Bessere Zugangsmöglichkeiten zu klimafreundlicher Mobilität beinhalten das Potential, soziale Ungerechtigkeiten ein Stück weit aufzubrechen
In München wurde der öffentliche Nahverkehr seit Mitte Dezember umgestellt – die Zeichen stehen auf einfacher Bedienung für die Nutzer*innen und pendlerfreundliche Bedingungen. Das ist ein wichtiges Signal für diejenigen, die sich auch nach jahrelangem S-Bahn-Haltestelle-Frieren und Entschuldigungen wegen wiederholten Zu-Spät-Kommens – weil die S-Bahn mal wieder 30 Minuten auf sich warten ließ – nicht für die Nutzung eines eigenen PKWs entschieden haben. Die Tarifumstellung verspricht günstigere Preise und bessere Verbindungen, insbesondere für Vielfahrer und damit noch mehr Anreize, das Auto stehen zu lassen oder gar nicht erst zu kaufen. Das ist ein guter Anlass, um sich zu fragen: Wie ungleich gestaltet sich der Zugang zum öffentlichen Nah- und Fernverkehr eigentlich bezüglich dem eigenem Einkommen?
Mobilität ist Voraussetzung für soziale Teilhabe: Ausflüge, Arbeit, Gesundheit, Kultur – das alles findet nicht direkt vor der eigenen Wohnungstür statt, sondern erfordert meist die Nutzung irgendeines Verkehrsmittels, sei es das Fahrrad, ein eigenes oder mit anderen geteiltes Fahrzeug oder der öffentliche Nahverkehr. Dabei birgt ein verlässlicher, für alle leistbarer ÖPNV die Chance, das Mittel der Wahl für alle Menschen unabhängig von Einkommen, sozialem Hintergrund und Lebensstil zu sein – ganz im Zeichen der Effizienz bringt ein Fahrzeug zu festgelegten Zeiten bei jedem Wetter maximal viele Menschen pünktlich zum Ort ihrer Wahl.
Unfair verteilte Gesundheitsrisiken belasten besonders mobilitätsarme Menschen
Die Emissionen aus dem PKW-Verkehr belasten Gesundheit und Klima. Besonders betroffen sind von den Konsequenzen oft Menschen, die durch geringes Einkommen vergleichsweise wenig zu den Emissionen beitragen. Ein Beispiel: Geringverdienende leben durch hohe Mietpreise oft an Stadträndern ( durch hohe Mobilitätskosten bleiben sie dort oft auch.) Dort sind sie den Lärm- und Abgasbelastungen durch Hauptverkehrsrouten an den Pforten der Stadt überproportional ausgesetzt. Somit sind diejenigen, die besonders wenig Zugang zu Mobilität haben, überproportional Schädigungen durch die Mobilität anderer ausgesetzt. Das belegen Zahlen einer repräsentativen Befragung zum Umweltbewusstsein des Umweltbundesamt und des Bundesumweltministeriums: 40 Prozent der Befragten mit niedrigem Einkommen fühlen sich demnach durch Lärm besonders belastet, aber nur 27 Prozent der Befragten mit hohen Einkommen. Auch von Luftverschmutzung fühlen sich Befragte mit niedrigem Einkommen (45 Prozent) deutlich stärker belastet als Menschen mit hohem Einkommen (28 Prozent).
Menschen mit geringen Einkommen wohnen also in Deutschland häufig dort, wo es laut, dreckig und wenig grün ist. Mögliche Langzeitfolgen von dauerhafter Lärm- und Abgasbelastung sind beispielsweise Gehörschäden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und Herzinfarkte.In der Verkehrsökologie nennt man dies „externe Effekte“ – das heißt, Kosten einer individuellen Handlung werden auf die Allgemeinheit, andere Räume oder Zeiten abgewälzt. Von einer Verkehrswende und damit weniger PKW-Verkehr könnten Bewohner*innen an den Stadträndern also direkt gesundheitlich profitieren, indem Lärm und Luftverschmutzung unter ihren Fenstern deutlich reduziert würden.
Auch Belastungen durch Klimaschädigungen treffen global und lokal, derzeit und in Zukunft als erstes diejenigen, die weniger auf ökonomische Resilienz zurückgreifen können: Sie sind es, die Wasserknappheit, Schädigungen durch Unwetter oder Preissteigerungen am stärksten und meist unmittelbar ausgesetzt sind.
Zwang zur Mobilität
Sozialpolitische Maßnahmen wie der Arbeitszwang bei Sozialhilfempfänger*innen verschärfen den Druck zur Mobilität und zwingenteilweise zu kriminalisiertem Verhalten – Schwarzfahren: Von den Hartz-VI-Empfänger*innen wird maximale Flexibilität bei der Arbeitssuche und -aufnahme verlangt, während der finanzielle Preis dafür teilweise schwer zu stemmen ist und mögliche Ausgaben in anderen Bereichen kürzt. Damit erfolgt weitere Ausgrenzung.
Das Münchner Sozialticket ist mit 30 Euro pro Monat eines der günstigeren in Deutschland: Trotzdem lässt die Differenz zur geplanten Hartz-VI-Ausgabe für Mobilität mit 34,95 Euro keine weiteren Ausflüge zu. In Hamburg kostet ein solches ermäßigtes Ticket 66,10 Euro. Dort könnte sich ein Hartz-IV-Empfänger dieses Monatsticket also gar nicht leisten, ohne in anderen Lebensbereichen (noch exzessiver) zu sparen. Um am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, sind bezahlbare, klimafreundliche Optionen für alle nötig.
Besonders im ländlichen Raum gestaltet sich Fortbewegung über weitere Strecken ohne eigenen PKW problematisch, meist unmöglich. Dadurch sind viele Menschen quasi „zwangsmobil“, denn eine Alternative zur Fortbewegung mit dem eigenen Auto ist eine Busverbindung am Tag nicht wirklich, wenn die Bushaltestelle zehn Kilometer entfernt ist.
Aber eine Bereitschaft zum Umdenken ist wohl da: 91 Prozent der Befragten in einer Studie zum Umweltbewusstsein sagen aus, dass das Leben besser werde, wenn der oder die Einzelne nicht mehr auf ein Auto angewiesen ist. Das Auto ist laut Studie nach wie vor das wichtigste Verkehrsmittel in Deutschland. 70 Prozent der Befragten nutzen es mehrmals in der Woche. Je nach Größe des Wohnorts – und damit je nach infrastrukturellen Möglichkeiten – können sich zudem zwischen 46 und 61 Prozent der Autofahrer vorstellen, auf Busse und Bahnen umzusteigen.
Die Frage der Finanzierung
Der öffentliche Verkehr ist teuer und nicht immer zuverlässig – bei einer Befragung des ARD-Deutschlandtrends wünschte sich die Hälfte der Deutschen den Ausbau von Bus- und Bahnlinien, um die Verkehrsprobleme in Deutschland in den Griff zu bekommen. Dafür muss selbstverständlich ein tragfähiges Konzept zur Finanzierung her, das die unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnisse und -belastungen miteinbezieht.
Dabei könnte miteinberechnet werden, wie viel das Autofahren die Allgemeinheit kostet. 180 Euro betragen die Schäden, die bei jeder Tonne ausgestoßenem Kohlendioxid entstehen. Damit verursachte der Kohlendioxidausstoß im Jahr 2016 164 Milliarden Euro Schaden in Deutschland. Umgerechnet würde damit ein Liter Benzin mit CO2-Emissionen von 2,37 kg 0,43 Euro mehr kosten – somit könnte die finanziell aufzubringende Leistung für das Autofahren durch diese Miteinberechnung immens steigen.
Studien des Umweltbundesamtes zeigen, dass Besserverdienende größere Autos besitzen, weitere Strecken fahren und häufiger Fernreisen via Flugzeug antreten. Es besteht also ein direkter Zusammenhang zwischen der Höhe des Einkommens und einem klimaschädlichen Verhalten. Eine Finanzierungsmöglichkeit könnte eine höhere CO2-Steuer im Verkehr sein. Das würde dazu führen, dass Personen, die viel mit dem eigenen PKW fahren oder oft das Flugzeug nutzen, dementsprechend mehr zahlen. Dieses Geld könnte wiederum für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs genutzt werden. Dabei ist aber darauf zu achten, dass diese Steuer nicht Geringverdienende oder wenig verdienende Mittelständler empfindlich trifft – ein Ausblick auf mögliche Auswirkungen ist die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich.
Ausbau des Nahverkehrs
Eine Sorge bei dem Vorstoß, öffentlichen Nahverkehr kostenlos anzubieten, ist eine massive Überlastung des Nahverkehrs. Die Sorge der Überbelastung ist hingegen aber auf vielen Straßen sowohl auf der Stadt als auf dem Land schon lange Realität (Staus, Abgas- und Lärmbelastung für Anwohner*innen, Belastung der Natur) und führt trotzdem ständig zu deren Ausbau. Ganz abgesehen von riesigen Parkplätzen und Straßen, die Quartiere und Landstriche durchtrennen und dadurch massiv einschränken und dem Umbau von öffentlichen Plätzen als Straßen, die Fußgänger und Radfahrer an den Rand drängen.
In Deutschland gilt in der Verkehrspolitik die Parallelfinanzierung: Wenn der öffentliche Nahverkehr ausgebaut wird, wird gleichzeitig in den Ausbau von Möglichkeiten des Individualverkehrs mit dem Pkw investiert. Um aber den öffentlichen Verkehr tatsächlich als attraktivere Option gegenüber dem Individualverkehrs zu etablieren, müssten verkehrspolitische Entscheidungen für den öffentlichen Nahverkehr und gegen den Automobilverkehr getroffen werden. Beispielweise könnten milliardenschwere steuerliche Anreize für die Fahrt mit dem eigenen PKW wie die Pendlerpauschale, das Dienstwagenprivileg und die Dieselbesteuerung dem privaten Autoverkehr entzogen und dem öffentlichen Verkehr übertragen werden.
Einer aktuellen Studie des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen zufolge wurden seit der Bahnreform 1994 rund 150-mal mehr Straßenkilometer als Schienenkilometer gebaut. Wenn Prioritäten dahingehend anders gefällt werden, könnte das einer klimafreundlichen und sozial gerechteren Mobilität zugute kommen.
Mobilität für alle?
Eine Verkehrswende über Nacht ist wegen derzeitig nicht ausreichender Infrastruktur des öffentlichen Nahverkehrs noch nicht möglich. Die Mobilitätsforscherin Sophie Becker etwa schlägt als Übergangslösung eine einkommensabhängige Entfernungspauschale vor. Sie könnte für Geringverdiener, denen die Alternative zum Auto fehlt, auf 40 Cent pro Kilometer steigen, für Haushalte mit hohem Einkommen aber auf 15 Cent pro Kilometer sinken. Das könnte dazu führen, dass diejenigen, die sich das auch unmittelbar leisten könnten, das Auto durch diesen attraktiven Anreiz öfter stehen lassen. Fair wäre das insofern, da Besserverdienende in der Regel häufiger und in größeren Fahrzeugen unterwegs sind und somit durch das Nutzen vom eigenen Pkw dem Klima und der allgemeinen Gesundheit bisher stärker schaden als Geringverdienende.
In Luxemburg wird kostenloser Nahverkehr ab März 2020 Realität: Einerseits, um die Städte leiser, schöner und sicherer zu machen, aber auch, um Mobilität für wirklich alle zu ermöglichen. Dafür sollen Bus oder Bahn zuverlässig und bequem fahren und dabei viel, viel billiger werden, als ins Auto zu steigen. Städte mit besten Verbindungen können somit wiederum mit gutem Gewissen viel Geld fürs Parken oder eine Innenstadt-Maut nehmen. In der estnischen Hauptstadt Tallinn können gemeldete Einwohner*innen schon seit 2013 kostenlos mit Bahn, Bus und Tram fahren. Auch in deutschen Städten wurde Vorstöße in diese Richtung zaghaft angegangen: In Hannover fuhren am ersten Adventssamstag alle kostenlos mit Bus und Bahn. Seit Dezember 2018 sind in Aschaffenburg für einen Zeitraum von zwei Jahren Busse und die Tram an jedem Samstag gratis. In Tübingen ist das gleiche seit Februar 2019 der Fall.
Es ist lohnenswert und dringend notwendig, in öffentlichen Nah- und Fernverkehr zu investieren und damit tatsächlich klimafreundliche und sozial gerechte Politik zu betreiben. Denn: Zugang zu Mobilität darf nicht vom Wohnort, Autobesitz, Gesundheitszustand oder Geldbeutel abhängen. Leistbare und klimafreundliche Mobilität kann mehr Menschen mitnehmen und somit zu einer Verringerung des Umfangs der Schere zwischen Arm und Reich beitragen.