Wie sich die Wirtschaft im Kapitalismus gegenüber seinen natürlichen und gesellschaftlichen Grundlagen verselbstständigt
Die Brände in Australien zum Jahreswechsel von 2019 zu 2020 waren eine ökologische und gesellschaftliche Katastrophe. Milliarden Lebewesen sind den Flammen zum Opfer gefallen und die Natur hat immense Schäden genommen. Die Angst, dass die dortigen Ökosysteme dauerhaft aus dem Gleichgewicht geraten, scheint berechtigt. Und zu der Dürre, die die Brände begünstigt hat, kamen gleichzeitig noch weitere, durch den Klimawandel ausgelöste Extremwetterereignisse wie Starkregenfälle und Überschwemmungen hinzu. Australien gehört damit zu den Industrieländern, die bereits jetzt am stärksten vom Klimawandel betroffen sind. Paradoxerweise gehört das Land auch zu den größten Verursachern des Klimawandels. Australien ist der zweitgrößte Exporteur von Steinkohle weltweit. Wenn die Verschmutzung durch diese Exporte berücksichtigt werden, ist das Land laut einer Studie der Australian Conservation Foundation mit seinen nur 25 Millionen Einwohnern für fünf Prozent der globalen Emissionen verantwortlich. Der Abbau von fossilen Brennstoffen geht dabei keineswegs zurück, sondern werden weitere Investments in den Abbau getätigt, darunter auch von deutschen Konzernen. Sowohl Wirtschaftsunternehmen als auch die Politik in Canberra weigern sich aber diesen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, der hier so nah wie selten zusammentrifft, anzuerkennen und zu bekämpfen. Stattdessen blockiert die australische Regierung zusammen mit den USA und Brasilien internationale Klimaübereinkommen, wie zuletzt in Madrid 2019. Und mit dem Ende der Feuerstürme fand bisher kein Umdenken statt.
Zwangsläufig stellt sich hier die Frage, wie die Politik und die Wirtschaft in Australien und in den anderen Industrieländern angesichts dieser Zerstörungen wie gewohnt weitermachen können. Denn der Raubbau an der Natur kommt einer gesellschaftlichen und ökologischen Selbstzerstörung gleich. Um eine Antwort darauf zu finden, warum dies so ist, wird in den vergangenen Jahren oft ein Klassiker der Wirtschaftssoziologie herangezogen, der aber nichts von seiner Aktualität verloren hat: Der österreich-ungarische Wirtschaftshistoriker und Soziologe Karl Polanyi lieferte bereits 1944 in seinem Hauptwerk „Die Große Transformation“ einen Erklärungsversuch für diesen selbstzerstörerischen Mechanismus. Er konstatiert hier, dass sich die Wirtschaftsordnung im kapitalistischen System in einem Langzeitprozess gegenüber seinen natürlichen und gesellschaftlichen Grundlagen verselbstständigt und sozialen Kontrollmechanismen entzogen hat. Zu dieser „Entbettung“ der Wirtschaft kam es während der Industriellen Revolution durch langfristige und tiefgreifende Eingriffe der politischen Eliten, so dass am Ende der großen Transformation nicht mehr die Gesellschaft die Ökonomie, sondern umgekehrt die Ökonomie die Gesellschaft bestimme.
Gesellschaftliche Einbettung der Wirtschaft
Doch wie sah es zuvor aus? In allen vormodernen Gesellschaftsordnung war die Wirtschaftsordnung durch soziale Beziehungen und Institutionen geordnet. So gab es laut Polanyi weder bei den frühen Hochkulturen der Antike, noch im feudalen Mittelalter oder dem Merkantilismus der frühen Neuzeit die Idee eines Marktes, der von Politik oder Gesellschaft unabhängig war. Stattdessen waren die Wirtschaftssysteme dieser Zeit stets Produkte der sozialen Strukturen, was er als „Einbettung“ der Wirtschaft in die Gesellschaft bezeichnet. Polanyi unterscheidet hier zwischen drei Wirtschaftsformen, die oft nebeneinander und nicht immer klar zu unterscheiden in Gesellschaften auftraten:
- In redistributiven Systemen werden Produktion und Handel von einer zentralen Einheit wie einem Stammesführer, einem Feudalherrn oder einer Zunft gesteuert. Diese verteilen dann die Erträge an die Mitglieder ihrer Gesellschaft, wodurch die eigene Stellung legitimiert wird.
- In einem reziproken System basiert der Austausch von Gütern auf dem wechselseitigen Austausch von Gaben und Geschenken zwischen sozialen Einheiten. Der gegenseitige, oft ritualisierte Austausch verfestigt die sozialen Beziehungen und hält diese aufrecht. Das Verhältnis zwischen den einzelnen sozialen Einheiten ist dabei nicht notwendigerweise egalitär, sondern durch komplexe Hierarchien und gegenseitige Abhängigkeit von mehr als zwei Gruppen gekennzeichnet. Dabei sind auch Fälle bekannt, in denen es zur Herausbildung von zirkulären Wirtschaftssystemen in Form von Tauschringen kam.
- Als Haushaltssysteme werden Wirtschaftsformen bezeichnet, in denen die Produktion auf einzelne mehr oder weniger autarke Haushalte konzentriert ist. Familieneinheiten produzieren die Nahrungsmittel und Güter für ihren eigenen Gebrauch und Konsum, allerdings existiert dies oft als Mischform im Zusammenhang mit den beiden obigen Systemen
Gesellschaftliche Hierarchien schlagen sich in der Wirtschaft nieder und werden so verfestigt und reproduziert. Politik und Wirtschaft sind damit untrennbar miteinander verbunden. Das wird deutlich am Beispiel der mittelalterlichen, feudalen Gesellschaftsordnung, in der adelige Grundherren den Zugang über Land und Ressourcen beherrschten und über die Arbeitskraft ihrer Untertanen und Pächter verfügten. Aus dieser allumfassenden Ordnung gab es kein Emporarbeiten. Den ständischen Kollektiven ging es um den Machterhalt, den einfachen Landbevölkerung um den bloßen Lebensunterhalt. In ihrem wirtschaftlichen Handeln waren die einfachen Landbewohner damit unfrei, genauso wie in ihren gesellschaftlichen Positionen.
Neben diesen, die Wirtschaft ordnenden Prinzipen gab es aber auch immer Handel nach Marktmechanismen, also der Preisbildung durch Angebot und Nachfrage. Dies trifft insbesondere zu, wenn Waren mit Menschen außerhalb der eigenen Gesellschaft gehandelt wurden, die nicht selbst produziert werden konnten, was insbesondere auf den Fernhandel zutrifft.
Die Entbettung der Wirtschaft und Verselbstständigung gegenüber der Gesellschaft
Während alle vorherigen Gesellschaften auf der Welt in diese drei Wirtschaftsordnungen eingeordnet werden konnten, verortet Polanyi den Beginn des modernen Wirtschaftssystems nach dem Marktprinzip im Großbritannien zur Zeit der industriellen Revolution. Hier kommt es im 17. und 18. Jahrhunderts zu einem Umbruch, der zunächst einmal ein politischer ist. Das englische Parlament, in dem immer mehr niederer Adel vertreten war, entriss der Krone zunehmend die Macht, so dass die feudale Gesellschaftsordnung zu bröckeln begann und im Zuge der Aufklärung das Individuum gegenüber der ständischen Gesellschaft hervortrat. Wurde zuvor die ständische Ordnung als gottgegeben betrachtet, stand nun die Suche nach Naturgesetzen im Vordergrund, die auf die menschlichen Gesellschaften übertragen wurden.
Das englische Parlament erlaubte es den Grundherren zunehmend, das vorher von der Landbevölkerung gemeinschaftlich bewirtschaftete Land, die Allmende, einzuhegen und den Pächtern und abhängigen Bauern ihr Land wegzunehmen. Gleichzeitig wurde die Landbevölkerung aus ihrer Abhängigkeit befreit und die Freizügigkeit beschlossen – allerdings bei alternativloser Streichung der Armenfürsorge.
Für die wohlhabenden Landbesitzer fiel damit die Verpflichtung weg, für die Untertanen zu sorgen und aus den vielen verpachteten Kleinbetrieben wurden landwirtschaftliche Großbetriebe. In diesen wurde dann die weitaus profitablere Viehhaltung betrieben, wodurch aber die Kleinbauern zum Stillen ihres Lebensunterhaltes keinen Ackerbau mehr betreiben konnten. Dies wurde im Rückblick als eine „Revolution der Reichen gegen die Armen“ bezeichnet, weil die Landbevölkerung die Mittel verlor, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Hunger, Armut und Verelendung trieben dann weite Teile der Bevölkerung in die wachsenden Städte der beginnenden Industrialisierung sowie in die Lohnarbeit. Diese Einführung eines freien Arbeitsmarktes kommt in erster Linie durch den Zwang zur Lohnarbeit infolge der fehlenden Möglichkeiten zur Selbstversorgung zustande. Vor diesem Hintergrund kommt es nun zu drei bedeutenden Veränderungen:
- Die Herausbildung einer scheinbaren Trennung zwischen einer Sphäre der Wirtschaft und einer der Politik. Die Marktwirtschaft wird dabei als ein sich selbst regulierender, freier Mechanismus betrachtet, der festen Gesetzmäßigkeiten folgt. Eine politische Einmischung in diese freie Entfaltung des Marktes wird als Störung betrachtet. Dabei wird allerdings außen vorgelassen, dass diese Trennung zwischen Politik und Wirtschaft selbst das Ergebnis eines politischen Prozesses ist. Nur durch einen erstarkenden Nationalstaat und heftige Einschnitte in die sozialen Strukturen war es möglich, die feudale und merkantile Ordnung niederzureißen und eine scheinbar freie Marktwirtschaft zu kreieren und aufrechtzuerhalten.
- Mit der Vorstellung eines den Naturgesetzen folgenden Marktes kommt es nach Polanyi auch zu einem „emotionalen Glauben an die Spontaneität“ des Marktes und der Veränderung der ökonomischen Mentalität der Menschen hin zu einem scheinbar rationalen, Nutzen maximierenden Kalkül. Dies führt auch zur wirkmächtigen Entstehung des Mythos des Homo Oeconimicus, der arbeitet, um seinen Nutzen zu maximieren und nicht mehr, um sich in die soziale Ordnung einzufügen.
- Arbeit, Boden und Geld wurden in zunehmenden Maße kommodifiziert, also zu Waren gemacht, die nach Angebot und Nachfrage am Markt gehandelt werden. Im Gegensatz zu anderen Waren, die durch menschliche Arbeit für den Verkauf hergestellt werden, nehmen diese drei Dinge aber eine Sonderrolle ein: Sie bilden vielmehr die Vorstufe jeder wirtschaftlichen Aktivität. Polanyi nennt diese deswegen „fiktive Waren“. Aber insbesondere Arbeit und Boden sind noch viel mehr: „Arbeitskraft und Boden bedeutet nichts anderes, als die Menschen selber, aus denen jede Gesellschaft besteht, und die natürliche Umgebung, in der sie existiert“ – sie stellen damit die Grundlage einer jeder Gesellschaft dar. Werden sie in den Marktmechanismus mit einbezogen, heißt das, dass die Substanz der Gesellschaft den Gesetzen des Marktes selbst untergeordnet wird.
Diese drei Veränderungen sorgten laut Polanyi dafür, dass sich die Gesellschaft, ausgehend von Großbritannien, in der titelgebenden „großen Transformation“ in eine Marktgesellschaft, verwandelt hat. In dieser bestimmt nicht mehr die Soziale Ordnung die Wirtschaft, sondern der Marktmechanismus die Gesellschaftsordnung. Diese verselbstständigte und entbettete Wirtschaft ist gemäß Polanyi der Grund, warum sich der moderne Kapitalismus in einen Mensch und Umwelt zerstörenden Modus begeben hat:
„Wenn man den Marktmechanismus als ausschließlichen Lenker des Schicksals der Menschen und ihrer natürlichen Umwelt […] zuließe, dann würde das zur Zerstörung der Gesellschaft führen.“
Was bringt uns dieses Wissen?
Karl Polanyis „Große Transformation“ ist eine historische Analyse, anhand der sich nachvollziehen lässt, wie es zur Herausbildung der modernen Marktgesellschaft kam. Wichtig dabei ist, dass Polanyi den Marktmechanismus, also die Preisbildung nach Angebot und Nachfrage, nicht per se kritisiert, sondern die Entbettung der Wirtschaft und den Verlust der politischen und sozialen Kontrolle. Um also den gegenwärtigen, umwelt- und gesellschaftszerstörenden Mechanismus der globalen Marktwirtschaft zu beenden, ist es daher nötig, die politische und soziale Kontrolle über die Wirtschaft wieder herzustellen. Zentral dabei ist es, besonders den Zugang zu den von Polanyi als fiktive Waren bezeichneten Grundlagen der Gesellschaft anders zu gestalten und in besonderen Märkten neu zu organisieren, um sie wieder zum Wohle der Gesellschaft in den Dienst zu nehmen. Dies trifft insbesondere auf das Gut Boden zu, womit die ganze Umwelt gemeint ist und das vor allem auch die Rechte zur Extraktion und Gewinnung von Ressourcen aus der Natur betrifft.
In der gegenwärtigen Diskussion um Nachhaltigkeit wird regelmäßig wieder auf Polanyi verwiesen. So steht etwa das Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) von 2011 unter dem Namen „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“. Darin wird die Notwendigkeit einer post-fossilen Wirtschaftsweise betont und Möglichkeiten hin zu einer Wende zur Nachhaltigkeit aufgezeigt. Dieses Gutachten ist ein zentraler Referenzpunkt für die deutschsprachige Nachhaltigkeitsdebatte und lehnt sich mit ihrem Transformationsverständnis in zentraler Stelle an Polanyi an. Doch das Gutachten ist in seinem Transformationsverständnis weitaus weniger radikal – es schweigt dazu, wie sich der gegenwärtige Kapitalismus gegenüber dessen gesellschaftlichen und natürlichen Grundlagen verselbstständigt hat. Doch für eine Überwindung des selbstzerstörerischen Zustands des Wirtschaftssystems wäre die Anerkennung dieses Zusammenhangs elementar.
(c) Alle Bilder: Wikimedia Commons. Beitragsbild: Coalbrookdale at night. Ölgemälde von Philipp Jakob Loutherbourg d. J.