. Auch wenn die Tandems immer wieder wechseln, ein kleiner Teil bleibt auch über den Abend hinaus in Kontakt.

Der Unterschied der Generationen zeigt sich oft erst im Miteinander – und erklärt vielleicht auch so manche Verhaltensweisen. „Ich habe mich gleich mit Helena vorgestellt und die Senior*innen geduzt – das kam nicht so gut an. Hier siezen sich selbst Damen, die seit sieben Jahren zusammen zur Bastelstunde kommen. Somit bin ich hier jetzt Fräulein Helena und werde gesiezt“, erzählt Helena lachend. Das Programm findet bei den Bewohnern des großen Seniorenwohnens im Münchner Norden Anklang – auch über die monatlichen Treffen hinaus. So hat sich durch den Kartenspielenachmittag beispielsweise gleich eine regelmäßige Schafkopftruppe zusammengetan. Solche Momente sind für Helena das größte Lob. Auch nach ihrem FSJ will sie für ihr Studium in München bleiben – und das Projekt ehrenamtlich weiterführen.


(c) Titelbild: Mohr-Villa e.V. Freimann

Kitchen on the run – eine Küche auf Reisen

Eine mobile Küche, die Begegnungen schafft und Geschichten über Grenzen hinweg trägt.

Als im Frühjahr 2015 mehr und mehr Geflüchtete nach Europa kamen, stellten sich Rabea Haß und Jule Schröder die Frage, wie sich Einheimische und Geflüchtete kennenlernen können. Wie sie sich auf Augenhöhe begegnen können, um gegenseitig Vorurteile abzubauen und einen Einblick in die jeweils andere Kultur zu bekommen. Mit ihrer Erfahrung, dass am Küchentisch Freundschaften entstehen, haben die beiden das Projekt Kitchen on the Run initiiert: Eine mobile Küche in einem Schiffscontainer, die durch Europa reist und Abend für Abend Geflüchtete und Beheimatete einlädt, Geschichten, Rezepte und gutes Essen miteinander zu teilen.

Die Gründerinnen Jule un Tabea mit dem Prototypen

Kitchen on the Run bringt Geflüchtete und Beheimatete am Küchentisch zusammen, um Zeit miteinander zu verbringen, gemeinsam zu kochen, zu essen und abzuwaschen. Und dabei ganz nebenbei ins Gespräch und sich näher zu kommen. Insbesondere die geflüchteten Teilnehmenden erhalten die Möglichkeit, die Rolle des Gastgebers einzunehmen, ein Rezept mitzubringen und so ein Stück ihrer Kultur zu teilen. Damit werden die Neuankömmlinge mobilisiert und dazu ermutigt, sich mit ihren Fähigkeiten aktiv einzubringen.

Bau nach dem DesignBuild-Ansatz

Die Hans Sauer Stiftung unterstützte Kitchen on the Run finanziell beim Ausbau des Küchencontainers. Gemeinsam mit angehenden Architekten und Architektinnen der TU Berlin baute das Team unter Leitung von Prof. Donatella Fioretti einen Schiffscontainer in eine mobile, funktionale und einladende Küche um. In dem DesignBuild Projekt beschäftigten sich etwa 20 Studierende im Wintersemester 2015/16 mit dem Entwurf und dem Bau der mobilen Küche.

Begleitet wurde der Entwurfs- und Bauprozess, in den auch Geflüchtete einbezogen wurden, mit innovativen Workshops und Netzwerktreffen der Hans Sauer Stiftung. Dies ermöglichte den Studierenden immer wieder, ihre Rolle als Architekten bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, insbesondere der Integration von Neuankömmlingen, zu reflektieren.

Der Küchencontainer im Einsatz

Im März 2016 startete der Küchencontainer dann seine erste Reise durch Europa, von Italien, über Frankreich, Deutschland, Niederlande bis nach Schweden – in jeder Stadt hielt der Container für vier Wochen.

Auch die schriftliche Dokumentation des Containerbaus wurde von der Stiftung gefördert, welche HIER zum Download zur Verfügung steht und man steht nach wie vor im regen Austausch, um die Erfahrungen einem Kreis an Interessierten und Nachahmern zugänglich zu machen.

So viel mehr als nur gemeinsames Kochen

Mit dem Ausbau des Schiffscontainers sensibilisierte Kitchen on the Run Studierende dafür, wie sie als zukünftige Architekten Gesellschaft mitgestalten können. Zugleich bauten die Studierenden das Herzstück des Projekts. Der Küchencontainer ist gleichzeitig ästhetisch und funktional, er passt sich jeden Abend seinen Gästen und ihren Bedürfnissen an. Sein Design und seine Atmosphäre strahlen Wertschätzung für seine Gäste aus.

Insgesamt begegneten sich während der ersten fünfmonatigen Reise durch fünf Länder über 2.400 Menschen aus etwa 70 Nationen bei 80 Kochveranstaltungen am Küchentisch. Damit ermöglichte Kitchen on the Run Begegnungen auf Augenhöhe, die auf beiden Seiten halfen, Vorurteile abzubauen. Zudem wurden an den Standorten Netzwerke aus engagierten Menschen hinterlassen und Initiativen, die sich nun gemeinsam lokal für eine aktive Nachbarschaft zwischen Menschen mit und ohne Fluchthintergrund einsetzen.

Um eine größere Zielgruppe zu erreichen, wurden die Erlebnisse und Erfahrungen multimedial dokumentiert, u.a. in einem Website und einem YouTube Kanal – es entstand ein eigener Dokumentarfilme, der die Idee von Beginn an begleitete, mit allen Höhen und Tiefen. Zudem schloss sich Kitchen on the Run dem Berliner Verein Über den Tellerrand kochen e.V. an. 

2017 und 2018 reiste Kitchen on the Run mit einem neuen Team unter dem Motto „Next Stop Heimat“ durch deutsche Kleinstädte mit bis zu 50.000 Einwohnern, um noch mehr Freundschaften am Küchentisch zu ermöglichen. So wurden weitere 3.600 Menschen erreicht und an allen Orten wird weiterhin mit über den Tellerrand gekocht.

2019 soll der Container in Hof, Schmalkalden und Rendsburg für jeweils sieben Wochen an einem neutralen Ort, wie dem Marktplatz oder in der Nähe des Stadtzentrums stehen. An drei Abenden die Woche wird dann zusammen gekocht – an den Wochenenden können lokale Freiwillige und Initiativen den Container mit eigenen Ideen füllen. Dabei sollen auch hier aus der entstandenen Gemeinschaft die Kochabende auch ohne Kitchen on the run aber im Satellitennetzwerk von Über den Tellerrand kochen e.V. weitergeführt werden.

Der „Neuling“ bei Kitchen on the run

Außerdem gibt es mit dem cookin’roll nun ein weiteres Projekt: ein mobiler Anhänger zum gemeinsamen Kochen. Die Hans Sauer Stiftung steht immer noch im regen Kontakt mit dem Projekt und auch in Zukunft wird es weitere Kooperationen geben.


(c) Alle Bilder: Kitchen on the run

„Das ist der Materialkreislauf schlechthin“

Die Initiative treibgut will die Nutzung verwendeter Materialien nachhaltiger gestalten und war nun Teil einer Ausstellung, in einem der renommiertesten Kunsthäuser der Welt.

treibgut – das ist eine Initiative, die einen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit leistet, indem sie verwendete Materialien aus Kunst und Theater vor dem Müllcontainer bewahrt, aufbereitet und im eigenen Lager zur Wiederverwendung anbietet. Um mehr darüber zu erfahren hat relaio bereits 2017 mit den Gründern der Initiative, Boris Maximowitz und Jonaid Khodabakhshi, gesprochen. In der Münchner Pinakothek der Moderne war treibgut nun Teil der Ausstellung „Circolution – Concepts for a sustainable future“, bei der ihre Arbeit einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Wir haben uns dort einmal umgeschaut und nachgefragt, was seit unserem letzten Besuch so alles geschehen ist.    

Jonaid, bereits 2017 hatten wir euch schon einmal besucht. Damals stand bei euch, im Münchner Kreativquartier, der Abrissbagger vor der Tür: Wie ist es euch seitdem ergangen?

Jonaid: Das Lager steht nach wie vor und wir haben einen Mietvertrag bis Ende 2019. Es gibt auch noch keine offizielle Ansage, dass wir raus müssen, gleichzeitig aber auch keine feste Zusage, dass wir länger auf dem Gelände bleiben dürfen. Dazu kommt, dass wir in der Zwischenzeit unseren Außenbereich als Lagerfläche verloren haben. Der war für uns enorm wichtig. Wir mussten ihn aber räumen, da Mängel beim Brandschutz der Zufahrtswege einer Feuerwehr festgestellt wurden. Damit ist uns ein Drittel der Lagerfläche weggefallen.

Was bedeutet das für eure Arbeit? 

Boris: Es ist schon eng geworden und wir können natürlich nicht mehr so viele Sachen aufnehmen. Wir schauen uns aber schon nach neuen Räumlichkeiten um, mit der Hoffnung etwas zu finden, wo wir unser Projekt in der verfolgten, größeren Struktur umsetzen können.

Jonaid Khodabakhshi (links) und Boris Maximowitz (rechts) haben treibgut ins Leben gerufen.

Eure Heimat ist das Münchner Kreativquartier – ein Zufluchtsort unkonventioneller Subkultur. Der soll jetzt städtisch „aufgewertet“ werden: Habt ihr das Gefühl, dass damit kreativer Raum in Gefahr ist?

Boris: Man merkt schon, dass hier die Gefahr droht, einen Freiraum so umzustrukturieren und letztlich zu gentrifizieren – auch wenn natürlich der Fokus auf Kunst, Kultur oder Kreativwirtschaft bestehen bleibt. Aber eben in einer so engen Struktur, dass möglicherweise der Charme des Areals verloren geht. Dahingehend versuchen wir uns auf dem Gelände zusammenzuschließen und unsere eigene Position nach außen klar zu kommunizieren.

Von der Subkultur zur Hochkultur – Wir sitzen hier gerade in der Pinakothek der Moderne, inmitten der größten Designsammlung der Welt: Wie ist es dazu gekommen?

Jonaid: Wir haben eine Anfrage bekommen von Studenten des Lehrstuhls für Industrial Design an der Technischen Universität in München, die eben hier eine Ausstellung zum Thema Nachhaltigkeit und Obsoleszenz auf die Beine gestellt haben. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Wieviel brauchen wir eigentlich? Das ist genau unser Thema und am Ende wurde nicht nur über unsere Arbeit berichtet, sondern konnten wir auch einen aktiven Beitrag leisten, indem für die Ausstellung Materialien aus unseren Lagerbeständen verwendet werden konnten. Wir freuen uns natürlich sehr darüber, in einem Kontext wahrgenommen zu werden, der auch unser eigener ist. Und das in einer so namhaften Einrichtung.

Boris: Und die gleichzeitig Kooperationspartner von uns ist!

Jonaid: Genau! Aus der wir also auch schon Materialien in unser Lager aufgenommen haben und jetzt kehren wir zurück als Teil einer Ausstellung anstatt Material von einer Ausstellung mitzunehmen. Wer weiß, vielleicht nehmen wir aus dieser Ausstellung auch wieder Materialien mit – das ist natürlich der Materialkreislauf schlecht hin.

Boris: Und ich finde, Hochkultur und Subkultur müssen sich dabei auch überhaupt nicht widersprechen. Das ist ja gerade die Idee von treibgut, dass sich Synergien ergeben, indem man die Mittel geförderter Hochkultur versucht weiter zu nutzen. Das heißt, es soll einfach das weitergeleitet werden,  was eh schon vorhanden ist und an anderer Stelle, wie in der freien Szene, wieder Früchte tragen kann. Beides hat also seine volle Berechtigung und sollte im besten Falle miteinander wachsen können.

 

Die Ausstellung „Circolution – Concepts for a sustainable future“ wollte maßlosen Konsum anprangern und gleichzeitig Alternativen aufzeigen.

In der Beschreibung zur Ausstellung heißt es, dass sie maßlosen Konsum anprangern will: Was versteht ihr eigentlich darunter?

Jonaid: In unserem Fall bedeutet das zum Beispiel ein Bühnenbild für 60.000 Euro anfertigen zu lassen und es dann doch nicht zu verwenden.

Das ist ja schon ein Beispiel dafür, warum es euer Projekt gibt, oder?    

Jonaid: Definitiv, aber ich glaube nicht, dass es primär Maßlosigkeit ist, die uns auf den Plan gerufen hat, sondern der strukturelle Umgang mit Materialien selbst, der vielleicht sogar ressourcenschonend sein will, es zum Schluss aber nicht sein kann. Wenn etwa ein großes Haus eine Ausstellung mit einem großen Künstler auf die Beine stellt, dann gibt es meist ganz konkrete Vorstellungen, mit ganz konkreten Materialanforderungen. Das geht dann Ausstellung für Ausstellung so weiter, was bedeutet, dass gebrauchtes Material oft nicht wiederverwendet werden kann.

Boris: Und die entstehenden Kosten für eine Umarbeitung, übersteigen die einer Neuanfertigung.

Jonaid: In solchen Fällen wäre vielleicht eine Wiederverwendung nach längerer Zeit schon möglich, wenn etwa bestimmte Sachen wieder gefragt sind. Wenn dann aber eine Einrichtung nicht genügend Platz hat, um über längere Zeit zu lagern, dann steht man vor einem Problem und fragt sich: Was mach ich damit? Das ist genau der Punkt, an dem wir sagen: Hey, wir haben einen Raum, indem Material auf Zeit treffen kann! Wir bieten im Endeffekt die Zeit, die das Material überdauern darf, bis es wieder einen Nutzen findet, die sonst einfach fehlt.

Mit der Ausstellung sollen die Gründe für das Behalten und Teilen von künstlich geschaffenen Objekten untersucht werden: Seht ihr darin Potentiale?   

Jonaid: Ich könnte mir als ideales Ziel vorstellen, dass sich die großen Kulturinstitutionen in Kooperationen begeben, Lagergemeinschaften bilden, als Anlaufstelle für alle weiteren Ausstellungen, die in diesen Institutionen stattfinden. Das heißt: Man teilt, indem man behält aber eben in einem öffentlicheren, kooperativen Zugang. 

Würdet ihr dann vielleicht so etwas wie eine Sharing-Economy als Idee gegen Verschwendung ins Spiel bringen? 

Jonaid: Naja, so eine Idee muss so viele Bereiche aufgreifen. Uns ist auch durchaus bewusst: Wenn das, was wir machen, in das Bewusstsein der Leute eingeht, die diesen Ausschuss produzieren, dann werden wir irgendwann selbst obsolet.

Boris: Das wäre natürlich eine utopische Zielsetzung, die überhaupt nicht realistisch ist. Wir werden sicherlich nicht den übergreifenden Strukturwechsel einleiten. 

Als Schnittstelle von Hoch-und Subkultur will treibgut nachhaltige und künstlerische Synergien schaffen.

Aber ja schon unterstützen?

Boris: Klar! Wir werden auf jeden Fall unseren Beitrag dazu leisten. Aber die große Idee ist zu komplex – zumindest für uns. Jedenfalls wenn es darum geht, den einen Weg bestimmen zu wollen, ohne irgendwelchen Dogmen zu verfallen. Es braucht ja auch ganz verschiedene Initiativen und Arten des Einsatzes, um nachhaltig zu sein.

Jonaid: Ich denke für uns beide ist treibgut der Weg, der für uns funktioniert. Grundsätzlich aber sollte schon gelten: Weniger ist mehr.


(c) Alle Bilder: Christoph Eipert

Über den Tellerrand Café – Wo Brez‘n und Humus sich treffen

Seit Juli 2018 gibt es das  Über den Tellerrand Café in einer Münchner Volkshochschule. Das Konzept der Sozialgastronomie kommt an.

Trotz Wolken am Himmel und einem gehörigen Wind draußen, ist das Café mit seiner großen Glasfront zum Innenhof hell und freundlich. Die Tische sind voll besetzt, trotz Ferienzeit. Teilnehmer*innen der VHS-Kurse, Nachbar*innen und Geschäftsleute – eine bunte Mischung, die hier zusammen trifft. Mittendrin schwirrt Yahyah vor und zurück, immer mit einem Lächeln und einem Scherz auf den Lippen. Der Syrer arbeitet als Service-Experte im Café Über-den-Tellerrand-kochen in München und manchmal auch bei Kochevents als Koch. Er ist einer von 14 Mitarbeitenden – mit und ohne Fluchthintergrund.

Mitgründerin und Geschäftsführerin Jasmin

Angefangen hat alles 2015. Jasmin Seipp wollte etwas tun – aber nicht Kleider austeilen oder Geld spenden. Die gelernte Betriebswirtin hat zu diesem Zeitpunkt noch als Finanzmanagerin gearbeitet. Durch einen Zufall erfährt sie von dem Verein Über den Tellerrand kochen in Berlin. Sie schreibt die Initiatoren an und erfährt, dass es bereits Interessenten gibt, die sich zum gemeinsamen Kochen zusammenschließen wollen.

Gemeinsam Kochen

Entspanntes Kochen – waschen, kleinschneiden, anbraten – und durch die gemeinsame Tätigkeit und anschließende zusammensitzen und essen ins Gespräch kommen. Ein niederschwelliges und einfaches Angebot, das aber gerade deswegen Wirkung zeigt. Schnell wurden aus den monatlichen wöchentliche Kochtreffs. Maximal 25 Leute konnten daran teilnehmen und manchmal mussten auch Personen abgewiesen werden. Die Kochtreffs fanden an unterschiedlichen Orten statt, unter anderem an den münchner Volkshochschulen. „Wichtig waren uns schöne Räume, in denen man sich wohlfühlt. Im Gegensatz zu den Flüchtlingsunterkünften“, sagt Jasmin. Es entwickelten sich Freundschaften, man traf sich auch außerhalb der Kochtreffs und manch einer verliebte sich sogar. Erst am Wochenende vor dem Interview war Jasmin auf der Hochzeit eines Paares, das sich im Bellevue di Monaco und dem Kochtreff kennen gelernt hatte. „Nur durch unsere Events haben wir mittlerweile gut 3.000 Menschen erreicht – und dabei sind die nicht mitgezählt, denen man es am nächsten Tag im Büro erzählt und noch von den Resten probieren lässt“, sagt Jasmin.

  • Die drei Preise für Gerichte der Mittagskarte sorgen dafür, dass hier jede*r Essengehen kann.
  • Neben warmen Gerichten gibt es natürlich auch die klassisch belegten Semmeln und süße Croissants - aber auch arabische Backwaren, die man unbedingt probiert haben sollte.
  • Bayrisch trifft Arabisch - der gemischte Vorspeisenteller für alle, die sich nicht entscheiden können.
  • Die Mitarbeiter von Über den Tellerrand Kochen sind immer für einen Spaß zu haben. Hier Service-Experte Mohammed mit Betriebsleiter Felix.

 

Selbst ein Café haben? Das war immer schon ein kleiner Traum von Jasmin – doch dass er sich erfüllt, hat sie eigentlich nie erwartet. Als der Pächter der Volkshochschule im Einstein aufhörte, bot sich die Gelegenheit Über den Tellerrand auf eine andere Stufe zu heben. Gemeinsam mit der Videoredakteurin Julia Harig beschloss Jasmin: Wir machen das! Im Juli 2018 war es dann soweit: Das erste Über den Tellerrand Café eröffnete. Auf die Karte kam eine Mischung aus bayerischen und arabischen Gerichten, aber es gibt auch einen afrikanischen Erdnusshähnchen-Eintopf und viel Fusion-Küche. Der Verein und die Mitarbeitenden entschieden gemeinsam, was angeboten wird. Es sollte immer etwas dabei sein, das jeder kennt und etwas, das neu ist. Auch um im Geschmack mehr Verständigung zu erzielen. Ganz natürlich ist es außerdem für sie, dass sie möglichst lokal und regional einkaufen und faire Produkte, wie die Schokolade von fairafric, anbieten.

Li: Die gesammelten Rezepte „Eine Prise Heimat“ im Aufsteller von werkraum. Re: Service-Experte Mohammed

Drei verschiedene Preiskategorien

Eine weitere Besonderheit des Cafés ist die soziale Preisspanne beim Mittagstisch. „Täglich müssen wir einen Spagat schaffen zwischen den Leuten, die sich Essengehen nicht leisten können und der Verantwortung für unsere Mitarbeitenden und ihre Arbeitsplätze“, erklärt Jasmin. Gemeinsam mit der studentischen Unternehmensberatung 180 Degree Consulting haben sie sich mehrere Optionen angeschaut, wie diese Preisspanne umgesetzt werden kann. Am Ende entschieden sie sich für ein System mit drei Preisen: der niedrigste Preis ist für den kleinen Geldbeutel, der mittlere deckt die Kosten und mit dem höchsten Preis unterstützt man das Café zusätzlich. „Auf diese Weise muss man sich auch nicht mit Studierenden- und Seniorenrabat für einen niedrigeren Preis rechtfertigen – jeder zahlt eben das, was er kann“, sagt Jasmin. Das Konzept soll auch auf die normale Karte ausgeweitet werden. Das Sozialunternehmen bietet diese Möglichkeit, obwohl das Café finanziell noch nicht ganz stabil ist – nicht ungewöhnlich für ein frisch gegründetes Unternehmen im ersten Jahr. Das Café selbst ist eine eigene GmbH, die zu 100 Prozent dem Verein Über den Tellerrand München gehört. Auf diese Weise verringert sich das Haftungsrisiko für Jasmin und Julia erheblich. „Wir haben noch Kapazitäten, gerade nachmittags und abends, die wir weiter ausbauen wollen. Außerdem gehen wir nun auch langsam das Thema Catering an, da wir hier viele Anfragen bekommen“, erzählt Jasmin. Neben den immer noch stattfindenden Kochtreffs gibt es auch Spieleabend und Sprachcafés – professionell gekocht werden kann auch bei Kochkursen oder einem gemeinsamen Teamevent mit der Arbeit.

Küchen-Magier Mohammad schaut darauf, dass alles gut geordnet und an seinem Platz ist.

Integration fängt für Jasmin im Kleinen an. Es sind Begegnungen im Alltag, manchmal noch so klein, die zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen können. Sei es, wenn eine ältere Dame im Café Mitarbeiter Cham neugierig fragt, wie er sich die Rastazöpfe macht oder die Möglichkeit der Teilhabe und der Mitgestaltung für die Mitarbeiter*innen des Cafés. „Unsere große Vision ist, dass das hier zum Leuchtturmprojekt wird. Ein Beispiel dafür, wie man einen Gastronomiebetrieb auch sozial gestalten kann, indem man Menschen eine Chance gibt, auch wenn sie kein Deutsch können. Das kann man lernen – auch wie man zwei Teller auf einer Hand trägt – aber Motivation und Gastfreundschaft nicht“, sagt Jasmin. Auch die Jury des Gastrogründerpreises 2019 gab Jasmin und Julia Recht. Unter 270 Bewerbern ging das Über den Tellerrand Café als Gewinner von 10.000 Euro und einem Coaching-Programm hervor. Eine Belohnung für die harte Arbeit von Jasmin und ihrem Team, aber vor allem auch eine Möglichkeit ihre Idee weiterzuentwickeln und noch mehr Menschen zu erreichen.


(c) Alles Bilder Sebastian Preiß

überkochen – Teilhabe durch Kochen

Das Start-Up überkochen trägt mit seinem mobilen Kochwagen zur Umwelt- und Ernährungsbildung, aber auch zur Integration und Inklusion im Klassenzimmer bei.

Eifrig stecken die Schülerinnen und Schüler des Werner-von-Siemens-Gymnasiums in München ihre Köpfe über den Rezeptkarten zusammen. Schon werden die Aufgaben verteilt, Schneidebretter und Messer aus den Schubladen gezogen, Wasser aufgesetzt – kurz nachgefragt: „Was heißt denn ‚siedendes Wasser‘?“ – und nach den nächsten Schritten geschaut. Nach kürzester Zeit riecht es im Klassenzimmer nach leckerem Essen, es wird gelacht, sich beraten und konzentriert zugeschaut. Am Ende dieser zwei Schulstunden wird gemeinsam gegessen – ganz ohne Besteck und ohne „Das kenne ich nicht. Das mag ich nicht“, – wird alles mal probiert. Die Gründer von überkochen sind zufrieden – Lehrer und Klasse auch. So hatten sie sich das vorgestellt.

Englisches Porridge – hört sich für die Schüler*innen doch irgendwie besser an als Haferschleim.

Biologie, Mathe, Geschichte und Integration – Kochen und Essen kann so viel mehr sein als bloße Nahrungszubereitung und -aufnahme. Dies zu vermitteln und Zusammenhänge zu den Lebenswelten der Schüler*innen herzustellen, hat sich der Münchner Verein überkochen e.V. zur Aufgabe gemacht.

Inklusion durch Kochen

Entstanden ist die Idee während des ersten Mastersemesters von Constanze Buckenlei und Marco Kellhammer am Lehrstuhl für Industrial Design der TU München. In Kooperation mit der Hans Sauer Stiftung wurde unter dem Thema „Schule designen“ an der Südschule in Bad Tölz recherchiert. Zu diesem Zeitpunkt gab es an der Schule zwei Willkommensklassen, die aus Geflüchteten bestanden und nur wenig Kontakt zu den einheimischen Schüler*innen hatten. Die Gruppe von Constanze und Marco beschäftigte sich mit dem Thema Ernährung und entwickelte ein Konzept, wie man durch Essen Integration und Inklusion schaffen kann: gemeinsam kochen. „In der Schule ist die Pause und das Essen immer der Zeitrahmen für die Schüler, in dem sie ihre Freunde treffen, wo sie Verbindungen schaffen und sich austauschen. Genau dieses Erlebnis wollten wir auch im Unterricht erzielen“, sagt Constanze.

Statt dem klassischen Frontalunterricht, sollte ihr Konzept offener und partizipativer werden. Daher entwickelten sie eine mobile, unabhängige Kochstelle, die in jeder Klasse genutzt werden kann. Am Ende des Semesters entstand der erste selbst gebaute Prototyp. Dass das Projekt weiter verfolgt werden konnte, lag vor allem auch an dem Interesse der Stiftung und des Referats für Bildung und Sport der Stadt München. So entwickelten Constanze und Marco die Idee im zweiten Semester weiter und konnten es auch unter unternehmerischen Gesichtspunkten ausarbeiten.

Das Team von überkochen (von li nach re): Marco, Constanze und Vasiliki   (c) Christoph Eipert

Damit der Kochwagen auch ohne große Anleitung genutzt werden kann, erdachten sich Constanze und Marco ein Kartenset mit Rezepten, Aufgabenverteilung, Informationen über Nahrungsmittel und Aktionskarten, die sie in Kooperation mit der Hochschule Albstadt-Sigmaringen und dem Studiengang Lebensmittel, Ernährung und Hygiene entwickelten. Die dritte im Bunde, Vasiliki Mitropoulou, Lehrerin für Informatik und Wirtschaft, hatte das Projekt als Mitarbeiterin der Hans Sauer Stiftung in der Entstehung beobachtet und stieg in das Projekt ein, als es an die Entwicklung einer Modellphase mit der Stadt München ging. Sie unterstützte bei dem didaktischen Teil der Entwicklung des Kartensets und ergänzender Workshops. So hat sich der Kochwagen von überkochen weiterentwickelt, von einem Integrations- und Inklusionsmittel zu einem Unterrichtstool, das in jedem Fach miteingebunden werden kann.

Die verwendeten Materialen für den Kochwagen sind robust, funktional und einfach wiederzubeschaffen. Gefertigt wird in der Justizvollzugsanstalt in Niederschönenfeld.  „Wir haben von Anfang an gesagt, dass sie in einer sozialen Einrichtung gefertigt werden sollen und das hat schließlich auch funktioniert. Trotz kleiner Herausforderungen, ist es insgesamt sehr positiv und wir erfahren eine umfangreiche Unterstützung seitens der Werkstätten“, sagt Marco.

Vielseitige Einsatzmöglichkeiten

Auch eine Entscheidung zum Thema Unternehmensgründung mussten die drei treffen – eine Form, die mehr der ideellen Idee als der eines Business entsprechen sollte und außerdem wenig Investitionskosten fordert. So wurde im März 2018 mit vier weiteren Freunden der überkochen e.V. gegründet. Damit stand den weiteren Plänen nichts mehr im Wege. Nach einem Stadtratsbeschluss Münchens gab es eine öffentliche Ausschreibung eines Ernährungskonzepts – den Zuschlag bekam überkochen und somit zehn weitere Schulen die Möglichkeit, sich für die Kochwagen zu bewerben, die nun jedes Jahr rotieren sollen. Dementsprechend gefragt war das Team Anfang September an den Schulen, um Einführungsworkshops an Gymnasien, Grund-, Mittel-, Real- und Berufsschulen zu halten. Die Wägen werden vielseitig eingesetzt, zum Beispiel als erste Möglichkeit der Interaktion in Grundschulen mit vielen fremdsprachigen Kindern oder fachspezifisch an den höheren Schulen – die Lehrer sind jedenfalls hoch motiviert und arbeiten auch unabhängig von den Lernkarten.

Der Wagen von überkochen ist mit allem ausgestattet, das man zum Kochen braucht.

Nicht nur das Angebot, sondern auch das Team von überkochen hat sich erweitert. Neben den unterstützenden Vereinsmitgliedern, gibt es nun zwei Ökotrophologinnen  – darunter auch eine mit der Zusatzausbildung zur Stressbewältigung – die das Workshopangebot ergänzen.

2018 – das Jahr der Auszeichnungen

Mit ihrer Idee haben sie sich außerdem bei vielen Wettbewerben für Social Entrepreneure beworben und waren mehr als erfolgreich: 1. Preis beim Social Business Wettbewerb der Joblinge und Hogan Lovells, eine Auszeichnung als Kultur- und Kreativpiloten der Bundesregierung mit umfangreichen Workshopprogramm und Einladung ins Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, sowie unter den 100 Stipendiaten des Start Social Programms. Die Preise machten auch einige Organisationen auf überkochen aufmerksam, wie die Sarah Wiener Stiftung, die sich den Wagen von überkochen nach Berlin für ein Projekt auslieh.

Bisher war überkochen – wie der Name schon sagt – mehr auf das Bindeglied Kochen fokussiert und wie dadurch etwas vermittelt werden kann. Durch die Arbeit an den Schulen hat das Team aber gemerkt, dass der Wagen noch viel mehr Möglichkeiten bietet. Der Fachraummangel an Schulen könnte so zum Beispiel durch spezielle Chemie- und Physikwagen teilweise abgefangen werden. Ideen gibt es noch viele – und langweilig wird dem überkochen-Team auch 2019 definitiv nicht.


(c) Alle Bilder überkochen

Khala Kolumna – Folge 7

Die stille Zeit

Im Juli 2017 hat das Start-Up Khala die Crowdfunding-Kampagne für ihre Slow-Fashion-Mode erfolgreich abgeschlossen. Daraufhin hätte eigentlich die Produktion in Malawi anlaufen sollen. Doch so einfach war es nicht. Es gab Probleme mit dem Stofflieferanten und die Zusammenarbeit mit der Designerin in Malawi musste beendet werden. Dadurch ging auch das Atelier für die Produktion verloren. Doch davon ließen sich Mel, Bene und Hubi nicht unterkriegen. Was sie alles erleben – vor allem in Malawi vor Ort – erzählt Bene von Khala regelmäßig.

Und irgendwann war es dann doch Winter. Ein eisiger Wind blies mir Schnee ins Gesicht, während ich, mit unzähligen schuhkartongroßen, braunen Schachteln beladen, den Weg zur Post bewältigte. In den Schachteln befanden sich Wendejacken, die in verhältnismäßig großer Zahl über den Khala Onlineshop vorbestellt worden waren.

Aber beginnen wir zwei Monate vorher, im Herbst. Ich saß auf einer Bank unter einem blauen Oktoberhimmel und telefonierte mit Mel, die seit einigen Wochen wieder in Malawi war. Sie war ein weiteres Mal nach Lilongwe geflogen und wollte das bevorstehende halbe Jahr, das sie dort verbringen würde, nutzen, um in unserer Schneiderei einiges geradezubiegen und weiterzuentwickeln. Es gab viel zu tun. Materialien und Gelder waren verschwunden, eine kleine Kriminalgeschichte hatte sich zugetragen. Aber dazu später. So hingen wir also am Telefon, saßen auf verschiedenen Kontinenten, teilten uns denselben blauen Himmel und planten für Weihnachten. Die Zeit, in der die halbe Welt verrückt spielt, stand vor der Tür. Und wir wollten dieses Jahr mitspielen. Ein Jahr zuvor hatten wir die Schneiderei gerade erst eingerichtet. Wir waren damals damit beschäftigt gewesen, unsere Crowdfunding-Unterstützer*innen mit ihren verdienten Rewards zu versorgen und hatten daher noch keine Ware verkaufen können. Doch mittlerweile war Khala weiter. Und nochmal wollten wir uns das Weihnachtsgeschäft nicht entgehen lassen. Einzig: Wir hatten uns bisher noch nicht um Absatzmöglichkeiten kümmern können. Im Sommer waren wir auf ein paar Festivals gewesen, sonst verkauften wir unsere Ware ausschließlich online. Für Weihnachten würden wir an ein paar Christkindlmärkten teilnehmen. Die Vorstellung, in einer Bude zu sitzen und zwischen Christbaumkugeln und Kripperlfiguren Jacken zu verkaufen, gefiel mir nicht.

Malawi im Dezember

Nach unserem Telefonat begannen wir, Khala für die Weihnachtszeit vorzubereiten. Ich sah mich ein wenig um und hatte Glück. Der funkigste Weihnachtsmarkt Münchens hatte noch einen freien Platz für unseren Stand. Der würde auf einem Bazar in einem großen, gemütlichen Zirkuszelt Obdach finden. Noch dazu dauerte dieser Weihnachtsmarkt vier Wochen. Ich würde also nicht verschiedene kleine Märkte abfahren müssen, sondern den Stand nur einmal aufbauen und dann 30 Tage lang betreiben. Apropos Stand. Es gab noch keinen.

Unseren Verkaufsstand, den wir für den Sommer gebaut hatten, hatten wir so entworfen, dass er auf lediglich zwei Quadratmetern Platz fand. Das sparte Standmiete. Auf der Suche nach günstigem Baumaterial hatten wir damals in einer Scheune von Hubis Vater einige alte Latten und ein hölzernes Bettgestell gefunden. Daraus hatten wir ein niedliches Khala-Ständchen getischlert. Dieses hatte uns treue Dienste erwiesen. Aber nun waren wir ihm entwachsen. Ich brauchte  schnell einen neuen, größeren, soliden, schönen, praktischen Stand – der natürlich wieder mal nicht viel kosten durfte. Im Mai waren wir bei einem Bayern 2-Wettbewerb nominiert gewesen. Am Gala-Abend hatten wir die Jungs von der Lernwerkstatt kennengelernt. Ein soziales Projekt, um Geflüchteten Handwerkskurse zu ermöglichen. Kurzerhand rief ich dort an. Roberto, der Leiter der Handwerkskurse, war sofort begeistert und verstand es aufs Vorzüglichste, den Stand in meinem Kopf innerhalb einer Woche in der Realität nachzubauen. Next problem solved.

Wir hatten nun also den Platz auf dem Weihnachtsmarkt und der Stand war fertig. Nun musste er nur noch gefüllt werden. Noch hatten wir kaum aber kaum Ware. Während ich in Deutschland die Vorbereitungen für den Weihnachtsmarkt traf, kämpfte Mel mit der Produktion.

Es hatten sich einige Komplikationen ergeben, seitdem sie in Malawi gelandet war. Den größten Verdruss bereitete ihr unser malawischer Projektmanager. Der hatte wohl schon seit längerer Zeit seine Arbeit bei Khala anders genutzt, als es in seinem Vertrag stand. Mel kam dahinter, dass er unsere Steuergelder veruntreut und große Mengen Stoff gestohlen hatte. Außerdem vermuteten wir, dass er ein eigenes kleines Business mit unserer Ware am Laufen hatte. Ihn zu feuern und den Fall den Behörden zu übergeben, fiel Mel alles andere als leicht. Zumal er bei Khala von Anfang an dabei gewesen war und durch die Strapazen, die wir – und vor allem Mel – mit ihm durchlebt hatten, auch ein persönliches, freundschaftliches Verhältnis entstanden war. Mel musste den Laden nun also alleine managen. Da der nun seines Postens enthobene Manager unter anderem die Aufgabe der Qualitätssicherung scheinbar länger nicht mehr pflichtbewusst verfolgt hatte, hatten sich unzählige Jacken angehäuft, die ausgebessert und umgenäht werden mussten. Zudem hatten wir schon seit Langem geplant, unser Sortiment um Wendejacken zu erweitern. Jacken also, die auf einer Seite den farbenfrohen Chitenje-Stoff zeigen, die man aber auch auf links drehen kann, sodass ein einfarbiger Hanfstoff nach außen schaut und man etwas dezenter daherkommt. Mittlerweile hatten wir genug Kapital, um die Materialien dafür einzukaufen. Aus Südafrika wurden Wende-Reißverschlüsse und Hanfstoffe in unsere Werkstatt geliefert. Am Markt in Lilongwe besorgte Mel neue Chitenje-Stoffe, die uns über den Verlust der alten Stoffe hinweghalfen und darüber hinaus noch eine höhere Qualität aufwiesen. Die Zeit rannte, der Weihnachtsmarkt rückte näher. Und eigentlich hätte die Produktion nun wieder rundlaufen können. Doch plötzlich verschwand unser Chef-Schneider. Er kam einfach nicht mehr zur Arbeit. Niemand wusste, wo er war; übers Handy war er nicht zu erreichen. Sein Verschwinden bedeutete auch, dass die Hälfte der Produktion lahmlag. Der Mann leistete gute Arbeit und wir wollten ihn nicht aufgeben. Nach zwei Wochen ohne ein Lebenszeichen machte sich Mel zusammen mit unserer Zuschneiderin in einem Vorort Lilongwes auf die Suche nach ihm. Sie fanden ihn bei sich zu Hause. Am nächsten Tag kam er wieder regulär zur Arbeit. Es gehört zu den Absurditäten, denen man in Malawi begegnet, dass diese Nebengeschichte keine Pointe hat. Es gab keinen Grund für das klanglose Verschwinden des Schneiders. Er war mit seinem Arbeitsplatz zufrieden und seine Familie auf das Geld angewiesen, das er bei uns verdient. Für ein paar Tage hatte er einfach gemeint, etwas Besseres zu tun zu haben.

Das Team in Malawi arbeitet an den neuen Wendejacken.

Die ersten Wendejacken wurden ausgetüftelt und entwickelt. Sie sahen sehr gut aus. Ein paar Wochen später konnten wir sie zum Verkauf anbieten. Ein Freund, der eine Expertise für Werbung in Sozialen Netzwerken entwickelt hatte, schaltete für uns eine Anzeigenkampagne auf Facebook. Es war, als hätten die Leute nur auf die neuen Jacken gewartet. Über den Onlineshop nahmen wir fleißig Vorbestellungen entgegen, die dann direkt im Anschluss in Malawi genäht wurden. Gleichzeitig begann nun der Weihnachtsmarkt. Wir hatten einige Freiwillige akquirieren können, die mich mit den Schichten am Stand unterstützten. Ich hatte ja noch Jobs nebenher. Der Dezember sah nun so aus:

Über unseren eigenen Onlineshop sowie über zwei weitere Plattformen, auf denen wir unsere Stücke anbieten, kamen täglich neue Bestellungen rein. Gleichzeitig betreute ich den Stand auf dem Weihnachtsmarkt, wo der Absatz ebenfalls zu unserer Zufriedenheit lief. Der schöne, sich durch die reizüberflutende Farbenpracht der verschieden gemusterten Jacken nahezu vollständig selbst dekorierende Stand täuschte viele Besucher darüber hinweg, wie klein Khala immer noch war. Tatsächlich hatte ich sämtliche verfügbaren Lagerbestände an unserem Stand untergebracht. Wenn uns also eine Bestellung übers Internet erreichte, nahm ich die bestellte Ware von der Stange unserer Bude und brachte sie am nächsten Morgen zur Post. Um außerdem nicht vorrätige Größen und Muster anbieten zu können, nahm ich auch am Weihnachtsmarkt Vorbestellungen entgegen, funkte diese gleich weiter an Mel, die sie im Anschluss in Malawi fertigen ließ. Dieses Angebot gefiel den Gästen und es wurde oft in Anspruch genommen.

Bene am gut gefüllten Khala-Stand auf dem Märchenbazar im Dezember 2018.

Die am Stand und online vorbestellten und gefertigten Bomber- und Wendejacken trudelten dann Woche für Woche in Deutschland ein. Ich holte sie beim Zoll ab, verpackte sie und brachte sie zur Post, oder informierte Vorbesteller*innen, dass ihre Bestellung nun abholbar war; die übrigen Jacken brachte ich zum Weihnachtsmarkt und füllte die leer gewordenen Plätze an den Kleiderstangen auf. Parallel dazu trafen nun auch immer wieder die dem Versandgeschäft immanenten Retouren ein. Da ich selbst kaum mehr daheim war, gaben die emsigen DHL-Bienchen all die retournierten Päckchen bei verschiedenen meiner Nachbarn ab. Nur ungern öffnete ich noch den Briefkasten, befürchtete ich doch, dass mir wieder ein gelbes Kärtchen mit dem Vermerk „Ihre Sendung wurde an Ihren Nachbarn übergeben“ entgegen flatterte. Auf den Kärtchen stand noch, bemüht um Konkretisierung, der Nachname des Nachbarn. Wenn es ganz blöd lief, lautete dieser Name Müller. Bei mir im Haus wohnen drei Müllers. Auf der Suche nach meinen Päckchen lernte ich sie nun alle kennen. Die Vorbestellungen, Verkäufe, Retouren und neuen Lieferungen bedurften einer Dokumentation. Ein konkretes System dafür gab es noch nicht. Anfangs vermerkte ich alles auf verschiedenen Zetteln. Es häuften sich aber die Fälle, in denen ich etwas auf einen Zettel schreiben wollte und den Stift verdutzt wieder beiseitelegte, da ich die im Entstehen begriffene Notiz scheinbar zu einem früheren Zeitpunkt bereits verfasst hatte. Die Zettelwirtschaft wich einem System aus Listen und Verzeichnissen, welches ich stets mit mir führte, um Daten nachschlagen und updaten zu können. Aktentaschen hatte ich immer als prätentiöses Accessoire von Young Professionals betrachtet. Nun verstand ich. Sollte ich mir vielleicht eine zu Weihnachten wünschen?

Es kamen nicht nur viele Päckchen bei Bene an – er musste sie auch fleißig verschicken.  (c) Nicole Ficociello

Während sich mein Leben in einem Strudel aus vollen und leeren Versandkartons, Kärtchen, Listen und Zettelchen, Zolldokumenten, Weihnachtsmarkt und Paketklebeband zu verheddern drohte, forderte das Weihnachtsgeschäft Mel und das Team in Malawi nicht weniger heraus.

Dort war von Weihnachten indes nicht viel zu spüren. Die Regenzeit hüllte das Land in ein grünes Kleid und die gleichzeitig hohen Temperaturen führten zu einer Schwüle, die einem den Schweiß aus den Poren presste. Im Radio kam niemand auf die Idee, „Last Christmas“ zu spielen, und abgesehen von einer etwas verloren wirkenden Plastik-Tanne in einer Mall, erinnerte auch optisch wenig an Festlichkeit.

In unserem Atelier gab es zwar auch keine Deko, aber die vermerkten Jackenbestellungen an einem neu angeschafften Whiteboard ließen erkennen, dass es in Deutschland sehr weihnachtete. Die schlagartige Nachfrage nach den neuen Modellen und die Sonderanfertigungen für Besteller und Bestellerinnen am Weihnachtsmarkt in München erforderten eine wohlüberlegte Koordination der eingeschränkten Produktionskapazitäten und der teilweise überforderten Mitarbeiter*innen – und auch dortzulande eine akribische Dokumentation. Zudem hatte Mel erst kürzlich einen neuen Schneider eingestellt, der nun in der Anlernphase war. In Malawi ist Schneider, wer Zugang zu einer Nähmaschine hat. Die Stellenausschreibung nach einem fähigen, neuen Kollegen war daher eine Angelegenheit für sich. Ok, ganz kurz: Mel hatte bereits ein paar erfolglose Probearbeitstage mit verschiedenen Anwärtern für den Job hinter sich, da erreichte sie eines Tages eine Anfrage eines malawischen Rappers. Der MC wollte mit unseren Bomberjacken ein Musikvideo drehen und bewarb sich im gleichen Atemzug als Mels Assistent. Das Video wurde gedreht, wegen der schlechten Bildqualität wurde der Gastauftritt der Khala-Stücke jedoch wieder herausgeschnitten. Zu mehreren vereinbarten Terminen, bei denen seine Karrierechancen als Assistenz von Mel und eventuell neuer Projektkoordinator ausgelotet hätten werden sollen, erschien der arbeitssuchende Tausendsassa nicht. Somit war sein Nebenauftritt in dieser Geschichte auch schon wieder zu Ende. Zuvor hatte er aber noch einen seiner Nachbarn als neuen Schneider empfohlen. Und dieser saß nun an einer Nähmaschine bei Mel im Atelier und wurde mit den Spezifitäten von Schnittmustern, Nadeln, Stichlängen und Materialien vertraut gemacht.

Teammeeting im Khala-Atelier in Malawi.

Aus Chaos wurde Routine, aus Fehlern wertvolle Lektionen und aus Stoffen wurden Jacken, die nach Deutschland wanderten. Bei wem die wohl überall unterm Christbaum landen würden, fragte ich mich, während mir ein eisiger Wind Schnee ins Gesicht blies und ich die in unzähligen schuhkartongroßen, braunen Schachteln verpackten Jacken durch die Kälte zur Post trug.

Khala’s erste Weihnachten waren nervenaufreibend und stressig gewesen. Aber durchaus erfolgreich. Mit dem Gewinn, den wir machten, hatten wir nun erstmals genug Geld auf der hohen Kante, um mehrere Monate in die Zukunft zu kalkulieren. Dadurch würden sich im neuen Jahr vollkommen neue Möglichkeiten ergeben.


(c) alle Bilder Benedikt Habermann/ Khala

Experience Design Kolumne – Folge 3

Öffentlichkeitsarbeit

Nils Enders-Brenner ist Designer und hat einen Kommunikationshelfer entwickelt, der vor allem hörgeschädigte Menschen in der Kommunikation mit hörenden Personen unterstützen soll. Für relaio schreibt er über seine Erfahrungen, seine Projekte und die Herausforderungen, auf die er bei seiner Arbeit stößt.

Dies ist meine erste Kolumne seit Sommer 2018 und auch die erste in diesem Jahr. Letztes Jahr hat sich leider nicht sehr viel getan, da ich meistens mit anderen Projekten beschäftigt war. Doch in den letzten zwei Monaten, Dezember und Januar hat sich unglaublich viel ereignet.

Die eigentliche Geschichte fängt allerdings im Oktober 2018 an, wo ich eine E-Mail von einem ERGO-Angestellten bekommen habe. Er hat sich sehr für meinen Störer interessiert, da sie auf der Suche nach möglichen Teilnehmern für den #DeinWeg-Award 2018 waren. Diese Ausschreibung fand zum 5. Mal statt und dabei werden Preisgelder an die Gewinner ausgelobt. Der ganze Wettbewerb endete am 24. Januar und mein Störer bekam dafür 379 Stimmen und landete unter den ersten 10 von 20 Projekten in der Endrunde.

Ich bin zwar nicht auf dem ersten Platz gelandet, aber ich konnte sehr viel über Marketing lernen und dabei konnte ich unglaublich viele Meinungen anderer einholen. Gleichzeitig bekam ich auch harsche Kritik, mit der ich umgehen musste, aber auch viele Komplimente und motivierende Worte. Für diesen Wettbewerb habe ich zusammen mit meiner Frau im Herbst ein Video gemacht, das ihr jederzeit mit deutschen und englischen Untertiteln auf vimeo.com anschauen könnt. Selbstverständlich würde ich mich über weitere Unterstützung von euch freuen.

Zudem habe ich auch einen weiteren Artikel über den Störer schreiben müssen, um die Leute zu überzeugen, damit sie für mich abstimmen können. Den Artikel könnt ihr auf meiner Webseite sehen oder auch eine ähnliche Fassung auf #DeinWeg-Award.

Insgesamt bin ich mit dem Ergebnis sehr zufrieden, und ich bin mir sicher, dass der Störer beim nächsten Mal noch einen größeren Erfolg erzielt. Und er muss natürlich auch weiter verbessert werden.

Die nächste Geschichte beginnt kurz vor Weihnachten, wo ich von einem gehörlosen Reporter der DGZ – Deutsche Gehörlosenzeitung – angeschrieben wurde. Er war an meinen Designprojekten sehr interessiert und wollte ein Porträt über einen gehörlosen Produktdesigner schreiben. Das Porträt trägt den Titel: “Design für das Dazwischen”.

Es zeigt, wie ich die Designherausforderungen trotz des Vollzeitjobs bewältige. Es mag zwar sehr anstrengend klingen, aber es macht mir unglaublich viel Spaß, Probleme zu finden und diese zu reduzieren. Design ist meine Leidenschaft, und damit kann ich vielen Menschen helfen. Deswegen habe ich auch den Störer entworfen, um die Kommunikationsbarrieren durch das Stören zu reduzieren. Außerdem erzähle ich im Artikel, wie ich mit meinen Produkten Erfahrungen ermögliche mithilfe von Experience Design. Der Artikel ist schon seit dem 20. Januar 2019 veröffentlicht. Ihr findet die DGZ entweder auf den Zeitungsständen oder ihr könnt die gedruckte oder die digitale Version auf der DGZ-Webseite bestellen.

Einige von euch können sich noch bestimmt an meine letzte Kolumne erinnern, wo ich erwähnt habe, dass ihr jetzt den Namen des Störers erfahrt. Ich muss zugeben, dass ich den Namen schon ungefähr Ende des vergangenen Sommers gefunden habe.

Nils Enders-Brenner recherchiert immer nach neuen Problemen, die es zu lösen gilt.

Es ist mir bei der abendlichen Laufrunde eingefallen, dass ich den Störer „Poltergeist“ nennen könnte. Das ist mir eingefallen, weil ich am Abend zuvor eine Star Trek Serie, die Neue Generation (4. Staffel, 25. Episode – “In Theory”) angeschaut habe. Dort erwähnte der Schiffskapitän Jean-Luc Picard eine Poltergeist gegenüber seinen Sicherheitsoffizier, als die Gegenstände in seinem Büro ohne Vorwarnung von einer unsichtbaren Kraft umgeworfen worden sind. Diese ähnliche Methode verfolgt der Störer auch, er bringt den Sprecher ohne Vorwarnung aus der Fassung. Der Störer agiert wie ein Poltergeist. Es mag nicht unsichtbar sein, aber es wirkt, wegen seiner unauffälligen runden Form, auf den ersten Blick harmlos.

Gleichzeitig musste ich mich immer wieder ertappen, dass ich so gut wie nie von Poltergeist spreche, wenn ich über den Störer rede. Der Name Störer klingt für mich interessanter und es weckt auch die Aufmerksamkeit anderer, die gleiche Wirkung erzielt das Wort Kommunikationsstörer auch. Ich weiß bis jetzt immer noch nicht, ob ich den Störer „Störer“ oder „Poltergeist“ nennen soll. Vielleicht könnt ihr mir in dieser verzwickten Lage helfen, indem ihr mir eure Meinung äußert.

Wann die nächste Kolumne erscheint, weiß ich noch nicht. Es kann entweder sehr bald kommen oder wieder ein halbes Jahr dauern. Auf jeden Fall möchte ich mich für eure Unterstützung beim Lesen dieser Kolumne herzlich bedanken! Wir sehen uns bei der nächsten Kolumne.


(c) Alle Bilder: Daria Stakhovska 

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