Demokratieerfahrungen und Selbstwirksamkeit stärken
Wie entsteht Demokratie? Wie bildet sich demokratisches Bewusstsein? Welche Erfahrungen wie Ausgrenzung oder Wertschätzung führen zu welchen Handlungen in einer Demokratie? Bildung ist ein entscheidender Faktor für spätere politische Biographien, Haltungen und Werte – durch Erfahrungen, die in der Kindheit und Jugend gesammelt werden, wird das Vertrauen in demokratische Ordnung und die eigene Relevanz in dieser entscheidend geprägt.
Dafür spielen Lebenswelten der Umgebung, der Nachbarschaft und des Alltags von Lernenden eine tragende Rolle und müssen ernst- und wahrgenommen werden. Schulen sind dabei ein wichtiger Ort des Lernprozesses, aber auch andere Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche ihre freie Zeit verbringen, sind prägend. Meist werden diese Orte, Einrichtungen und Institutionen von Erwachsenen geleitet und spiegeln auch deswegen deren Erfahrungen und Vorstellungen wider.
Emotionen, Ideen und Interessen von Kindern und Jugendlichen brauchen Raum. Aber welche Möglichkeiten haben Kinder und Jugendliche dazu? Welche Räume können sie für sich nutzbar machen? Wie können sie in der Öffentlichkeit ihre Realitäten sichtbar machen?
Im Folgenden werden Projekte vorgestellt, die es Kindern und Jugendlichen ermöglichen, unterschiedliche Szenarien im Bereich Ökonomie, Politik und Gesellschaft zu erproben, um in diesen Bereichen auch in der realen Welt verantwortungsvoll zu agieren. Erfahrungen über eigenmächtiges Handeln und dessen Konsequenzen sind maßgeblich prägend für das Verständnis und eine konstruktive Interaktion mit gegebenen Umwelten und Umständen.
Greater form – Projektraum für kulturelle Teilhabe in Leipzig-Grünau
Die Projektgruppe greater form möchte Kinder und Jugendliche dazu ermächtigen, selbstbestimmt Verantwortung für sich und ihren Lebensraum zu übernehmen. Seit 2015 forschen sie mit Kindern und Jugendlichen der Großwohnsiedlung Leipzig-Grünau zum Leben und Erleben im Stadtteil, in dem sich Herausforderungen unserer Zeit wie Verdrängungsmechanismen, prekäre Arbeitsbedingungen und erhebliche Lohnunterschiede oft sehr verdichtet darstellen.
Greater forms Ansatz basiert auf Teilhabe. Das Projektexperimentiert mit prozessoffenen Formen der Kollaboration. Im Leipziger Stadtteil Grünau, der oft als sozialer Brennpunkt wahrgenommen wird, organisiert die Gruppe Austellungen, Talk-Shows, Videodrehs, einen Ort zum Abhängen und erstellt Publikationen. Die Projekte von greater form bauen inhaltlich und methodisch aufeinander auf, sodass sich über die Zeit eine Eigendynamik entfaltet, in der die Arbeitsphasen länger und die Projekte selbst zusehends freier konzipiert wurden – das ist auch deswegen möglich, weil die Kinder und Jugendlichen immer wieder kommen.
Diese haben mit greater form einen Raum zur Verfügung gestellt bekommen, den sie sich selbst aneignen können. Die Gruppe experimentiert dabei mit der Frage, wie viel Mitbestimmung möglich ist. So kommt es dann auch dazu, dass sich die jungen Teilnehmer*innen dazu entscheiden, sich mit bestimmten Auseinandersetzungen zu gesellschaftlichen Themen, zum Beispiel bei einer geplanten Ausstellung mit Zeichnungen von Erwachsenen aus dem Viertel, nicht zu beschäftigen, oder dazu, von gesammelten Geldern nach einer basisdemokratischen Diskussion Nike-Turnschuhe für alle zu kaufen. Das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden ist dabei stetig ein wechselndes.
Der derzeitige Raum der Gruppe ist wandelbar und kann an einem Tag eine Bühne beinhalten und am nächsten Tag wieder leer geräumt werden. „Das soll ermöglichen, dass wir spontan auf Ideen der Kinder und Jugendlichen reagieren können. Dementsprechend eine Lösung finden, wie wir uns jeweils eine Arbeitssituation einrichten. Von Holzwerkstatt bis Computerbürosituation ist alles möglich“, beschreibt Philipp Rödel, einer der Projektverantwortlichen, in einem Interview mit Sachsen-Fernsehen.
Spielstädte – ein kollektiver Lernort
Mini-München ist ein spiel- und kulturpädagogisches Projekt, mit dem alle zwei Jahre für drei Wochen in München eine Kinderstadt stattfindet. Das Projekt bietet allen Kinder und Jugendlichen unabhängig von Herkunft und Bildungshintergrund eine Fülle an Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten.
Die Kinder und Jugendlichen beleben dabei selbst ihre Stadt, gehen verschiedenen Berufen nach, verhandeln politische Fragen, studieren, treffen sich, gehen einkaufen und essen. Beim ersten Besuch erhalten sie im Einwohnermeldeamt ihren persönlichen Mitspielpass mit den wichtigsten Informationen und Spielregeln. Beim Arbeitsamt werden Jobs und an der Hochschule Studienplätze angeboten. Wer arbeitet oder studiert, kann „MiMüs“ verdienen und damit im Gasthaus essen, ins Kino und Theater gehen, im Supermarkt einkaufen, sich ein Grundstück pachten oder sein Geld auf ein Sparbuch einzahlen. In den letzten Jahren sind viele Spielstadtprojekte in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Dänemark, sogar in Mexiko und besonders in Japan nach dem Vorbild Mini-Münchens entstanden.
Über die sich in den Wochen bildenden Strukturen von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen in der Stadt hinaus wird eigener Gestaltungswille gefördert und Neues denkbar gemacht. Zum Beispiel gründet eine Teilnehmerin in der Warteschlange zum Arbeitsamt ihr eigenes Tattoostudio und beendet es wieder, sobald sie genügend Geld für sich gesammelt und keine Lust mehr hat. Vorgeschlagene Motive, die ihr nicht gefallen, malt sie ihren Kund*innen auch nicht auf. Jeden Tag werden Grenzen und Muster ausgelotet, aufgebaut und wieder verworfen. Die Stadt befindet sich in einem ständigen Balanceakt zwischen dem Aufrechterhalten des regulären Spielbetriebs und einer Offenheit für Aktionen der Unterbrechungen. Damit fungiert die Spielstadt als kollektiver Lernort, sowohl für die Spielleiter*innen als auch für die Spielenden.
Die neue Gesellschaft für bildende Kunst veranstaltete im Januar dieses Jahres den „Spielclub Oranienstraße 25“. Die Idee basiert auf einem der ersten Projekte des Kreuzberger Kunstvereins, dem „Spielklub Kulmer Straße 20a“, der in den 70er Jahren in einer Fabriketage in Schöneberg existierte. Damals sollte explizit eine kapitalismuskritische Spielpraxis mit Kindern aus der Arbeiterklasse entwickelt werden, um ihnen zu mehr Selbstbewusstsein und Ausdrucksfähigkeit in der realen Welt zu verhelfen.
Im aktuellen Projekt geht es vor allem um Fragen zur Kapitalisierung der Stadt. Spielerisch werden dort aktuelle Fragen der Stadtentwicklung behandelt: Mietpolitik, Verdrängung und Teilhabe. Eine Fragestellung ist dabei schon in den Spielverlauf eingebaut: Was passiert, wenn die Häuser nicht mehr zum Wohnen, sondern zum Geldverdienen da sind? Ältere Kinder und Jugendliche kennen Verdrängungsmechanismen der wachsenden, kapitalisierten Stadt bereits von Nachbar*innen oder sind selbst mit ihrer Familie davon betroffen. Sie gründen basierend auf diesen Erfahrungen in der Spielstadt beispielsweise Vereine, um Mieterhöhungen zu bekämpfen. Viele der Kinder freuen sich aber trotz der Implikationen der Spielleiter*innen daran, sehr viel Geld zu horten. Ob diese Aktion die Kinder direkt zu Kapitalist*innen macht, bleibt anzuzweifeln. Der Versuch, den Kindern die Realität der wahren Umstände in einer Stadt beizubringen, wirkt dabei oft umgekehrt auch als Lerneffekt für die Organisator*innen.
Beide Projekte setzen sich dabei auch intensiv mit ebensolchen Fragen auseinander: Welche Werte vermitteln die Umstände der Spielstädte? Was bedeutet es, Spielgeld zu horten? Wie schafft man es, Selbstwirksamkeit und die Rolle der (erwachsenen) Spielleitern zu vereinen? Wer bestimmt, wann und wie das Spiel zu Ende ist?
Die Frage, welche ökonomische Logik in das Geschehen der Städte bereits vorintegriert ist und inwieweit es möglich ist, diese umzudeuten oder manchmal auch aufzuheben, wird in jedem Versuch neu ausgelotet. Teils unangenehme Realitäten wie die Faszination vieler Kinder für Polizei- und Autoritätssymbole oder der Spaß daran, sich tagelang mit dem Taxi herumfahren zu lassen, anstatt das Geld zum Beispiel solidarisch zu teilen, sind dabei nicht auszuklammern. Kinder und Jugendliche haben nicht immer Recht. Dass sie aber auch im Zweifelsfall, wenn sie zum Beispiel Unrecht haben, gehört und ernst genommen werden, schafft erst die Basis für selbstkritische Bewertung des eigenen Verhaltens.
In jedem Fall lernen die Kinder und Jugendlichen, Verantwortung für ein Geschehen zu übernehmen, das sich über mehrere Tage hinweg verändert, verschiedene Grade der Kollaboration und Interaktion bereithält und dadurch einen Handlungsraum eröffnet, in dem eine Stadt in vielen möglichen Strukturen erfahrbar wird. Ein Reservat, das Erwachsene für die Kinder bereithalten, um sich frei bewegen zu können?
Bildungslandschaften entdecken
Im Projekt „Bildungslandschaften“ der Initiative „Schule macht sich“ geht es darum, informelle Orte und Beziehungen als bildungsrelevant zu begreifen und diese auch in den Schulalltag zu integrieren.
Wenn Schulen sich hin zur direkten Nachbarschaft in ihren Stadtvierteln öffnen, können sie eine ganzheitliche Lernwelt für Schüler*innen schaffen: In einem partizipativen Verfahren trägt bei dem Projekt „Bildungslandschaften entdecken“ die gesamte Schulfamilie zur Öffnung der Schule, hin zur Nachbarschaft, bei. Es ist dabei besonders wichtig, dass die Schüler*innen der Schule selbst zur Erschließung von informellen Lernorten beitragen, da sie selbst diese Orte am besten kennen. Somit kann die Schule eine größere Rolle im Stadtteil einnehmen oder sich selbst (informelle) Bildungspartner*innen in den Schulalltag einladen. Damit solche Orte mehr sind als ein Reservat, das Erwachsene für Kinder und Jugendliche bereithalten, sind Verbindungsprojekte wie das von „Schule macht sich“ essentiell.
Wichtig ist der Bezug zu den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen: so kann ein potentieller Ausbildungsbetrieb aus der Nachbarschaft, aber auch ein Bolzplatz Teil einer Bildungslandschaft werden.
Wer ermächtigt wen, was zu tun?
Den vorgestellten Projekten ist gemein, dass Kinder und Jugendliche auch einen Platz – oft eine bestimmte Räumlichkeit – zum Ausprobieren, Experimentieren und auch mal Falsch-Liegen haben. Die demokratischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Umgebungen werden ernsthaft untersucht und Bezüge zur Lebenslage der Beteiligten werden hergestellt.
Kinder und Jugendliche benötigen in jedem Fall eine Öffentlichkeit, in der sie ihre sozialen, kognitiven und emotionalen Fähigkeiten voll entfalten können. Diese Öffentlichkeit kann aber zunächst nur durch Erwachsene hergestellt werden. Dinge und Gegebenheiten müssen darin eine gewisse Offenheit besitzen, um neu besetzt werden zu können. Die Entdeckung und der Gebrauch eigener Ausdrucksmittel befördert die Wirklichkeitsaneignung der Kinder und Jugendlichen.
Das fördert auch die Teilhabe der Kinder und Jugendlichen am öffentlichen Leben. Es muss weiter Ziel sein, die aktive Mitgestaltung am sozialen und kulturellen Leben zu ermöglichen. Dabei ist auch das Nicht-Partizipieren-Wollen eine Entscheidung – wenn das Gegenteilige auch tatsächlich möglich gewesen wäre.
Titelbild: (c) Kultur& Spielraum e.V.