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Das Jahr der Nachhaltigkeit?! – Die wichtigsten Veränderungen 2020

15. Januar 2020 By

Klimaschutz, Mobilität, soziale Gerechtigkeit – 2020 ist das Jahr nachhaltiger Veränderung. Wir stellen wichtige Ereignisse und Themen vor. 

Ach wie schön! Das neue Jahr 2020 gewährt gleich zu Beginn seiner Tage ein bisschen Potential zu mehr Nachhaltigkeit. Jedenfalls dann, wenn man Teil einer Personengruppe ist, die eher zu den Aufheber*innen als zu den Wegwerfer*innen gehört. Zugegeben: Mag dem auch so sein, benötigt es zudem noch einer gewissen Verortung im extremen Flügel der ersten Gattung Mensch. Denn zur Entfaltung dieser Potentiale bedarf es einen Kalender aus keinem geringeren Jahr als 1992. Diese – und das ist nun die gute Nachricht – sind in ihrer Abfolge nämlich exakt identisch mit aktuellen Fabrikaten. Ehrlich gesagt, muss man aber zugegeben, dass es hinsichtlich der aktuellen Herausforderungen, in Sachen Umwelt, Soziales oder Mobilität schon etwas mehr bedarf, als bloß den alten Kalender wiederzuverwenden und ein zweites Mal aufzuhängen.

Kleines Erbe, große Herausforderung

Das neue Jahr und die Menschen, die es gestalten, dürften es dabei nicht leicht haben, dieses gewisse „mehr“ auch zu erreichen. Denn es gibt einiges aufzuholen, was in 2019 versäumt wurde. So haben es etwa die Teilnehmer*innen der letzten UN-Klimakonferenz in Madrid versäumt, klare und verbindliche Verpflichtungen für starken und vor allem mehr Klimaschutz auf den Weg zu bringen. Stattdessen wurde – frei übersetzt – „bekräftigt“, effektive und langfristige Klimaschutzziele und -pläne auf den Weg zu bringen. Symbolpolitik also, während gleichzeitig das Eis der Antarktis sechs Mal schneller schmilzt als noch vor 40 Jahren und die US-amerikanische Regierung den Ausstieg aus dem Pariser Abkommen besiegelt hat. Ebenso katastrophal waren und sind die antisemitischen und rechtsradikalen Terroranschläge, die nun untrennbar mit den Ortsnamen Christchurch und Halle an der Saale verbunden sind. 2020 wird daher zweifelsohne das Jahr, das sich genau damit auseinandersetzen muss; dass aufklären, vereinen und regeln muss.

Der Klimawandel bleibt auch in diesem Jahr eine wichtiges Thema. (c) Grafik/Bild: relaio/Markus Spiske, Datenquelle: ZDF-Politbarometer August, 2019

Klimaschutz auch weiterhin enorm wichtig

Klimaschutz dürfte dabei, wie auch schon 2019, weiterhin von der Allgemeinheit als wichtigstes Problem begriffen werden. Das nicht zuletzt angesichts des verheerenden Ausmaßes der australischen Buschbrände, die maßgeblich die ersten Schlagzeilen des Jahres 2020 geprägt haben. Auch politisch soll 2020 ein Jahr des Klimaschutzes werden. So beschloss die Bundesregierung im vergangenen Jahr einen Haushaltsplan für 2020, in dem das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit insgesamt mit Ausgaben von 2,97 Milliarden Euro planen kann, was eine Erhöhung um 30 Prozent der geplanten Vorjahresausgaben beträgt. Die gestiegenen Aufwendungen sollen unter anderem einen „signifikanten Mehraufwand“ für das Bundesministerium im Zuge der diesjährig anstehenden EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands bilden. Gleichzeitig sieht man darin eine „einzigartige Chance“, umweltpolitische Ziele „im Rahmen laufender Prozesse auf EU-Ebene voranzutreiben und eigene Prioritäten auf die EU-Agenda zu setzen.“ Weiter fallen verstärkt Ausgaben zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Ressourceneffizienz an. Neben diesen und weiteren Haushaltspunkten stehen auch ganz konkret spürbare Veränderungen an.

Deutsche Konsumenten verbrauchen immer weniger Plastiktüten. (c) Grafik: relaio / bag by S. Salinas from the Noun Project, Datenquelle: Gesellschaft für Verpackungsmarktforschung / kunststofftragetasche.info

So soll noch in diesem Jahr ein Gesetzentwurf ein Verbot von Plastiktüten an der Ladentheke durchsetzen. Im Klartext soll es ab diesem Jahr ein Verbot geben über das „Inverkehrbringen von leichten Kunststofftaschen“, die vor allem „dafür konzipiert und bestimmt sind, in der Verkaufsstelle gefüllt zu werden“. Gemeint sind damit Plastiktüten mit einer Wandstärke zwischen 15 und 50 Mikrometern, die meist schon nach einfacher Benutzung im Hausmüll landen. Die Bundesumweltministerin, Svenja Schulze, verspricht sich davon eine Reduzierung von rund 1,6 Milliarden Plastiktüten im Jahr.

Weniger ist mehr

Eine weitere, konkrete Veränderung sind die seit dem 01. Januar 2020, basierend auf einer neuen Verordnung der Europäischen Union, in Kraft getretenen, niedrigeren Grenzwerte für Neuwagen. Diese sinken nun auf 95 Gramm pro Kilometer sowie für kleinere Nutzfahrzeuge auf 145 Gramm CO2 pro Kilometer. Laut EU-Verordnung wird damit der Schadstoff-Ausstoß im Autoverkehr auf ein Level reduziert, mit dem nun „die im Übereinkommen von Paris verankerten Zielsetzungen“ verwirklicht werden.“ Ob das wirklich funktioniert, ist abzuwarten, denn letztlich handelt es sich hier nicht um die tatsächlich maximal erlaubte Emissions-Höchstwerte pro PKW und Nutzfahrzeug, sondern um einen „CO2-Emissionsdurchschnitt“. Konkret bedeutet das, dass ein neu zugelassenes Fahrzeug die angegeben Grenz-Durchschnittwerte durchaus überschreiten darf, solange diese von einem anderen Fahrzeug der sogenannten „EU-Flotte“ eines Automobilherstellers ausgeglichen werden. Buchstäblich gibt es aber trotzdem Grund zum Aufatmen.  Denn mehr als 120 Gramm CO2 darf kein PKW pro Kilometer erreichen, wenn dieser innerhalb der EU eine Neuzulassung erhalten will. Damit das auch wirklich passiert, gibt es ab diesem Jahr neue Messbedingungen für Neuzulassungen. Konkret dürfen die Grenzmesswerte an Stickoxiden unter realen Bedingungen nur das 1,5-Fache der Laborwerte betragen.

Bis 2030 sollen die Abgaswerte von KFZ-Neuzulassungen stark reduziert werden. (c) Grafik/Bild: relaio/Markus Spiske, Datenquelle: Europäische Union    

Verkehr soll aber insgesamt nicht nur umweltfreundlicher, sondern auch günstiger werden. Wer mit der Bahn unterwegs ist, kann sich deshalb seit dem 01. Januar über gesunkene Ticketpreise freuen. Günstiger wird der Preis pro Bahnfahrt aufgrund eines niedrigeren Mehrwertsteuersatzes von nun sieben anstatt 19 Prozent. Hier gibt es jedoch eine Einschränkung. Denn der steuerlich reduzierte Fahrpreis gilt nur für Bahnfahrten mit einer Mindestlänge von 51 Kilometern. Wer beim Pendeln darunter liegt, zahlt also auch weiterhin den gewohnten Preis. Sparen lässt sich dann aber dennoch. Denn auch die Bahncard 25 und 50 werden ab dem 01. Februar rund 10 Prozent günstiger. Eine Bahncard 25 etwa kostest dann anstatt 62 Euro nur noch 55,70 Euro. Günstiger werden zudem die Preise für Streckenzeitkarten, zur Mitnahme von Fahrrädern sowie für die Sitzplatzreservierungen. Die Preissenkungen sind eine direkte Folge des 2019 vorgestellten Klimaschutzpaketes der Bundesregierung, in dem eine Senkung der Fahrpreise auf einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz vorgeschlagen wurde.

Abgase und Rücksichtslosigkeit werden teurer

Gar nicht günstiger, sondern teurer soll hingegen das Reisen mit dem Flugzeug werden. So erhöht sich ab dem ersten April 2020 pro Flugticket die sogenannte Luftverkehrssteuer. Konkret bedeutet dies, dass innereuropäische Flüge zukünftig mit 13,03 Euro besteuert werden, was einer Erhöhung von 5,53 Euro entspricht. Für Flüge mit einer mittleren Distanz bis zu 6.000 Kilometern ist eine Erhöhung um 9,58 Euro auf 33,01 Euro geplant. Wer einen Langstreckenflug in Anspruch nehmen will, muss zukünftig sogar 17,25 Euro mehr Steuern entrichten, was einer Summe von 59,43 Euro entspricht. Mit der Steuererhöhung will die Bundesregierung einen weiteren Eckpunkt ihres Klimaschutzprogramms verwirklichen und mehr Anreize dafür schaffen, auf klimafreundliche Fortbewegungsmittel umzusteigen.

Wer sich nachhaltig fortbewegen will, sollte lieber Bahn fahren. (c) Grafik/Bild: relaio/ Deniz Altin, Datenquelle: Umweltbundesamt

Teurer wird es auch für diejenigen, die auf andere Verkehrsteilnehmer bisher eher weniger Rücksicht genommen haben. Laut einer Gesetzes-Novelle des Bundesverkehrsministeriums soll für das verbotswidrige Zuparken eines Rad- oder Gehwegs in Zukunft anstelle eines Bußgeldes von 20 Euro mindestens 55 Euro fällig werden und in Fällen mit verbundener Behinderung anderer oder Sachbeschädigung zahlt man sogar bis zu 100 Euro und kassiert einen Punkt in Flensburg. Tiefer in die Tasche greifen muss auch, wer keine Rettungsgasse bildet oder mit schweren Kraftfahrzeugen an Kreuzungen schneller als in Schrittgeschwindigkeit abbiegt.

Mehr Zugang bitte

Eine Sache sollte bei all diesen Bestrebungen nicht vergessen werden: Mobilität wird nicht nur besser, indem sie sauberer und sicherer wird, sondern auch indem sie zugänglicher, das heißt, offenerer ist für alle. Das ist bisher leider noch keineswegs der Fall. Nichts anderes lässt sich jedenfalls vermuten, wenn man in Betracht zieht, dass die Preise für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehr, laut dem Statistischen Bundesamt, ab dem Jahr 2000 bis 2018 um ganze 79 Prozent gestiegen sind, während sich die durchschnittlichen Erwerbs- und Unterhaltungskosten für PKW im gleichen Zeitraum lediglich um 36 Prozent erhöhten. Wer in München etwa vom Stadtrand in die Innenstadt pendeln muss, der zahlt, ohne Ermäßigung, für eine Monatskarte mindestens 55,20 Euro pro Monat – nicht selten aber auch mehr. Das ist gefährlich, denn teure Mobilität kommt auch einer Gesellschaft teuer zu stehen. Wer nicht mobil ist, kann weniger an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen – (denn) sie oder er kommt einfach nicht hin.

Seit dem Jahr 2000 haben sich die Kosten zur Nutzung des ÖPNV fast doppelt so stark verteuert, wie die Nutzungskosten für den Individualverkehr. (c) Grafik/Bild: relaio/Peter-Paul Moschik, Datenquelle: Statistisches Bundesamt

Dass Mobilität kein Luxusgut sein darf und eben auch für denjenigen mit schmalen Geldbeutel zugänglich sein sollte, haben jedoch bereits andere erkannt und nun in ersten, konkreten Maßnahmen umgesetzt. In Augsburg etwa können seit dem 01. Januar 2020 Fahrgäste in der sogenannten „City-Zone“ kostenfrei mit Bus und Straßenbahn fahren. In anderen Gegenden Europas wird die Gratisnutzung von Bus, Tram und Co sogar bald zur Ländersache. So kann man ab dem 01. März in ganz Luxemburg alle nationalen, öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, ohne dafür ein Ticket besitzen zu müssen.

Ein maximales Minimum

Gerechter werden soll aber nicht nur der Zugang zu Mobilität, sondern auch die Bezahlung für die eigens erbrachte Arbeit. Man muss nicht Marx gelesen haben, um zu wissen, dass nicht alle eine gerechte Entlohnung ihrer Arbeit erhalten und nicht zuletzt aufgrund von Lohndumping unter prekären Lebensbedingungen ihren Alltag bestreiten müssen (und nicht selten als Folge an eben diesem scheitern) . Um dem einen Riegel vorzuschieben wurde 2014 mit dem „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie“ ein Mindestlohn gesetzlich verankert. Dieser startete 2015 in einer Höhe von 8,50 Euro brutto pro geleisteter Zeitstunde. Nach mehreren Anpassungen wurde dieser ab dem 01. Januar 2020 nun auf 9,35 Euro angehoben. Neu ist ab diesem Jahr auch ein Mindestlohn für Auszubildende: So bekommen diese seit dem 01. Januar mindestens 515 Euro pro Monat im ersten Lehrjahr ausgezahlt.

Erstmals gibt es ab diesem Jahr auch für Auszubildende eine gesetzlichen Mindestlohn. (c) Grafik/Bild: relaio/Imelda, Datenquelle: §1 MiloG

Dass diese Anpassungen notwendig sind dürfte kaum zu bestreiten sein, ob sie hingegen ausreichen, steht auf einen anderen Blatt. In Angesicht der bundesweit stark steigenden Mietpreise, dürften hier berechtigte Zweifel bestehen. Die Folge: Für immer mehr Menschen geht der Großteil ihrer Einkünfte für die eigene Miete drauf, was bei durchschnittlichen Mietpreisen von bald schon 20 Euro pro Quadratmeter in Städten wie München kaum verwundern dürfte. Um das Leben in beliebten Ballungszentren trotz solcher Entwicklungen auch für Menschen ohne hohen Einkommen zu ermöglichen, greift seit dem 01. Januar die von der Bundesregierung initiierte Wohngeldreform. Nach dieser besitzen nun 180.000 Haushalte erstmals oder erneut Anspruch auf ein erhöhtes Wohngeld. Ob diese Anpassungen tatsächlich Gentrifizierung, Armut oder den Klimawandel aufhalten können, wird zu diskutieren sein. In 2020 gibt es dazu zum Glück noch genügend Zeit.


(c) Titelbild: Jon Tyson

Einsteigen, bitte: Wie können Bahn und Bus alle mitnehmen?

8. Januar 2020 By

Bessere Zugangsmöglichkeiten zu klimafreundlicher Mobilität beinhalten das Potential, soziale Ungerechtigkeiten ein Stück weit aufzubrechen

In München wurde der öffentliche Nahverkehr seit Mitte Dezember umgestellt – die Zeichen stehen auf einfacher Bedienung für die Nutzer*innen und pendlerfreundliche Bedingungen. Das ist ein wichtiges Signal für diejenigen, die sich auch nach jahrelangem S-Bahn-Haltestelle-Frieren und Entschuldigungen wegen wiederholten Zu-Spät-Kommens – weil die S-Bahn mal wieder 30 Minuten auf sich warten ließ – nicht für die Nutzung eines eigenen PKWs entschieden haben. Die Tarifumstellung verspricht günstigere Preise und bessere Verbindungen, insbesondere für Vielfahrer und damit noch mehr Anreize, das Auto stehen zu lassen oder gar nicht erst zu kaufen. Das ist ein guter Anlass, um sich zu fragen: Wie ungleich gestaltet sich der Zugang zum öffentlichen Nah- und Fernverkehr eigentlich bezüglich dem eigenem Einkommen?

Mobilität ist Voraussetzung für soziale Teilhabe: Ausflüge, Arbeit, Gesundheit, Kultur – das alles findet nicht direkt vor der eigenen Wohnungstür statt, sondern erfordert meist die Nutzung irgendeines Verkehrsmittels, sei es das Fahrrad, ein eigenes oder mit anderen geteiltes Fahrzeug oder der öffentliche Nahverkehr. Dabei birgt ein verlässlicher, für alle leistbarer ÖPNV die Chance, das Mittel der Wahl für alle Menschen unabhängig von Einkommen, sozialem Hintergrund und Lebensstil zu sein – ganz im Zeichen der Effizienz bringt ein Fahrzeug zu festgelegten Zeiten bei jedem Wetter maximal viele Menschen pünktlich zum Ort ihrer Wahl.

Unfair verteilte Gesundheitsrisiken belasten besonders mobilitätsarme Menschen

Die Emissionen aus dem PKW-Verkehr belasten Gesundheit und Klima. Besonders betroffen sind von den Konsequenzen oft Menschen, die durch geringes Einkommen vergleichsweise wenig zu den Emissionen beitragen. Ein Beispiel: Geringverdienende leben durch hohe Mietpreise oft an Stadträndern ( durch hohe Mobilitätskosten bleiben sie dort oft auch.) Dort sind sie den Lärm- und Abgasbelastungen durch Hauptverkehrsrouten an den Pforten der Stadt überproportional ausgesetzt. Somit sind diejenigen, die besonders wenig Zugang zu Mobilität haben, überproportional Schädigungen durch die Mobilität anderer ausgesetzt. Das belegen Zahlen einer repräsentativen Befragung zum Umweltbewusstsein des Umweltbundesamt und des Bundesumweltministeriums: 40 Prozent der Befragten mit niedrigem Einkommen fühlen sich demnach durch Lärm besonders belastet, aber nur 27 Prozent der Befragten mit hohen Einkommen. Auch von Luftverschmutzung fühlen sich Befragte mit niedrigem Einkommen (45 Prozent) deutlich stärker belastet als Menschen mit hohem Einkommen (28 Prozent).

Menschen mit geringerem Einkommen leben oft an den Rändern von Städten. (c) Pavel Nekoranec

Menschen mit geringen Einkommen wohnen also in Deutschland häufig dort, wo es laut, dreckig und wenig grün ist. Mögliche Langzeitfolgen von dauerhafter Lärm- und Abgasbelastung sind beispielsweise Gehörschäden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und Herzinfarkte.In der Verkehrsökologie nennt man dies „externe Effekte“ – das heißt, Kosten einer individuellen Handlung werden auf die Allgemeinheit, andere Räume oder Zeiten abgewälzt. Von einer Verkehrswende und damit weniger PKW-Verkehr könnten Bewohner*innen an den Stadträndern also direkt gesundheitlich profitieren, indem Lärm und Luftverschmutzung unter ihren Fenstern deutlich reduziert würden.

Auch Belastungen durch Klimaschädigungen treffen global und lokal, derzeit und in Zukunft als erstes diejenigen, die weniger auf ökonomische Resilienz zurückgreifen können: Sie sind es, die Wasserknappheit, Schädigungen durch Unwetter oder Preissteigerungen am stärksten und meist unmittelbar ausgesetzt sind.

Zwang zur Mobilität

Sozialpolitische Maßnahmen wie der Arbeitszwang bei Sozialhilfempfänger*innen verschärfen den Druck zur Mobilität und zwingenteilweise zu kriminalisiertem Verhalten – Schwarzfahren: Von den Hartz-VI-Empfänger*innen wird maximale Flexibilität bei der Arbeitssuche und -aufnahme verlangt, während der finanzielle Preis dafür teilweise schwer zu stemmen ist und mögliche Ausgaben in anderen Bereichen kürzt. Damit erfolgt weitere Ausgrenzung.

Das Münchner Sozialticket ist mit 30 Euro pro Monat eines der günstigeren in Deutschland: Trotzdem lässt die Differenz zur geplanten Hartz-VI-Ausgabe für Mobilität mit 34,95 Euro keine weiteren Ausflüge zu. In Hamburg kostet ein solches ermäßigtes Ticket 66,10 Euro. Dort könnte sich ein Hartz-IV-Empfänger dieses Monatsticket also gar nicht leisten, ohne in anderen Lebensbereichen (noch exzessiver) zu sparen. Um am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, sind bezahlbare, klimafreundliche Optionen für alle nötig.

In vielen ländlichen Regionen gibt es nur werktags Busverbindungen. (c) Jan Huber

Besonders im ländlichen Raum gestaltet sich Fortbewegung über weitere Strecken ohne eigenen PKW problematisch, meist unmöglich. Dadurch sind viele Menschen quasi „zwangsmobil“, denn eine Alternative zur Fortbewegung mit dem eigenen Auto ist eine Busverbindung am Tag nicht wirklich, wenn die Bushaltestelle zehn Kilometer entfernt ist.

Aber eine Bereitschaft zum Umdenken ist wohl da: 91 Prozent der Befragten in einer Studie zum Umweltbewusstsein sagen aus, dass das Leben besser werde, wenn der oder die Einzelne nicht mehr auf ein Auto angewiesen ist. Das Auto ist laut Studie nach wie vor das wichtigste Verkehrsmittel in Deutschland. 70 Prozent der Befragten nutzen es mehrmals in der Woche. Je nach Größe des Wohnorts – und damit je nach infrastrukturellen Möglichkeiten – können sich zudem zwischen 46 und 61 Prozent der Autofahrer vorstellen, auf Busse und Bahnen umzusteigen.

Die Frage der Finanzierung

Der öffentliche Verkehr ist teuer und nicht immer zuverlässig – bei einer Befragung des ARD-Deutschlandtrends wünschte sich die Hälfte der Deutschen den Ausbau von Bus- und Bahnlinien, um die Verkehrsprobleme in Deutschland in den Griff zu bekommen. Dafür muss selbstverständlich ein tragfähiges Konzept zur Finanzierung her, das die unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnisse und -belastungen miteinbezieht.

Dabei könnte miteinberechnet werden, wie viel das Autofahren die Allgemeinheit kostet. 180 Euro betragen die Schäden, die bei jeder Tonne ausgestoßenem Kohlendioxid entstehen. Damit verursachte der Kohlendioxidausstoß im Jahr 2016 164 Milliarden Euro Schaden in Deutschland. Umgerechnet würde damit ein Liter Benzin mit CO2-Emissionen von 2,37 kg 0,43 Euro mehr kosten – somit könnte die finanziell aufzubringende Leistung für das Autofahren durch diese Miteinberechnung immens steigen.

Studien des Umweltbundesamtes zeigen, dass Besserverdienende größere Autos besitzen, weitere Strecken fahren und häufiger Fernreisen via Flugzeug antreten. Es besteht also ein direkter Zusammenhang zwischen der Höhe des Einkommens und einem klimaschädlichen Verhalten. Eine Finanzierungsmöglichkeit könnte eine höhere CO2-Steuer im Verkehr sein. Das würde dazu führen, dass Personen, die viel mit dem eigenen PKW fahren oder oft das Flugzeug nutzen, dementsprechend mehr zahlen. Dieses Geld könnte wiederum für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs genutzt werden. Dabei ist aber darauf zu achten, dass diese Steuer nicht Geringverdienende oder wenig verdienende Mittelständler empfindlich trifft – ein Ausblick auf mögliche Auswirkungen ist die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich.

Ausbau des Nahverkehrs

Eine Sorge bei dem Vorstoß, öffentlichen Nahverkehr kostenlos anzubieten, ist eine massive Überlastung des Nahverkehrs. Die Sorge der Überbelastung ist hingegen aber auf vielen Straßen sowohl auf der Stadt als auf dem Land schon lange Realität (Staus, Abgas- und Lärmbelastung für Anwohner*innen, Belastung der Natur) und führt trotzdem ständig zu deren Ausbau. Ganz abgesehen von riesigen Parkplätzen und Straßen, die Quartiere und Landstriche durchtrennen und dadurch massiv einschränken und dem Umbau von öffentlichen Plätzen als Straßen, die Fußgänger und Radfahrer an den Rand drängen.

Realität auf vielen Straßen zur Rush Hour (c) Alexander Popov

In Deutschland gilt in der Verkehrspolitik die Parallelfinanzierung: Wenn der öffentliche Nahverkehr ausgebaut wird, wird gleichzeitig in den Ausbau von Möglichkeiten des Individualverkehrs mit dem Pkw investiert. Um aber den öffentlichen Verkehr tatsächlich als attraktivere Option gegenüber dem Individualverkehrs zu etablieren, müssten verkehrspolitische Entscheidungen für den öffentlichen Nahverkehr und gegen den Automobilverkehr getroffen werden. Beispielweise könnten milliardenschwere steuerliche Anreize für die Fahrt mit dem eigenen PKW wie die Pendlerpauschale, das Dienstwagenprivileg und die Dieselbesteuerung dem privaten Autoverkehr entzogen und dem öffentlichen Verkehr übertragen werden.

Einer aktuellen Studie des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen zufolge wurden seit der Bahnreform 1994 rund 150-mal mehr Straßenkilometer als Schienenkilometer gebaut. Wenn Prioritäten dahingehend anders gefällt werden, könnte das einer klimafreundlichen und sozial gerechteren Mobilität zugute kommen.

Mobilität für alle?

Eine Verkehrswende über Nacht ist wegen derzeitig nicht ausreichender Infrastruktur des öffentlichen Nahverkehrs noch nicht möglich. Die Mobilitätsforscherin Sophie Becker etwa schlägt als Übergangslösung eine einkommensabhängige Entfernungspauschale vor. Sie könnte für Geringverdiener, denen die Alternative zum Auto fehlt, auf 40 Cent pro Kilometer steigen, für Haushalte mit hohem Einkommen aber auf 15 Cent pro Kilometer sinken. Das könnte dazu führen, dass diejenigen, die sich das auch unmittelbar leisten könnten, das Auto durch diesen attraktiven Anreiz öfter stehen lassen. Fair wäre das insofern, da Besserverdienende in der Regel häufiger und in größeren Fahrzeugen unterwegs sind und somit durch das Nutzen vom eigenen Pkw dem Klima und der allgemeinen Gesundheit bisher stärker schaden als Geringverdienende. 

In Luxemburg wird kostenloser Nahverkehr ab März 2020 Realität: Einerseits, um die Städte leiser, schöner und sicherer zu machen, aber auch, um Mobilität für wirklich alle zu ermöglichen. Dafür sollen Bus oder Bahn zuverlässig und bequem fahren und dabei viel, viel billiger werden, als ins Auto zu steigen. Städte mit besten Verbindungen können somit wiederum mit gutem Gewissen viel Geld fürs Parken oder eine Innenstadt-Maut nehmen. In der estnischen Hauptstadt Tallinn können gemeldete Einwohner*innen schon seit 2013 kostenlos mit Bahn, Bus und Tram fahren. Auch in deutschen Städten wurde Vorstöße in diese Richtung zaghaft angegangen: In Hannover fuhren am ersten Adventssamstag alle kostenlos mit Bus und Bahn. Seit Dezember 2018 sind in Aschaffenburg für einen Zeitraum von zwei Jahren Busse und die Tram an jedem Samstag gratis. In Tübingen ist das gleiche seit Februar 2019 der Fall.              

Es ist lohnenswert und dringend notwendig, in öffentlichen Nah- und Fernverkehr zu investieren und damit tatsächlich klimafreundliche und sozial gerechte Politik zu betreiben. Denn: Zugang zu Mobilität darf nicht vom Wohnort, Autobesitz, Gesundheitszustand oder Geldbeutel abhängen. Leistbare und klimafreundliche Mobilität kann mehr Menschen mitnehmen und somit zu einer Verringerung des Umfangs der Schere zwischen Arm und Reich beitragen.

Von der Plastiktüte und dem Meer

11. Dezember 2019 By

Plastikmüll führt ohne Zweifel zu globalen Umweltschäden. Wer sinnvoll etwas dagegen unternehmen will, sollte mehr betreiben als reine Symbolpolitik.

Mit Plastik ist das so eine Sache. So bestechend die Vorteile von diesem Netz aus Polymeren auch sind, genauso verpönt ist mittlerweile dessen Verwendung geworden. Aber der Reihe nach: Zunächst einmal scheinen die positiven Eigenschaften von Kunststoffen zu bestechen. So sind sie sich für kaum eine Form zu schade und der Energieverbrauch während ihrer Herstellung ist nicht selten weniger hoch als so manche, vermeintlich nachhaltigere Alternative. Verkörpert werden diese scheinbaren Vorteile nicht selten etwa von der allbekannten Plastiktüte.

Aber ihre niedrigen Herstellungskosten, ihre leichte Verarbeitungsweise und ihre relative Langlebigkeit macht sie gleichzeitig zu einem Problem. Denn die Plastiktüte scheint fast schon ein bisschen zu beständig zu sein. Denn so ein Trageutensil braucht Jahrzehnte, bis es sich zu zersetzen beginnt und nicht selten landet es dort, wo es nicht hingehört: in der Natur. So wurde bereits 2010 in einer Studie der University of Georgia geschätzt, dass jährlich circa 4,8 bis 12,7 Millionen Tonnen an Kunststoffen in die Weltmeere gelangen und diese sich, im Falle eines weiterhin nachlässigen Umgangs mit Abfällen, bis 2025 auf insgesamt rund 250 Millionen Tonnen anhäufen werden. Die Studie besagt aber auch, dass sich dieser monströse und schwimmende Müllteppich um viele Millionen Tonnen reduzieren lässt.

Die Langlebigkeit von Kunststoffen bietet keineswegs nur Vorteile.  Grafik: PLASTIKATLAS | Plastikatlas 2019 / Nature, CC BY 4.0

So ließe sich die Größe dieses Müllbergs um 41 Prozent reduzieren, wenn die Top-20 der Länder mit dem größten Anteil ins Meer fehlgeleiteter Kunststoffe diese um 50 Prozent senken würden. Aber was hat das nun alles mit der Plastiktüte zu tun? Eine ganze Menge! Denn die wichtigste Erkenntnis der Studie besteht wohl darin, dass Plastik keineswegs ein nebensächliches Problem der Weltgemeinschaft ist, aber auch darin, dass in Plastikmüll ein Problem besteht, das sich eindämmen lässt, indem man nachhaltige Strategien zur Müllverwertung, samt passender Infrastruktur etabliert und noch viel besser: gar nicht mehr derart viel davon hinterlässt.

Ein guter Trend

Gerade bei Letzteren will die Bundesregierung nun etwas unternehmen und hat dafür einen neuen Gesetzesentwurf für weniger Plastikmüll und mehr Umweltschutz auf den Weg gebracht. Genauer sieht der Gesetzesentwurf vor, ein „Verbot des Inverkehrbringens von leichten Kunststofftaschen“ durchzusetzen, die vor allem „dafür konzipiert und bestimmt sind, in der Verkaufsstelle gefüllt zu werden“. Gemeint sind damit Plastiktüten mit einer Wandstärke von weniger als 50 Mikrometern, die meist nur einfach genutzt werden und nicht allzu selten nach dem Einkauf, zusammen mit dem anderen Verpackungsabfall, direkt in der Mülltonne landen. Immerhin benutzt laut Bundesumweltministerium jede*r Deutsche*r noch rund 20 solcher Tüten pro Jahr, was laut der Bundesumweltministerin Svenja Schulze eine jährliche Gesamtsumme von 1,6 Milliarden Plastiktüten ausmacht. Plastiktüten sind, laut Schulze, deshalb „der Inbegriff der Ressourcenverschwendung“ deren Aufkommen sie nun mit einem Verbot auf Null runterfahren will.

Deutsche Konsumenten verbrauchen immer weniger Plastiktüten. Grafik: relaio / bag by S. Salinas from the Noun Project, Datenquelle: Gesellschaft für Verpackungsmarktforschung / kunststofftragetasche.info

Das klingt ziemlich gut. Genauso gut wie der sich abzeichnende Trend eines geringeren Verbrauchs von Plastiktüten pro Kopf und Jahr. Waren es 2015 noch etwa 68 Stück, belief sich dieser 2018 nur noch auf 24 Stück – ein Rückgang von knapp 65 Prozent. Diese Rückläufigkeit ist vermutlich das Ergebnis der „Vereinbarung zur Verringerung des Verbrauchs von Kunststofftragetaschen“ zwischen Umweltministerium und dem Handelsverband Deutschland, die 2016 initiiert wurde und nun mit einem gesetzlichen Verbot weiter vorangebracht werden soll. Vereinbart wurde dabei etwa, dass Plastiktüten nicht mehr kostenlos über die Ladentheke gehen dürfen.

Umweltschutz ist keine Frage der Relevanz

Aber reicht das, was gut klingt, auch wirklich aus, um die Probleme mit dem Plastikmüll nachhaltig zu bekämpfen? Anders gefragt: Kann ein Verbot von Plastiktüten überhaupt etwas bewirken, um die schwimmenden Müllberge in den Weltmeeren zu reduzieren? Manche sind der Meinung, man müsse sich diese Frage erst gar nicht stellen. So ist der AfD-Bundestagsabgeordnete und Mitglied im Umweltausschuss, Andreas Bleck der Meinung: „Plastikabfälle, die eingesammelt und verwertet werden, stellen kaum oder keine Probleme für die Meere dar“. Dass der ganze Plastikmüll überhaupt ein Problem für die Weltmeere sei, liege „vornehmlich an afrikanischen und asiatischen Staaten, die weltweit zu den größten Verursachern gehören.“ Letztendlich hätte eine „fehlende Sensibilisierung der dortigen Bevölkerungen für die Umwelt“, dazu geführt, das Müll unachtsam in die dortigen Flüsse geworfen werde, somit in die Meere gelange und letztlich zu einem globalen und deshalb auch zu einem Problem hierzulande werden würde.

Deutschland gehört zu größten Produzenten von Kunststoffabfällen. Grafik: PLASTIKATLAS | Plastikatlas 2019 / Greenpeace, CC BY 4.0

Solche Behauptungen wollen nur allzu gerne die Verantwortung für die Zerstörung der eigenen Umwelt an das andere Ende der Welt schieben. Ihnen liegt der Denkfehler zu Grunde, dass man selbst keine Schuld an der Misere hat. Denn vergessen wird dabei, dass der Plastikmüll in Asien laut dem Plastikatlas 2019, der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) zu großen Teilen hierzulande verursacht wurde. So ist laut Studie Deutschland der drittgrößte Exporteur von Plastikmüll nach Asien – direkt hinter den USA und Japan. Genau genommen, verbrachte Deutschland allein 2018 etwa eine Millionen Tonnen Plastikabfälle ins Ausland. Hierzulande könnte das Bewusstsein im Umgang mit Plastikmüll demzufolge auch besser sein. Letztlich fielen laut Eurostat in Deutschland allein im Jahr 2017 pro Person etwa 38,36 Kilogramm Verpackungsmüll an. Insgesamt lag im gleichen Jahr die Summe aller Kunststoffabfälle, die in Deutschland nach Gebrauch im gewerblichen und haushaltsnahe Bereichen anfielen, bei rund 5,2 Millionen Tonnen. Laut dem Plastikatlas 2019 wurden davon gerade einmal 810.000 Tonnen wiederverwertet, was lediglich einem Anteil von 15,6 Prozent des genannten Gesamtmüllaufkommens ausmacht. Der Großteil weiterer Kunststoffabfälle wurde verbrannt – ganze 3,15 Millionen Tonnen.

Zuviel Plastikabfälle werden verbrannt oder verschifft. Grafik: PLASTIKATLAS | Plastikatlas 2019 / CONVERSIO, CC BY 4.0

Das Bewusstsein ist entscheidend

Ob ein Verbot der Plastiktüte solche Summen reduzieren kann scheint zunächst fraglich zu sein. So verweist das Bundesumweltamt auf die Zahlen einer weiteren Studie, nach denen der Plastiktütenanteil am Gesamtvolumen des jährlichen Kunststoffmülls nicht einmal ein Prozent ausmacht. Selbst wenn nur der Kunststoffmüll aus Folienprodukten betrachtet wird, ist der Anteil an Plastiktüten, genauer genommen an Polyethylen (PE) – das für die Herstellung von Plastiktüten oftmals Verwendung findet – kaum höher als sechs Prozent. Erschwerend kommt hinzu, dass sich das gesetzliche Verbot der Tragetaschen nur auf solche mit einer Folienstärke von 15 bis 50 Mikrometern bezieht. Im Klartext heißt das: Die deutlich dünneren Obst- und Gemüsetüten sowie die deutlichen dickeren Mehrwegtaschen, dürfen auch weiterhin in den Verkehr gebracht werden. Wenn man diese verbieten würde, so Umweltministerin Schulze, dann würden etwa „Birnen wieder in kleineren Gebinden verpackt werden“ und das „würde zu mehr Verpackungsabfall führen.“ Auch bei den dickeren Kunststoffmehrwegtüten, sieht man keine Notwendigkeit zum Verbot, denn „die Zukunft ist eindeutig Mehrweg“, so Schulze. Nicht zuletzt weil recycelte Kunststoffe so nicht im Müll landen, sondern einer sinnvollen Wiederverwendung zugeführt werden.

Das mag zwar plausibel erscheinen, dennoch schafft es der Gesetzesentwurf aber kaum über das Wesen von Symbolpolitik hinaus. Denn ist ein Verbot zwar gut gemeint, bleibt es inkonsequent. Nicht nur weil Deutschland trotz dessen auch weiterhin einen Spitzenplatz in der Plastikmüllerzeugung einnimmt, sondern auch, da die beworbenen Alternativen oftmals gar keine sind. So muss die nun vielerorts angebotene Papiertüte im Vergleich zu einer einmaligen Nutzung der bald verbotenen Plastiktüte vier Mal so häufig verwendet werden, damit sie eine bessere Ökobilanz als diese besitzt.

Kunststoffe sind ein wesentlicher Bestandteil des an Meeresküsten angespülten Mülls. Grafik: PLASTIKATLAS | Plastikatlas 2019 / EC, CC BY 4.0

Das schafft sie aber aufgrund ihrer mangelnden Strapazierfähigkeit meist gar nicht.Das spricht jedoch keineswegs für die Plastiktüte, sondern für einen anderen Umgang mit vorhanden Ressourcen und somit für ein stärkeres Umweltbewusstsein. Eines bei dem, soweit wie es geht, auf Kunststoffe aller Art verzichtet wird und vielleicht wieder eine Stofftüte zum täglichen Einkauf ganz selbstverständlich dazu gehört. Ganz sicher aber wird es dem Meer gut tun. So gibt es zwar keine genauen Zahlen darüber, wieviel Plastiktüten tatsächlich in die Weltmeere gelangen, jedoch ergeben wissenschaftliche Beobachtungen, dass Kunststoffe den größten Anteil des an Küsten angeschwemmten Mülls ausmachen – nicht zuletzt aufgrund der dabei gefundenen Tragetaschen. Zeit also, Abschied zu nehmen.

Shoppen für eine bessere Welt

15. November 2019 By

Das Fairtrade-Siegel: Kann man den Ansprüchen an wirtschaftliches Wachstum, Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit im landwirtschaftlichen Anbau genügen?

Nachhaltiger Konsum liegt im Trend – auch auf Instagram muss man sich mit den entsprechenden Follower*innen schnell mal für den Avocado-Konsum rechtfertigen. Während zunehmend viele Konsument*innen Aspekte wie Regionalität, Saisonalität und den Einsatz von Pestiziden im Blick haben, wird die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit im Anbau nicht mehr ganz so oft gestellt. Weltläden wirken heutzutage etwas folkloristisch und passen damit nicht ganz zum hip-minimalistischen Zeitgeist.

Dabei werden Fairtrade-Produkte, die man inzwischen außer in den Weltläden auch in unterschiedlichsten Supermärkten findet, noch immer stark befürwortet: In einer Studie des Magazins Utopia gaben 81 Prozent der Befragten an, dem Fairtrade-Siegel zu vertrauen. Laut dem Netzwerk Forum Fairer Handel stammt heute jede zwanzigste Tasse Kaffee in Deutschland aus fairem Handel und 14 Prozent der in Deutschland verkauften Bananen sind schon Fair-Trade-Produkte. Zu Fairtrade-zertifizierten Produkten zählen im Bereich der Lebensmittel Kaffee, Bananen oder Kakao – also Produkte, die aus dem außereuropäischen Ausland bezogen werden können, aber auch Gewürze, Milch oder Schnittblumen.

Durchschnittlich 12 Kilo Bananen isst jede*r Deutsche* im Jahr.

Was steckt hinter der Zertifizierung?

Kleinbäuer*innen in Entwicklungsländern sind aufgrund mangelnder Infrastruktur, geringen Absatzmengen und fehlendem Zugang zu Informationen über das Marktgeschehen größtenteils vom Welthandel ausgeschlossen. Um die Produkte überhaupt verkaufen zu können, müssen sie sich oft in ein Abhängigkeitsverhältnis von Zwischenhändler*innen, die mitunter die einzige Informationsquelle über beispielsweise den Marktpreis sind, begeben.

Die Grundidee beim Fairen Handel ist also die Etablierung von Produzent*innen als gleichberechtigte Akteur*innen im Welthandel. Die Importorganisationen sind somit für die Einhaltung der Standards sowie die Organisation vom Import in die Konsumentenländer verantwortlich

Das Konzept des fairen Handels orientiert sich am Modell der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit: Ökologie – demErhalt von Natur beziehungsweise Ökosystemen für nachfolgende Generationen, Ökonomie – dem verantwortungsvollen Umgang mit wirtschaftlichen Ressourcen mit dem Ziel der Wohlstandsmehrung und Soziales – der Entwicklung einer Gesellschaft, in der alle Mitglieder gleichermaßen partizipieren. Um die Erfüllung dieser Prinzipien zu garantieren, gibt es bestimmte Richtlinien wie beispielsweise die Festsetzung eines Mindestpreises für die Produkte oder das Einhalten von festgelegten Umweltstandards. An diese Richtlinien müssen sich Produzent*innen und Vertreiber*innen, also die Importorganisationen, halten, um das Fair-Trade-Siegel erhalten zu können.

Der Zusammenschluss von Kleinbäuer*innen in Kooperativen führt zu mehr Selbstbestimmung und einer erleichterten Organisation ihrer Arbeit. Somit können die Handelsbeziehungen mit den Importorganisationen in den Kooperativen, an denen alle Produzenten mit beteiligt sind, organisiert werden. Der höhere Erlös durch faire Löhne, die den Lebenshaltungskosten der Produzenten entsprechen sollen, wird etwain den Bau von Schulen investiert. Damit kann ein Mehrwert für die ganze Gesellschaft, in der die Produzenten leben, geschaffen werden. Außerdem fördert der Zusammenschluss in Kooperativen die Solidarität innerhalb der Gesellschaft. Wichtig ist hierbei, dass die fairen Arbeitsbedingungen und Löhne nicht nur für die Produzent*innen, etwa für den oder die Betreiber*in einer Plantage, sondern auch für dessen Arbeiter*innen geltend gemacht werden müssen. „Faire“ Arbeitsbedingungen begründen sich allgemein auf die international festgelegten Menschenrechte der Vereinten Nationen und die Kernarbeitsnormen nach den ILO-Standards. Damit ist beispielsweise Kinderarbeit und Zwangsarbeit ausgeschlossen.

Mehr als eine Milliarden Menschen – vor allem Kleinbauernfamilien in den Schwellen- und Entwicklungsländern – bestreiten ihr Einkommen hauptsächlich oder ausschließlich vom Reisanbau. (c) Guille Álvarez

Wie stehts mit der ökologischen Nachhaltigkeit?

Die Fairtrade-Produktion stellt die Bedürfnisse der Produzent*innen zuerst über ökologische Grundsätze. Trotzdem wird besonders in der jüngsten Entwicklung die Rolle von nachhaltiger Entwicklung immer wieder betont: Diese kann nur aus fairen Arbeitsbedingungen für die Produzent*innen entstehen, die dann dementsprechend nachhaltig mit dem Kapital Umwelt umgehen. Eine weitere Argumentation ist dabei, dass Menschen, die einen gesicherten Lebensunterhalt haben,  das Recht auf einelebenswerte Umwelt verteidigen, um diese zu erhalten.

Für die Fairtrade-Zertifizierung müssen Produzent*innen bestimmte Auflagen erfüllen, dabei sind auch ökologische Standards festgelegt. Die Bewahrung von Biodiversität und der Schutz von Ökosystemen soll unter anderem durch die Reduktion des Einsatzes von Pestiziden und durch Maßnahmen zum Schutze der Fruchtbarkeit der Böden sichergestellt werden. Dafür gibt es von Fairtrade International auch Empfehlungen, etwa zur Kompostierung oder zum Zwischenfruchtbau. Ein entscheidender Aspekt für die Verbesserung umweltgerechter Anbaumethoden ist nach einer Untersuchung zum Kaffeeanbau in Ruanda dabei der Zusammenschluss in Kooperativen.

Bei einer Untersuchung von Anbaupraktiken von Kaffeebäuer*innen in Ruanda war exemplarisch festzustellen, dass nahezu alle Farmer*innen unabhängig davon, ob sie eigenständig, in einer Kooperative und/oder Fairtrade-zertifiziert anbauen, Pestizide verwenden. Dies ist in dem Fall aber auf die Subventionierungen der Regierung auf Pestizide zurückzuführen. Auch chemische Düngemittel wurden aus denselben Gründen vom Großteil der Befragten verwendet. Eine der Fairtrade-Kooperativen hatte dabei aber als einzige die Menge von chemischen Düngemittel bereits deutlich reduziert, um auf biologische Produktion umzusteigen. Eine positive Auswirkung von Fairtrade-zertifizierten Kooperativen ist hingegen auf den Waldfeldbau, also die Kombination von Kaffeepflanzen und Bäumen, zu bemerken. Durch das Angebot von Bildungsmöglichkeiten wie Workshops und Trainings konnte die Anzahl von Kleinbäuer*innen, die Waldfeldbau für die Verbesserung der Fruchtbarkeit von Böden verwenden, deutlich erhöht werden.

Etwa 70 Kaffeebohnen werden für eine Tasse Kaffee benötigt. (c) Rodrigo Flores

Es ist also grundsätzlich gut, dass Fairtrade-Produkte fast überall zu finden sind, oder?

Um eine stetige Absatzmenge beizubehalten, wurde nach 1980 die Etablierung eines Fairtrade-Labels nach Vorbild des Biosiegels angestrebt, um den Verkauf im konventionellen Handel zu erleichtern. So wurde die Nachfrage der Kund*innen essentiell für die Auswahl der Produkte. Durch die nun erreichte Anbindung an den konventionellen Markt stieg die Anzahl der beteiligten Akteur*innen bedeutend. Die Erschließung des kommerziellen Marktes führte auch zu einer Einbeziehung von konventionellen Unternehmen statt des zuvor ausschließlichen Verkaufs über eigene Weltläden.

Zu Anfang der Fairtrade-Bewegung war aber nicht die ökonomische Marktdominanz, sondern die Standardisierung von Fairtrade-Prinzipien im allgemeinen Welthandel das erklärte Ziel. Der Transport dieser Information geht durch das unreflektierte Einkaufen im Supermarkt, im Gegensatz zum Weltladen, verloren. So landet die Fairtrade-Schokolade sicher auch mal neben einer Schokocreme, die nicht ganz frei von Kinderarbeit scheint. Gerade weil Fairtrade-Produkte immer beliebter werden, steht die Einhaltung von Richtlinien durch die erhöhte Anzahl von beteiligten Akteur*innen und Interessensgruppen vor einer Probe. Für die wachsende Zahl an bewussten Konsument*innen ist es wichtig, einer nachhaltigen, fairen, integren Entwicklung weiterhin beim Einkauf vertrauen zu können.  Eine mögliche Lösung wäre dafür verstärkte Kampagnen- und Informationsarbeit. Nach wie vor wäre aber langfristig eine Implementierung der Fairtrade-Grundsätze in einem kollektiven Ansatz, also beispielsweise durch nationale Regulierungen und die Einhaltung von Verboten wie Kinder- oder Zwangsarbeit sowie angemessene Vergütung, wünschenswert.

Damit würden politische Forderungen und eine Etablierung von fairerem Welthandel mehr Gewicht erhalten. So bleibt die Möglichkeit eines internationalen Handelssystems ohne globale Ausbeutungslinien vielleicht nicht nur Utopie.


Einen Überblick über Fairtrade-Zertifizierungen findet ihr hier.

Der Nazi und das Netz

29. Oktober 2019 By

Das Attentat von Halle ist der sichere Beweis: Rechtsextremismus ist digital geworden. Eine Erkenntnis, die nicht überall angekommen ist. 

Der Befund ist eindeutig: digitale Rechtsextremismus-Blindheit. Der Name des Patienten? Der deutsche Rechtsstaat. Der bescheinigte Befund lässt keine Zweifel offen. So gibt der Kranke doch selbst zu, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Wenn etwa Bundesjustizministerin Christine Lambrecht eingesteht, „dass wir vieles nicht in dieser Dramatik, in dieser Bedeutung wahrgenommen haben“. Dramatisch sind vor allem die Symptome dieses Krankheitsbildes. Es sind keine geringeren als die Gefährdung und zuweilen auch Vernichtung von Leib und Leben. So lassen sich seit der deutschen Wiedervereinigung nun schon mindestens 208 Fälle rechter Gewalt bescheinigen, in denen Menschen – wie der stern es drastisch aber treffend beschreibt – „erschlagen, erschossen oder verbrannt“ wurden.

(c) „hate“ by Setyo Ari Wibowo from the Noun Project

Dramatisch ist aber vor allem die digitale Mutation des besagten Problems. Denn es gibt einen neuen Tatort rechter Gewaltexzesse. Der heißt nicht mehr bloß Hoyerswerda, Köln oder Rostock-Lichtenhagen, sondern „Twitch“, „4chan“ und Youtube. Dramatisch nun, da rechtsstaatliche Schutzfunktionen dort oftmals nicht greifen und man fast den Eindruck bekommt, dass sie es auch gar nicht sollen. So müssen neuerdings Politikerinnen wie Renate Kühnast hinnehmen, sich online als „drecks Fotze“ oder „Schlampe“ beleidigen zu lassen. So sieht es zumindest das Landgericht Berlin, wenn es in seiner Urteilsverkündung mitteilt, dass sich solche verbalen Entgleisungen lediglich „haarscharf an der Grenze des noch hinnehmbaren“ bewegen, diese aber nicht überschreiten. Nicht weniger verblüffend ist da noch Horst Seehofers Vorhaben, nach den jüngsten Vorfällen in Halle „die Gamer-Szene stärker in den Blick nehmen“ zu wollen. Der Bundespolitik und Rechtsprechung scheint also nichts Besseres einzufallen als pauschalisierte Scheinlösungen inklusive dem gesetzlich legitimierten Abbau von Persönlichkeitsrechten. Aber, wie der SPIEGEL zuletzt schrieb, ist doch eines klar: „Das Attentat von Halle begann im Netz, mit einer Radikalisierung des Täters in einschlägigen Foren.“ 

Soll der Patient aber von seiner Sehschwäche genesen, braucht es zunächst ein klares Verständnis über den digitalen Rechtsextremismus selbst, um seine Gestalt als öffentliches Problem deutlich erkennen zu können. Dazu muss man sich fragen, warum Rechtsextremist*innen überhaupt im Netz ihr Unwesen treiben können. Zugegeben, das ist kein leichtes Unterfangen. Denn wer rechte Logiken im Netz verstehen will, muss sich ebenso im Klaren sein, dass Rechtsextremist*innen international agieren, sich in sogenannten „hate clusters“ vernetzen und über „hate highways“ miteinander agieren. Herausgefunden hat dies nun ein US-amerikanisches Forschungsteam, das seine Ergebnisse im Wissenschaftsjournal „Nature“ veröffentlicht hat. Demnach lässt sich mathematisch darstellen, dass Extremist*innen in einem internationalen Hass-Netzwerk agieren und dabei plattformübergreifend miteinander kommunizieren. Die wichtige Erkenntnis dabei: Wer diese Komplexität nicht erkennt, verschlimmert die Lage eher, als dass sie sich verbessert. Denn wer seine Arbeit auf nur eine oder wenige Plattformen beschränkt, der hinterlässt einen zu großen Schatten, in dem Hasstiraden schonungslos gedeihen können.

(c) „hate“ by fajar hasyim from the Noun Project

Laut Paper muss eine erfolgreiche Polizeiarbeit „Anti-Hate-User“ dazu ermutigen, eigene Cluster zu bilden, die sich dann an Erzählungen beteiligen und Hass im Netz im Keim ersticken. Solches Wissen ist nicht unwesentlich für die Arbeit online ermittelnder Behörden sowie für ein Bundesinnenministerium, das im Zuge von Halle und dem Fall Lübcke nun hunderte neue Stellen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus schaffen will. Aber auch die Gesetzgebung muss sich überlegen, wie sie ihren Blick wieder schärfen kann. So ist es fraglich, warum Google und somit auch Youtube mit Algorithmen operieren dürfen, die auf eine Radikalisierung von Meinungen abzielen, indem extreme Inhalte User an das eigene Geschäftsmodell binden sollen. Die Welt wird so schwarz-weiß und die vielen Grautöne dazwischen verblassen. All das muss ein Rechtsstaat für seine Genese bedenken, andernfalls behält Seehofer Recht. Nur dann ist es er selbst, der sich verzockt. 


Eine Gesellschaft muss Intoleranz, Diskriminierung und Gewalt nicht hinnehmen. Du kannst selbst als Anti-Hate-User*in im Netz tätig werden und gegen rechte Hetze etwas tun. Du bist damit keinesfalls allein. Es gibt viele Möglichkeiten sich zu engagieren, zusammen mit vielen Gleichgesinnten.

// Die Bundeszentrale für politische Bildung

Wenn du mehr über das Thema Rechtsextremismus im Allgemeinen und im Netz wissen willst, kannst du auf das Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) zurückgreifen. Eine Übersicht zu den angebotenen Essays, Dossiers und anderen Informationen findest du hier.  

// Das No-Hate-Speech-Movement

Die Bewegung sagt über sich selbst: „Das No Hate Speech Movement Deutschland bündelt die gesammelte Energie aller, die sich gegen Online-Hetze engagieren.“  Diese Energie ist gewaltig. Du findest dort jede Menge Informationen über Anlaufstellen, die dich dabei unterstützen können, sich selber gegen Hetze zu engagieren. Zur Bewegung geht es hier.

// Der Helpdesk gegen Hate-Speech

Was tut man, um sich selbst gegen Hetze, der sogenannten Hate-Speech, im Netz zu schützen? Das gemeinnützige Projekt No Hate Speech Movement der Neuen deutschen Medienmacher hat zur Beantwortung solcher Fragen einen Online-Helpdesk geschaffen. Bist du betroffen, liefert er dir Sofort-Hilfe, aber zeigt dir auch, wie du dich davor schützen kannst und was du danach tun kannst und wer dir dabei,wie helfen kann. Zum Helpdesk geht es hier.  

// #ichbinhier

Zu Partizipation und Gleichbehandlung gehört genauso die Diskussion. Diese  können rechtes Gedankengut im Keim ersticken. Die Facebook-Gruppe „#ichbinhier“ fördert dabei eine überparteiliche, positive, konstruktive und faktenbasierte Debattenkultur. Mitmachen kannst du hier.

(c) „like“ by Rizky Okta Dwiputra from the Noun Project

(c) Titelbild: Jeremy Lishner

Warum eine Circular Economy nicht genug ist

22. Oktober 2019 By

Zirkuläres Handeln darf nicht nur die Vermeidung von Umweltschäden bedeuten, sondern es sollte auch soziale Teilhabe gewährleisten

Gegenwärtige Wirtschaftsmuster folgen einer weitgehend linearen Logik: Ressourcen werden verarbeitet, aus ihnen werden Dinge hergestellt, die konsumiert und schließlich entsorgt werden. Aus diesem Wirtschaftsmodell entstehen umfassende Schäden: Klimawandel, Umweltverschmutzung und globale Ausbeutungslinien gehören mit dazu. Was passiert also, wenn Ressourcen nicht mehr als nutzbare und sich selbst erneuernde Selbstverständlichkeit wahrgenommen werden? 

Die Circular Economy setzt an diesem Punkt an: Produktion, Konsum und Verwertung der genutzten Produkte sollen einen Kreislauf bilden, aus dem möglichst wenig Schaden entsteht. Ein Großteil der eingespeisten Ressourcen wie Materialien und Energie sollen wiederverwendet und in weitere Kreisläufe eingespeist werden. Dabei spielen Praktiken wie Recycling, die langlebige Konstruktion von Produkten, Instandhaltung und Wiederverwendbarkeit eine zentrale Rolle. Etwa könnten bei einer Waschmaschine durch reparaturfreundliches Design nach ihrem Ableben noch funktionierende Teile wieder oder vielmehr weiter-verwendet werden. Ressourcen aus nicht mehr funktionierenden Teilen könnten in einem Recycling-Prozess extrahiert und die Rohstoffe beispielsweise als nächstes in einem Smartphone zum Einsatz kommen.

Allerdings kann die Circular Economy als implementiertes Wirtschaftsmodell tiefgehende Problematiken wie globale Ausbeutungsmechanismen nicht durchbrechen. So ist sie auch ein Instrument, weiterhin wirtschaftlichen Wachstum entkoppelt vom Verbrauch natürlicher Ressourcen zu ermöglichen. Das birgt unter anderem die Gefahr einer weitergehenden Machtkonzentration bei einigen wenigen, die dann neben Produktionsmechanismen auch die weitere Verwertung und Wiederverwendung von Ressourcen kontrollieren könnten. Zwar ermöglicht die Circular Economy die Minimierung des Verbrauchs natürlicher Ressourcen sowie die Reduzierung umwelt- und gesundheitsgefährdender Schäden. Allerdings ist Linearität weiterhin tief in gesellschaftliche Regeln, Standards, Gesetze, Verhaltensmuster und Handlungsketten eingeschrieben. So werden gesellschaftliche Aspekte wie Teilhabe, globale soziale Gerechtigkeit und Lebensqualität durch die bloße Umgestaltung des linearen zu einem zirkulären Wirtschaften hin nicht ausreichend angegangen. 

Eine Circular Society schließt Kreisläufe, ohne einzelne einer Gesellschaft auszuschließen. (c) Hans Sauer Stiftung

Von der Circular Economy zur Circular Society

Um einen Wandel zu mehr gesellschaftlichen, zirkulär orientierten Denken und Handeln zu vollziehen, braucht es also mehr als das: So muss man sich zunächst fragen, was eigentlich Mittel und was eigentlich Zweck zirkulären Wirtschaftens ist. Letztlich ist es doch der Mensch, der das Wirtschaften als Mittel zur Umsetzung der eigenen Interessen nutzt und nicht umgekehrt. Circular Economy kann eben nur Mittel zum Zweck sein. Geht es also in erster Linie um jede*n Einzelne*n in der Gemeinschaft selbst, sollte zirkuläres Handeln auch gesamtgesellschaftlich gedacht werden. Zum Schluss kann es folglich nur eine Circular Society sein, an der sich menschliches Handeln orientiert. Wer die Minimierung des Verbrauchs natürlicher Ressourcen vorantreiben will, muss sich also fragen, welcher gesellschaftliche Mehrwert dabei entsteht.

Keine Zweifel dürften darin bestehen, dass eine Gesellschaft die Summe ihrer Teile ist, nämlich die aus jeder und jedem einzelnen. Auch klar ist, dass jede*r einen gleichen Wert unter gleichen besitzt. Diese Gleichwertigkeit ist enorm wichtig, denn sie bedeutet Gleichberechtigung – eine zur gesellschaftlichen Teilhabe und Mitgestaltung. Spätestens jetzt wird klar, warum es nicht ausreicht, Zirkularität aus rein wirtschaftlicher Sicht zu betrachten und Gleichberechtigung in den Hintergrund zu rücken. Denn damit steigt die Gefahr, dass ein wirtschaftlicher Kreislauf zwar zirkulär und geschlossen, aber auch verschlossen ist – dass also einige von möglichen Wohlstand ausgeschlossen werden oder ihnen ihr Anspruch auf Selbstbestimmung verwehrt wird. Aber: Wie wird eine Gesellschaft zirkulär, was macht sie zu einer Circular Society?

Gleichberechtigung scheint die Gefahren eines falschen Verständnisses von Zirkularität zu zähmen und somit ein wesentliches Merkmal für eine Circular Society zu sein. Das heißt aber auch, dass in ihr partizipative Gestaltungsmöglichkeiten vorhanden sein müssen, um mit deren Hilfe gemeinschaftlich an sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen zu erarbeiten. Das Social Design Lab der Hans Sauer Stiftung bedient sich für so eine kooperative Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse der Herangehensweise des Social Designs. Das bedeutet, dass Methoden und Praktiken aus dem Design (und auch anderer Disziplinen) konsequent zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen nutzbar gemacht werden. Im Verständnis und der Praxis des Labs heißt das, dass partizipativ, iterativ, ergebnisoffen und „bottom-up“ an Lösungen gearbeitet wird. Forschung, Praxisakteur*innen und die jeweils betroffenen Menschen werden zusammengebracht und es wird schrittweise und gemeinschaftlich an neuen Modellen, an Lösungen „von unten“ gearbeitet und diese werden dann praktisch auf ihre Wirkungen und Effekte hin erprobt. 

Partizipative Gestaltungsmöglichkeiten sind ein wesentliches Merkmal einer Circular Society. (c) Hans Sauer Stiftung

Vom Wertstoffhof zum Mehrwerthof

Können beherrschende Muster des Ressourcenverbrauchs lokal verändert werden und wie kann kreislauforientierten Denken und Handeln mehr Raum und Relevanz verschafft werden? Wertstoffhöfe sind heutzutage zentrale Orte in dem Bestreben, eine Kreislaufwirtschaft zu etablieren. Hier werden nicht weiter genutzte Dinge und Stoffe gesammelt, sortiert und einer erneuten Verwertung zugeführt.

Manche Stoffe, wie Glas, Papier und viele Metalle können gut recycelt werden. Doch bei einigen Stoffgruppen wird die Linearität unseres Wirtschaftssystems offenkundig: Im Müll landen dann leicht zu reparierende, aber aus der Mode gekommene Sofagarnituren, Unterhaltungselektronik, die dem aktuellen Stand der Technik hinterherhinken oder Haushaltsgeräte, bei denen eine Reparatur nicht möglich oder zu teuer wäre. Für die Nutzer*innen endet hier dann oft der Kontakt zum Produkt. Die Frage, ob das entsorgte Produkt ganz oder in Teilen wiederverwendet, downgecyclet oder als Sondermüll behandelt werden muss, bleibt häufig unklar.

In einem Projekt der Technischen Universität München wurden Stadtmöbel aus recycelten Materialien gebaut. (c) Hans Sauer Stiftung

Die Chance, die entsorgten Produkte sinnvoll in eine Kreislaufnutzung zu überführen, ist oft bereits vertan – zu sehr ist ihr Design auf Obsoleszenz und Linearität ausgelegt. Aber die Wertstoffhöfe bieten eine andere Gelegenheit: Sie stellen einen Anknüpfpunkt dar, um zirkuläre Modelle mehr in der Gesellschaft unterzubringen. Das Social Design Lab der Hans Sauer Stiftung geht zusammen mit der IKEA Stiftung der Frage nach, inwiefern Wertstoffhöfe zu Ausgangspunkten eines veränderten, konsequent an der Schaffung von Kreisläufen orientierten Umgangs mit Ressourcen werden können. Beim Neubau eines Wertstoffhofs in Markt Schwaben bei München wird versucht, die dort praktizierten Muster des Wegwerfens zu durchbrechen und zu erweitern. Gemeinsam mit ansässigen Akteur*innen wird ein über die bisherige Funktionen und Praktiken eines Wertstoffhofs hinausgehender Ort entwickelt. Zusammen mit dem Markt Markt Schwaben, der anderwerk GmbH und anderen Partnern werden bei dem Projekt „Mehrwerthof Markt2 Schwaben” in einem partizipativen Ansatz Lösungen gesucht und Transformationswege erprobt.

In neuartigen Allianzen zwischen Kommunen, Sozialwirtschaft, Stiftung, Hochschulen und den Menschen vor Ort werden Pilotprojekte initiiert: Reparaturveranstaltungen, Tauschpartys und Prototyping von Stadtmöbeln aus recycelten Materialien. Dabei werden gesellschaftliche Veränderungs- und Innovationsprozesse angestoßen, die von den Menschen aktiv mitgestaltet und – so die Hoffnung – auch breit und nachhaltig getragen werden.

Nachhaltigkeit in der Baubranche

10. Oktober 2019 By

Die Baubranche gehört zu den größten Ressourcen- und Energieverbrauchern weltweit: ein Interview über die Rolle der Wissenschaft bei der Entwicklung von Konzepten mit dem Ziel, Bauen nachhaltiger zu gestalten.

Prognosen zufolge wird sich die Stadtbevölkerung bis 2050 weltweit von heute knapp 4 Milliarden auf 6,5 Milliarden Menschen vergrößern. Etwa zwei Drittel der Menschheit wird dann in Städten leben und auf eine entsprechende urbane Infrastruktur angewiesen sein. Der Trend zur Urbanisierung ist weltweit spürbar – etwa in gesteigerten Bauaktivitäten. Aber bereits jetzt ist der Bau- und Gebäudesektor in Europa für fast die Hälfte des Ressourcen- und Energieverbrauchs, ein Drittel des Wasserverbrauchs und ein Drittel des Abfallaufkommens verantwortlich. Ob der Menschheit ein gesellschaftlicher Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit gelingt, wird sich also maßgeblich in Städten entscheiden. Kann es gelingen, die Umweltauswirkungen im Gebäudesektor zu minimieren und gleichzeitig einer steigenden Anzahl von Menschen den nötigen Raum für ein gutes und gerechtes Leben bieten? Gerade der universitären Forschung kommt dabei eine herausragende Rolle zu, Lösungen für diese Herausforderungen zu entwickeln. Wir haben mit Christian Hepf, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen von Professor Thomas Auer der Technischen Universität München über die Forschung im Kontext zum nachhaltigen Bauen gesprochen.

 

Christian Hepf im relaio Interview. (c) Hannah Wolf

relaio: Die Baubranche ist der Wirtschaftszweig, der weltweit einen Großteil vorhandener Ressourcen verbraucht, einen hohen Anteil an Treibhausgasen ausstößt und für ein hohes Abfallaufkommen sorgt: Welche Strategien existieren, um Bauen nachhaltiger zu gestalten?

Christian Hepf: Es gibt hier ganz verschiedene Herangehensweisen, daher lohnt sich zunächst einmal ein Blick auf die Ausgangssituation. Wenn man sich in internationalen Großstädten umsieht, egal ob das Helsinki, London oder Abu Dhabi ist, dann sieht man vor allem eins: Das Gleiche. Gläserne Hochhäuser  – die sich vielleicht von Land zu Land in ihrer Höhe übertreffen – aber die gleichen Charakteristika aufweisen, unabhängig von den lokalen klimatischen Bedingungen. Die Gebäude müssen gekühlt, beheizt und mit Frischluft versorgt werden. Das erfordert eine aufwändige Anlagetechnik und viel Energie, um den lokalen, thermischen und visuellen Komfort für den Nutzer herzustellen. Die Gebäude erfordern zudem große Mengen an energieintensiven oder schwer zu recycelnden Rohstoffen wie Stahl, Glas und Beton. Sie gelten oftmals als Sinnbild einer modernen, westlichen Architektur, aber die Wahrheit ist, dass dadurch oft einfachere, dem lokalen Klima besser angepasste Materialien und Bauformen verdrängt werden. Das hat den Effekt, dass der Ressourcen- und Energieverbrauch sowie das Abfallaufkommen steigen.

Beim nachhaltigen Bauen geht es jetzt aber nicht darum, reinen Tisch zu machen und Gebäude mit möglichst geringen Umweltauswirkungen neu zu errichten. Es geht darum, sich mit unserer bestehenden, gebauten Umwelt auseinanderzusetzen und Zusammenhänge von Architektur und Technik, von Gebäude und Stadt zu erkennen. Es geht darum, dass Stadtplaner, Architekten und Ingenieure versuchen ihre Planungen an die lokalen Bedingungen anzupassen und gemeinsam einfache, flexible und robuste Lösungen für komplexe Zusammenhänge finden. Wir müssen ein ganzheitliches Verständnis für unsere gebaute Umwelt finden und diese dann entsprechend optimieren.

Wie muss man sich diese ganzheitliche Herangehensweise vorstellen?

Zu allererst natürlich einmal ganzheitlich im Sinne der drei Säulen der Nachhaltigkeit: ökologisch, ökonomisch und sozial. Man muss sich fragen: Wenn ich ein Wohngebäude saniere, verbessert sich dann die Ökobilanz? Lohnt sich das Investment für den Eigentümer? Führen die Kosten eventuell zu einer sozialen Verwerfung, weil die Kosten auf den Mieter umgelegt werden und er sich die Wohnung nicht mehr leisten kann?

 Ganzheitlich bedeutet aber auch, den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes zu betrachten. Das beginnt mit der Rohstoffgewinnung, der Herstellung von Baustoffen und -teilen sowie der Planung und Errichtung des Gebäudes. Wie viel Energie wird während des Baus verbraucht – wie viel im Betrieb? Wie wirkt sich eine Sanierung aus? Kann das bestehende Gebäude für eine Umnutzung mit neuen Anforderungen adaptiert werden? Es geht aber nicht nur um Energie, sondern auch um Materialflüsse: Was passiert beim Abbruch des Gebäudes? Können einzelne Bauteile rückgebaut und wiederverwendet oder die Baustoffe recycelt werden, kommt es zu einem Downcycling oder müssen die Stoffe sogar als Sondermüll deponiert werden? Bedenkt man im Vorfeld den ganzen Lebenszyklus eines Gebäudes, kann man versuchen, Materialen auf eine langfristige Nutzung und Wiederverwendung auszulegen, so dass sich idealerweise eine Kreislaufnutzung ergibt.

Darüber hinaus kann man das Gebäude als Baustein auf verschiedenen Ebenen des urbanen Lebens betrachten. Ein Gebäude steht nie alleine da, es wirkt immer auf seine Umgebung. Es ist Teil eines urbanen Systems, Teil eines Quartiers und auch die einzelnen Teile eines Gebäudes wirken aufeinander. Auf urbaner Ebene betrifft das viele politische, kulturelle und soziale Fragen. Wenn ich in die gebaute Umwelt eingreife, was löse ich damit aus? Erzeuge ich andere Mobilitätsmuster oder treibe ich zum Beispiel die Gentrifizierung voran? Auf Quartiersebene steht das Gebäude im Austausch mit einer begrenzten Zahl von anderen Gebäuden. Wird ein historisches Ensemble und damit ein Stück lokaler Identität zerstört? Oder sorge ich durch Begrünung für eine Verbesserung des Mikroklimas in der Nachbarschaft? Diese Fragen setzten sich im Gebäude fort. Kann ich Energieflüsse im Gebäude möglichst effizient aufeinander abstimmen und durch Synergieeffekte den thermischen Komfort der Nutzer verbessern und dabei sogar Energie einsparen?

Christian Hepf ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen. (c) Hannah Wolf

Coffee-to-go-Becher, Autos mit Verbrennungsmotoren oder Billigfleisch stehen vielmehr in der öffentlichen Debatte um Nachhaltigkeit als der Bausektor. Dabei wäre hier aber die Hebelwirkung viel größer?

So ein Coffee-to-go-Becher ist etwas sehr Unmittelbares. Ich kaufe ihn, benutze ihn für ein paar Minuten und bekomme sehr schnell das Feedback: Der Becher landet im Müll. Beim Bauen ist die Perspektive sehr viel länger – oft fällt der Abriss oder eine veränderte Nutzung eines Gebäudes gar nicht in die Lebenspanne der Erbauer oder Planer. Feedback kommt also oft erst nach vielen Jahren, wodurch Entscheidungen über die Veränderungen oder das Ende der Nutzung bei der Planung zum Teil nur eine untergeordnete Rolle spielen. Aber auch wenn versucht wird an dieser Stelle vorzudenken und beispielsweise möglichst energieeffizient zu bauen, gilt es in der Baubranche die sogenannte Performance Gap zu schließen. Diese beschreibt den Unterschied zwischen der ursprünglich geplanten Zielgröße und der tatsächlichen Performance im Betrieb eines Gebäudes. Durch eine Vielzahl von Einflussfaktoren, unter anderem mangelnde Kommunikation zwischen Planern, aber auch durch fehlende Bauqualität entstehen hier oft sehr große Differenzen. Was zum Beispiel dazu führt, dass mitunter Gebäude mit herausragendem Nachhaltigkeitszertifikat ihre geplant niedrigen Energieverbrauchswerte im Betrieb nicht ansatzweise erreichen.
Vor allem aber ist Bauen ein komplexes Zusammenspiel von verschiedensten Akteuren, da kann ich als Einzelperson nicht so einfach durch meine Entscheidung einen Unterschied machen, wie das vielleicht beim Coffee-to Go Becher der Fall ist. Oftmals spielt für den Architekten die Ästhetik eine viel größere Rolle als die spätere Entsorgung der Baustoffe und für den Investor sind möglichst geringe Baukosten wichtiger als später einmal der Energieverbrauch, gerade wenn die Energiepreise niedrig sind. Deswegen ist es wichtig, hier Expertenwissen einzubringen und konsequent interdisziplinär zusammenzuarbeiten. Hier an der Universität arbeiten wir interdisziplinär mit anderen Lehrstühlen und Fachrichtungen zusammen. So sind wir etwa im Zentrum für nachhaltiges Bauen vertreten, einem Zusammenschluss aus mehreren Lehrstühlen der Fakultäten Architektur, Ingenieurwesen sowie Elektro- und Informationstechnik.

In der freien Wirtschaft spielen solche Ansätze aber leider noch eine eher untergeordnete Rolle und gerade als Privatperson hat man vor dem Hintergrund einer steigenden Urbanisierung mit dem Bau oft gar nichts mehr zu tun: Man kann sich auf angespannten Wohnungsmärkten nicht aussuchen wo man wohnt und ob man Klimagesichtspunkte in seine Wohnungswahl mit einbezieht. Da kann ich als Nutzer keinen Druck aufbauen, was sich natürlich auch auf die öffentliche Debatte durchschlägt. Das heißt aber nicht, dass ich als Privatperson nichts damit zu tun habe. Ich kann im Haushalt Energie einsparen und durch einen pfleglichen Umgang für Langlebigkeit sorgen. Und ich kann mich mit der Frage der Suffizienz auseinandersetzen. Wie viel Platz benötige ich wirklich? Brauche ich im Alter eine ganze Wohnung in der Stadt, ist ein Einfamilienhaus notwendig?

Die Carbon Roadmap der EU sieht vor, dass im Vergleich zu 1990 die CO2-Emissionen des Gebäudesektors bis zum Jahr 2050 um 90 Prozent reduziert werden: Wie sieht eure Arbeit hierzu aus, welche Strategien habt ihr?

Wir sind hier am Lehrstuhl ein interdisziplinäres Team mit mehr als 20 wissenschaftlichen Mitarbeitern mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen wie Architektur, Bau- oder Umweltingenieurwesen. Grundsätzlich kann man unsere Tätigkeiten in zwei Felder gliedern: Lehre und Forschung. Die Lehre ist ein ganz wichtiger Teil unserer Arbeit mit dem Ziel, angehenden Architekten und Ingenieuren ein Verständnis für klimagerechtes Bauen und praktisches Methodenwissen mitzugeben. Vor allem aber ist uns wichtig, das interdisziplinäre Zusammenarbeiten im Planungsprozess von Anfang an in die Ausbildung zu integrieren.

Die Forschung findet anwendernah und praxisorientiert statt – deswegen unterscheiden sich auch hier die Herangehensweisen je nach Projekt ganz stark. Generell spielen aber die Universitäten eine ganz zentrale Rolle dabei, den Bauprozess nachhaltiger zu gestalten, da hier der finanzielle Profit nicht im Vordergrund steht. Ideen können so erst einmal ausprobiert werden und Erfahrungen in kleineren Testumgebungen gesammelt werden. Damit unterstützen wir dann innovative Architekten und Bau- oder Ingenieurunternehmen, die an der Grenze von gesetzlichen Richtlinien und bestehenden Baunormen an neuen Konzepten arbeiten.

In einem Prüfstand werden Versuche mit verschiedenen Verglasungen durchgeführt. (c) Christian Hepf

 Wie sehen solche Forschungsprojekte dann aus?

 Eines meiner aktuellen Projekte adressiert die Fassade von Gebäuden. Die ist im Bauwesen von ganz maßgeblicher Bedeutung. Sie repräsentiert das Gebäude nach außen – ist aber auch aus Umweltgesichtspunkten sehr bedeutend: vier Prozent des gesamten Energieverbrauchs in Europa sind auf Wärmeverluste über Fernster zurückzuführen. Gleichzeitig führt die Sonneneinstrahlung dazu, dass ein Sonnenschutz angebracht und gekühlt werden muss, um den visuellen und thermischen Komfort für den Nutzer bereitzustellen. Das kostet Energie, beeinträchtigt die Form der Fassade und ist wartungs- und reparaturintensiv. Wir machen gerade Versuche mit speziellen Fensterverglasungen. Diese kombinieren eine Heat-Mirror Folie, welche die Isoliereigenschaft der Scheibe optimiert, mit einer elektrochromen Scheibe, die beim Anlegen einer sehr geringen elektrischen Spannung die Lichtdurchlässigkeit verändert. Je nach Bedarf kann Licht und somit Energie hineingelassen werden, was unter Umständen Heizung oder künstliches Licht überflüssig macht oder die Scheibe verdunkelt werden, was Kühlung und zusätzlichen Sonnenschutz unnötig macht. Der Fokus des Projektes liegt dabei auf der Entwicklung einer intelligenten Steuerung der dimmbaren Scheibe, sodass die Fassade sich smart an die lokalen Wetterbedingungen anpassen kann. Das Projekt geht sogar noch einen Schritt weiter und versucht wetterprädikativ, also vorrausschauend, zu handeln um zusätzlich noch Energieeinsparungen erzeugen zu können. Das klingt jetzt zunächst nach einer hochkomplexen Lösung. Die Einfachheit besteht aber darin, dass ich so die ohnehin vorhandene Sonnenstrahlung als Energiequelle nutzen kann und so auf eine umfangreiche Anlagentechnik verzichtet werden kann.

In einem weiteren Projekt begleiten wir die Errichtung der Firmenzentrale einer großen Bio-Supermarktkette. Ein Großteil des Gebäudes wurde aus Stampflehm errichtet, der direkt aus der Baugrube gewonnen und auch im Falle des Abrisses des Gebäudes einfach wiederverwendet werden kann. Der gesamte Lebenszyklus des Gebäudes ist so mit einem sehr geringen Energieaufwand verbunden. Lehm kann aber auch besonders gut Feuchtigkeit aus der Raumluft aufnehmen und abgeben, was natürlich regulierend auf das Raumklima wirkt. So können wir die Gebäudetechnik auf ein Minimum reduzieren. Wir als Wissenschaftler führen dazu Messungen durch, um die begrenzte Datengrundlage zu Stampflehmbauten zu erweitern. Das Gebäude kann so zu einem Vorbild für nachhaltiges Bauen werden.

https://www.relaio.de/inhalt/uploads/Timelaps-14.08.19_18.00_130�.mp4

Durch die Entwicklung intelligenter Fassadenverglasungen kann Energie eingespart werden. (c) Christian Hepf

Ganz oft müssen wir uns aber mit Bestandsgebäuden auseinandersetzen, da müssen wiederum ganz andere Strategien her. So zum Beispiel ein Projekt, das wir in Kooperation mit der TU Delft durchführen. Es adressiert das Problem der im europäischen Raum sehr geringen Renovierungsraten. In den Niederlanden leben zum Beispiel ungefähr 50 Prozent der Bevölkerung in Nachkriegsgebäuden aus den 1950ern bis 1970ern Jahren, die dringend eine energetische Sanierung benötigen, wenn wir die Klimaziele für 2050 einhalten wollen. Eine Renovierung krankt aber oft an der Frage eines mangelnden Zuständigkeitsgefühls – der Hausbesitzer müsste dafür ein beträchtliches Investment aufbringen. Im Projekt Leasing Fassade wird die Sanierung in Form einer modularen Fassade von einer externen Firma bereitgestellt, die sich gegen eine regelmäßige Leasingrate um die Produktion, Instandhaltung und irgendwann auch die Weiterverwertung kümmert. So wird nicht nur eine optimale Nutzung der Baustoffe über den Lebenszyklus erreicht, sondern auch die anfängliche Investitionshürde entschärft und eine Kreislaufwirtschaft im Bauwesen vorangetrieben.

Über den Sinn und Unsinn von Zwischennutzungen

24. September 2019 By

Zwischennutzungen ermöglichen Neues an ungewöhnlichen Orten und können so Teilhabe und Innovation in der Stadt stärken. Oft dienen sie aber kommerziellen Interessen.

Was machen wir in unseren Städten? Wo finden wir Raum dafür? Gerade in dicht besiedelten Städten wie München fehlt dieser zum Wohnen, zum Arbeiten, zum Lernen und Probieren. Der Lebensraum Stadt ist durchökonomisiert – für Lebensqualität und eine Diversität in der Umgebung sorgt die nach dem Ideal der ökonomischen Effizienz funktionierende Raumvergabe nicht unbedingt. Wo sollen sie hin, die guten Ideen, Kulturschaffenden und Initiativgruppen?

Zwischennutzungen sind zeitlich beschränkte Nutzungen von Gebäuden und Flächen. Häufig sind diese Übergangsnutzungen nicht rein ökonomisch orientiert und funktionieren nach dem Prinzip „Günstiger Raum gegen befristete Nutzung“ beziehungsweise „Bewachung durch Bewohnung“.

Der Begriff der Zwischennutzung  hat sich dabei in den letzten Jahren einem Imagewandel unterzogen. Noch in den 90er Jahren verwendeten Zwischennutzende oft halblegal die jeweiligen Räumlichkeiten. Die temporäre Nutzung von Gebäuden wurde oft als Hausbesetzung praktiziert. Dieser Eindruck haftete der Praxis länger an. Inzwischen haben sich Zwischennutzungen aus der Nische des alternativen, informellen Raums zu bauplanerischen Instrumenten im Umgang mit Brachflächen und in der Wirtschaftsförderung entwickelt – und oft auch zu einem profitablen Geschäft.

Zwischennutzungen als Experimentierfläche

In Berlin sind Künstler*innen und junge Gewerbe nach einem rasanten Anstieg der Mietpreise in den letzten Jahren einem Verdrängungsprozess ausgeliefert. (c) unsplash, Fotograf: Marvin Meyer

Zwischennutzungen können dazu dienen, Projekten und Initiativen im Prozess den notwendigen Freiraum zu geben, sich auszuprobieren. Oft fallen dabei nur die Betriebskosten als Miete an. In Städten wie München, Berlin, Köln oder Hamburg ist das eine entscheidende Startbedingung für junge Projekte: Flächen in zentraler Lage sind dort quasi unerschwinglich. Die gemeinschaftliche Nutzung von Bauten und Räumen bietet Möglichkeit für Vernetzung und Synergieeffekte. Auch die oft ungewöhnliche Lage der Orte für deren Nutzer*innen birgt innovatives Potential: Junge oder ökonomisch unprofitable Projekte und Initiativen werden an sonst unerschwinglichen, zentralen Orten mit ihrem jeweiligen Publikum sichtbar.

Zugleich reduziert die Praxis des Zwischennutzens die Leerstandskosten für den Eigentümer und kann durch die gesteigerte Aufmerksamkeit für den temporär genutzten Raum für eine Imageaufwertung sorgen. Entscheidend ist dabei auch, wo die Zwischennutzungen stattfinden: In Städten wie Berlin, München oder Hamburg ist Raum umkämpft, während in Regionen wie dem Ruhrgebiet viel Leerstand herrscht.

Die Praxis des Zwischen-Nutzens kann so Verfall vorbeugen und vergessene Flächen wieder aufwerten. Dabei bietet sie hohes partizipatives Potential: Durch einen ständigen Prozess an Aushandlung und Anpassung können unterschiedliche Interessensgruppen wie Anwohner*innen, interessierte Bürger*innen und Initiativen an unterschiedlichen Punkten mit einsteigen und den weiteren Verlauf beeinflussen. Beispielsweise wird der Zenettiplatz in München schon das zweite Jahr in Folge zum „Piazza Zenetti“ – durch Bepflanzung und Sitzgelegenheiten wird der verwaiste Zwischenort, der als Parkplatz wenig Raum für lebendige Nutzung lässt,  zur interessanten Anlaufstelle für unterschiedlichste Nutzungsmöglichkeiten. Die Anwohner*innen und Passant*innen sorgen dabei durch die Art, wie sie den Platz nutzen, für neue soziale Begegnungen und Synergieeffekte. Durch das Angebot an die Anwohner*innen, den Platz dadurch an ihre gewünschte Nutzung anzupassen, entfaltet der Ort sein Potential als Fläche zum Austausch und Generieren von Ideen und zur Freizeitgestaltung.

Der vormalige Parkplatz lädt als Piazza Zenetti zum Verweilen ein. (c) raumzeug, Fotograf: Johann-Christian Hannemann

Zwischen-Nutzen bietet Raum für Innovation und Partizipation

Die Möglichkeit, an der Gestaltung mitzuwirken, weckt oft eine starke Identifikation mit dem Ort und fördert das Bewusstsein, sein Umfeld mitgestalten zu können. Das kann gerade in Nachbarschaften, die keine Möglichkeiten für Austausch und Aufenthalt außerhalb der eigenen Wohnung bieten, die ungenutzten Potentiale des Raums aufzeigen und damit neue Möglichkeiten schaffen. Die Praxis des Zwischen-Nutzens kann so weiteren Innovationen den Weg ebnen und als neue Form der Bürgerbeteiligung verstanden werden. Dabei werden Akteure sichtbar, die ansonsten weniger Einfluss auf die Gestaltung ihres Lebensraums haben, so zum Beispiel Kinder, ältere Menschen oder Geflüchtete.

Aber wo gibt es eigentlich in dicht besiedelten Städten noch Raum? Wenn Umbauvorhaben von kulturellen Zwischennutzungen begleitet werden, bringt das diese Orte oft erst in den Fokus der Öffentlichkeit und erzeugt so Aufmerksamkeit für einen leerstehenden Raum, der sich im Wandel befindet. So können diese Experimente den Diskurs öffnen und die Aufmerksamkeit auf die Potentiale der Orte, die uns umgeben, lenken. Im Rahmen des Zwischennutzungsprojekts Z Common Ground eröffnete die Hans Sauer Stiftung in Kooperation mit Guerilla Architects das temporäre Fitnessstudio Fit&Fun. Dabei wurde ein kostenloses Sportangebot geschaffen, das durch die ungezwungene, gemeinsame Tätigkeit Raum für neue Begegnungen schaffen konnte. Dadurch, dass der Ort zum Sport machen anregte, konnte im Gegensatz zu vielen als partizipativ deklarierten Angeboten tatsächlich eine breitere Gesellschaft teilnehmen und wurde von dem Angebot angesprochen. Für die kostenlose Teilnahme wurden die Besucher*innen gebeten, an einer Befragung teilzunehmen. So konnten auch Bedürfnisse von Menschen erfasst werden, die nicht die Zeit, den Zugang oder das Interesse daran haben, an anderen Plattformen zur Bürgerbeteiligung wie beispielsweise Nachbarschaftstreffs teilzunehmen.

Im Idealfall können Projekte wie diese auch längerfristig neue Räume für eine anwohner- und anwenderorientierte Nutzung öffnen und damit dem Gesetz des Höchstprofitablen etwas entgegensetzen.

Das temporäre Fitnessstudio „Fit and Fun“ öffnete den Raum für ungezwungenen Austausch beim Sport. (c) Hans Sauer Stiftung

Selbstausbeutung zugunsten der befristeten Möglichkeit auf Raum

Doch was passiert mit den Zwischennutzer*innen selbst nach dem Ablauf der befristeten Zeit in ihren Räumlichkeiten? Eine Zwischennutzung bietet die Chance zu experimentieren, die auch das Scheitern eines Projektes erlaubt, ohne dass ruinöse Folgen daraus entstehen.  Projekte, die in ihren temporär verfügbaren Räumen Erfolge verzeichnen, können im Idealfall auf sich aufmerksam machen und daraus bessere Chancen für ein längerfristiges Mietverhältnis ausmachen, denn: Auch nach der Zwischennutzung wird Raum benötigt.

Problematisch ist bei der temporären Vermietung, dass die ständige Suche nach einem Ort zum Bleiben für Betroffene nervenaufreibend und zermürbend ist. Diese Planungsunsicherheit kann zum Scheitern von Projekten und zu einer regelrechten Selbstausbeutung führen. Gerade für künstlerisch-kulturell Beschäftigte und deren Projekte wird Raum benötigt – der in dicht besiedelten Städten meist Mangelware ist. Kunst und Kultur sieht gut aus und wird gerne genossen, zahlen will da aber niemand so richtig dafür.

„Es gibt scheinbar keine anderen Möglichkeiten, um an Räume zu kommen“, sagt die Kulturwissenschaftlerin Simone Egger im Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk, „Oft hat man den Eindruck, das ist in München eher ein Feigenblatt. Das heißt, ein Bauunternehmen kann sich offen präsentieren und sagen, wir stellen unsere Räume zu Verfügung. Auf der anderen Seite, wenn eine Stadt, so dicht belegt ist wie München, ist das die oft einzige Möglichkeit an Räume und große Flächen zu kommen, die auch zentral liegen.“

In vielen Innenstädten ist die gewerbliche Nutzung von Flächen die lukrativste für Grundstücksbesitzer – die hohen Kosten verdrängen zahlreiche Akteure der Stadtgesellschaft von zentralen Orten. (c) unsplash, Fotografin: Erin Doering

Zwischennutzungen führen nicht selten zu Gentrifizierung

Für diejenigen, die Flächen für Zwischennutzungen großzügig ausschreiben, bietet die Zwischennutzung eine gesellschaftlich positiv konnotierte Form der Aufschiebung von Entscheidungen, was mit dem Raum langfristig passieren könnte. In nicht wenigen Fällen führt das wiederum zu einer Privatisierung und Ökonomisierung von Flächen – zudem manchmal zu untragbaren Bedingungen.

Ein Beispiel: In der Münchener Innenstadt steht das ehemalige Gesundheitshaus in der Dachauer Straße für eine Zwischennutzung von fünf Jahren zur Ausschreibung. Bedenklich ist allerdings der Zustand, in dem die Stadt möglichen Interessenten die Räume übergibt: In dem Exposé des Gebäudes heißt es unter anderem, dass Asbest selbständig zu entsorgen sei, kein Brandschutz vorliege und die Wasserleitungen von Legionellen befallen sind. Eine Zwischennutzung klingt so nach einer günstigen Gelegenheit, das Gebäude wieder in Schuss zu bringen und aufzuwerten – aber das auf Kosten derjenigen, die eigentlich nicht dafür verantwortlich sind.

Sind Zwischennutzungsprojekte erfolgreich, steigert die Immobilie ihren Wert und die Nutzer müssen nicht selten weichen. Ein Zusammenhang zwischen Zwischennutzungen und Gentrifizierung ist dabei in jedem Fall zu ziehen. In strukturschwächeren Regionen kann dies zu einer Aufwertung und Belebung von ungenutzten Flächen führen, in dicht besiedelten, teuren Stadtgebieten verdrängt dies unkommerzielle, experimentelle Initiativen und deren Betreiber*innen.

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Das könnte ein ewiger Fluch der Zwischennutzer bleiben: Ist ein Konzept erfolgreich, stürzen sich sofort vielfältige Verwertungs- und Vermarktungsinteressen auf die Orte und Räume. Allerdings kann die Kritik zu Erneuerungen des Verfahrens führen, die wir dann als Prozessinnovationen einordnen können. So geschehen im Ruffinihaus in München: War in dem geschichtsträchtigen Haus mitten in der Innenstadt nur eine vorübergehende Zwischennutzung von drei Monaten für Künstler*innen, experimentelle Start-Ups und soziale Initiativen vorgesehen, werden in dem unteren Stockwerk nach dem Umbau des Hauses nochmals für zwei Jahre oder mehr Raum für die vormaligen Zwischenmieter*innen angeboten.

Es kommt also auch hier darauf an, wie der Prozess der Zwischennutzung und die Auswahl der Nutzer*innen von statten geht und wer die Konditionen beeinflusst. Längerfristig bleibt das Problem, dass auch kreative, engagierte, diverse Personen und Konzepte voller Elan Raum jenseits des Prekären brauchen – der in einer Stadt auch sichtbar sein sollte. Gesellschaftlicher Wandel braucht Raum um auszuprobieren, gesehen zu werden und unterschiedliche Einflüsse einzubauen. Für gegenwärtige Herausforderungen gibt es oft nicht eine ideale Lösung, sie anzugehen, bedeutet, scheitern und danach weitermachen zu können. Dafür braucht es immer wieder neue Möglichkeiten und eine gewisse Konsistenz, dass es Raum gibt und geben wird – so kann die Stadt vom vielfältigen Potential ihrer Gesellschaft profitieren, anstatt einen Wegzug eben dieser zu erleben.

Die nicht-kommerzielle Nutzung von beliebten, frequentierten Flächen sowie von unentdeckten, schlummernden Kleinoden ist keine Verschwendung. Für einen Städtebau des Gebrauchs sollten Zwischennutzungen nicht als Verwertungslücke im Lebenszyklus einer Immobilie fungieren. Sie bieten das Potential, Menschen an für sie ungewöhnlichen Orten zusammen zu bringen, Engagement für die Gestaltung von Raum zu fördern und Projekte, Personen und Initiativen sichtbar zu machen, die wir sicher gern öfter sehen wollen.


(c) Beitragsbild: Hans Sauer Stiftung

Einmal zuhören bitte! Die besten Podcasts zu gesellschaftlichem Wandel und Nachhaltigkeit

10. März 2020 By

Wer, wie, was? Das Angebot an Podcasts ist riesig. Wir helfen dir den Überblick zu behalten.

Podcasts haben in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebt. Kaum ein Tag vergeht, in dem nicht ein neues Format das Licht der Welt erblickt und um die Gunst der Hörer*innen buhlt. Thematisch gibt es dabei kaum etwas, dass es nicht gibt. Ob Politik-, True Crime- oder Talkformate – fast jede*r dürfte von einem Lieblingspodcast schwärmen können. Aber wie sieht es dabei eigentlich in Sachen Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Wandel aus? Wer erzählt hier die spannenden Geschichten über aktuelle Geschehnisse? Wer findet Antwortvorschläge auf die Fragen unserer Zeit? Wir haben uns einmal umgehört und ein paar nicht zu verachtende Formate zusammengetragen.

Hotel Matze

Seit 2016 öffnet einmal pro Woche das Hotel Matze seine Pforten. Matze hört dabei auf den Nachnamen Hielscher und ist hauptberuflich Co-Gründer und Chef der „Mit Vergnügen“-Familie. Die Gäste seines Hotels sind dabei von ziemlichen Rang und Namen. Sophie Passmann, Frank Elsner oder Anne Will sind nur einige davon. Besonders spannend ist der Podcast für all diejenigen, die sich selbst als Gründerinnen oder Gründer bezeichnen wollen. Denn Matze interessiert sich im Gespräch mit seinen Gästen vor allem dafür, wie es ist, etwas auf die Beine zu stellen und mit dem Ergebnis als Mensch umgehen zu können. Einmal im Monat gibt es dann, zusammen mit dem Co-Gründer von Einhorn-Kondome, Philip Siefer, Einblicke in den Berliner Gründer*innen-Alltag.

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Lage der Nation – der Politik-Podcast aus Berlin

Politik geht uns alle etwas an. Aber was ist eigentlich los auf dem politischen Parkett hierzulande und welche Hintergründe gibt es zu dem aktuellen politischen Geschehen in Berlin und anderswo? Seit 2016 wird der Podcast gemeinsam von dem Journalisten Philip Banse und dem Richter und Bürgerrechtler Ulf Buermeyer moderiert. Scharfsinnig werden dabei Woche für Woche Themen analysiert und diskutiert, die vom Wandel in unserer Gesellschaft zeugen. Hinterleuchtet wird etwa, was die Rechtsprechung zur Mietpreisbremse sagt, was eigentlich das Klimakabinett macht und wie es zu rechten Terror kommen kann.

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Süddeutsche Zeitung: Das Thema

In diesem Podcast gibt es jede Woche Hintergrundwissen aus der SZ-Redaktion zu aktuellen gesellschaftlichen Themen. In einer guten halben Stunde wird dabei verschiedensten Themen auf den Grund gegangen. Die SZ-Autoren Vinzent-Vitus Leitgeb und Laura Terberl kuratieren und moderieren dabei Themen wie die rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz, Gender-Medizin oder gehen der Frage nach, wie sinnhaft die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommen sein kann. Der Podcast ist dabei kurz, knapp und damit ziemlich informativ gehalten und dabei niemals langweilig.

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Wird das was? – der Digitalpodcast

Die Frage in der Überschrift ist Programm dieses Podcasts. So geht es in den alle zwei Wochen erscheinenden Sendungen vor allem um den digitalen Wandel in unserer Gesellschaft und wie dieser eigentlich funktionieren kann. Gar nicht mal so leicht zu beantworten. So handelt der Podcast nach eigener Wortwahl „über das komplizierte Leben in einer digitalen Welt“. Die Digitalredakteure aus dem Dunstkreis der Zeit ONLINE-Redaktion diskutieren dafür mit führenden Köpfen aus Wirtschaft und Forschung. Gäste waren bereits unter anderem die Vorsitzende des deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz, Jana Koehler oder der CTO und Vizepräsident von Amazon, Werner Vogels.

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Darf sie das?

Mal ganz ehrlich: Wer der Meinung ist, dass es sich mit der Gleichbehandlung bereits fertig diskutiert hat, läuft entweder mit Scheuklappen durch die Welt oder sollte einmal dringend in den Podcast von Nicole Schöndorfer reinhören. In „Darf sie das?“ diskutiert die freie Journalistin wöchentlich Themen, die sich mit den vermeintlichen Rollenbildern unserer Gesellschaft auseinandersetzen. Den Blick auf das aktuelle Geschehen in Politik und anderswo verliert sie dabei nie. So wird im Podcast etwa darüber gesprochen „Worüber wir im Zuge der Corona-Krise reden müssen“ und was „Häusliche Gewalt und Misogynie in Zeiten der Pandemie“ bedeuten.

https://open.spotify.com/show/6rUsAIsgWV5q4qL89TQGBR?si=1y6WgWpOSa6JMf1Mj_CeqA 

Sein und Streit – Das Philosophiemagazin

Wer sind wir und wer sagt, dass wir sind, wie wir sind? Die Antworten zu solch philosophischen Fragen könnten wohl kaum unterschiedlicher ausfallen – das hat zumindest bereits die Vergangenheit bewiesen. Wie wir in Zukunft zusammenleben, bestimmt wiederum die Diskussion und damit nicht zuletzt der Streit. Wöchentlich wird dafür vom Deutschlandfunk mit dem Philosophiemagazin und Podcast „Sein und Streit“ ein „akustischer Denkraum: über Alltägliches und Akademisches, über Sinn und Unsinn“ eröffnet. Moderiert von Simone Miller diskutieren darin Philosoph*innen wie Monika Betzler oder Robin Celikates über das Wesen der Willensschwäche oder über die EU-Flüchtlingspolitik.

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Deutschlandfunk: Umwelt und Verbraucher

Der wöchentliche Podcast des Deutschlandfunk will nicht nur erklären, was es mit Umweltschutz auf sich hat und warum dieser notwendig ist, sondern gibt in den einzelnen Sendungen auch nützliche Tipps und Anleitungen dazu, wie jede*r Einzelne einen eigenen kleinen Beitrag zur nachhaltigen Gestaltung unseres Alltags leisten kann. Die Themen sind dabei vielseitig: Wie lässt sich mit einer veganen Lebensweise CO2 einsparen oder durch eigene Stromerzeugung die eigene Klimabilanz verbessern? Genauso werden gemeinsam mit Expert*innen aktuelle Geschehnisse, wie die Waldbrände im Amazonas oder die Herstellung synthetischer Treibstoffe diskutiert.

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Tonspur N – Der Podcast zu Nachhaltigkeit und CSR

Tonspur N, das ist – wie es von dessen Macher*innen selbst heißt – „der Podcast zu Nachhaltiger Entwicklung, gesellschaftlicher Verantwortung von Unternehmen und Sozialem Unternehmertum“. Dahinter stecken Annemarie Harant und Roman Mesicek, die seit nun schon 2015 alle 14 Tage einen umfassenden Überblick zu den Themen in der Social-Entrepreneurship-Szene geben. Dabei gibt es unter anderem Ausblicke und Rückblicke auf Veranstaltungen, Buchempfehlungen sowie verschiedene Interviews zu hören. Anfang 2019 haben Annemarie und Roman bekanntgegeben, dass es erstmal eine Pause für die Tonspur N geben wird. Für alle, die zum ersten Mal vom Podcast gehört haben, gibt es erstmal eine Menge nachzuhören und auch sonst gibt es keinen Grund zur Traurigkeit, denn ab nächsten Jahres wollen beide wieder starten und uns in Sachen Nachhaltigkeit wieder auf dem Laufenden halten.

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A mindful mess

Madeleine Daria Alizadeh ist der Name, der hinter dem wohl besser bekannten und digitalen Alias „dariadaria“ steckt. Wer sie kennt, weiß, dass dariadaria nicht nur eine erfolgreiche Influencerin und Betreiberin eines eigenen Modelabels ist. Denn sie ist dabei vor allem eine Verfechterin für mehr Nachhaltigkeit und das auf allen Ebenen. Ganz egal also, ob beim Umweltschutz in der Modeindustrie oder bei Sexismus-Debatten im öffentlichen Leben – genau diese Themen werden erklärt, diskutiert und hinterfragt. Dafür gibt es nun schon seit 2017 einen Podcast mit dem Titel „a mindful mess“. Wer ihn hört, lernt dabei vor allem etwas über Persönlichkeitsentwicklung und nachhaltiges Leben.

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Urbane Dörfer – Eine Studie zeigt wieviel digitales Potential im Land steckt

24. September 2019 By

Mittlerweile dürfte es bis in die letzte Ecke der Bundesrepublik hervorgedrungen sein, dass auch hierzulande Großstädte aus allen Nähten platzen. Warum also nicht einfach aufs Land ziehen – Digitalität macht es jedenfalls möglich.

Als ich mit der Hälfte meiner Familie weggezogen bin, war ich das, was man einen pubertären Teenie nennen kann. Mittlerweile wohne ich fast so lange in meiner neuen Heimat, wie jemand von dessen Geburt an braucht, um das Abitur zu bestehen und um den Führerschein zu machen. Dort wo ich ursprünglich herkomme, ist der Führerschein essentiell. Denn ich komme vom Land. Wer dort versucht sein Leben ohne motorisierten Untersatz zu meistern, wird aller Voraussicht nach kläglich scheitern. Aber dort wo ich herkomme, kann man auch aus anderen Gründen scheitern. Ich komme aus einer Kleinstadt im – sagen wir mal – Dreiländereck zwischen Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Eine Gegend die nicht wirklich bekannt ist für ihre wirtschaftliche Stärke, die sie aber durchaus hatte.

Nach der deutschen Wiedervereinigung  sollten es die blühenden Landschaften regeln. Zunächst haben aber erstmal viele Menschen in dieser und anderen Gegenden in den nun mehr 30 Jahre alt gewordenen „neuen“ Bundesländern oft vergebens um ihre Identität und soziale Absicherung gekämpft. Meist haben sie diese gegen Treuhand, Ignoranz und nicht selten Arroganz verloren. Aber genug mit der Schwarz-Weiß-Malerei: denn der „Osten“ kann mehr als jammern oder rechte Parolen rufen – was in einigen Gegenden erschreckend normal geworden ist und ein riesen Problem ist. Dass in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern vielleicht bald wieder mehr geht, liegt am Land-Joker der jetzt durch einen fortschreitenden digitalen Wandel ins Spiel kommt. Dort wo Industrien und Lebenspläne zerbrochen sind, bietet günstiger Raum und digitale Kopfarbeit wieder Potentiale für ein Comeback der Provinz.

Menschen wandern, Dörfer werden urban    

Um herauszufinden, was sich da auf dem Land zwischen sächsischem Vogtland und Rügen so tut, welche Potentiale einer digitalen Zukunft dort liegen, muss zunächst mal ein subjektives Ich einem objektiven Faktencheck Platz machen. Solche Fakten haben vor nicht allzu langer Zeit das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung gemeinsam mit dem gemeinnütziger Think & Do Tank neuland21 anhand der Studie „Urbane Dörfer – Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann“, geliefert. Was dort mit einem besonderen Blick auf die besagten Bundesländer erörtert wird, sind erstmal die Folgen, die sich aus dem demografischen Wandel innerhalb unserer Gesellschaft beobachten lassen und wie sich diese auf die Lebensbedingungen und -chancen in der Stadt und auf dem Land auswirken.

Laut Studie konnten von 2012 bis 2017 Großstädte wie Leipzig, Dresden und Berlin einen stetigen Bevölkerungszuwachs verzeichnen. Ländliche Regionen müssen dagegen einen großen Bevölkerungsschwund verzeichnen. (c) Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung, neuland21 (optimierte Darstellung)

Das Verhältnis von Stadt und Land wird sich dabei wohl neu definieren. Im Wandel ist jedenfalls so einiges. So zieht es laut Studie sogenannte „Bildungswanderer“ zwischen 18 und 24 Jahren in die größeren Städte wie Potsdam, Dresden, Leipzig, Erfurt, Rostock oder Jena. Andere und vor allem großstadtferne Regionen jedoch, verzeichnen auch weiterhin einen massiven Bevölkerungsschwund. Wohnten etwa 1990 in Sachsen-Anhalt noch rund 2.9 Millionen Menschen, sind es heute nur noch 1.9 Millionen. Gründe für eine derartige Entwicklung bestehen laut Studie vor allem darin, dass viele der untersuchten ländlichen Regionen keine ausreichende Infrastruktur für die Ausbildungsversorgung einer modernen Wissensgesellschaft liefern. So gibt es kaum Universitäten und höhere Schulen im ländlichen Raum. Gleichwohl ist es die Attraktivität des kulturellen Angebots, aber auch das an Arbeitsplätzen, was vor allem junge Menschen in Großstädte wie Leipzig, Berlin und Dresden zieht. Das Land, sofern es nicht unmittelbar an urbane Zentren angeschlossen ist, bleibt also der große Verlierer.

Der digitale Wandel zum Guten

Aber laut der Studie gibt es ebenso Grund für ein ländliches Hoffen. Das nicht nur deshalb, da immer mehr Familien aufgrund von explodierenden, städtischen Immobilienpreisen nach günstigen Alternativen auf dem Land Ausschau halten, sondern weil – im Wortlaut der Studie – „kreative, digital affine Stadtbewohner“ in virtuellen und realen Gruppen zusammenfinden, um zu diskutieren, wie ein Leben auf dem Land für sie attraktiv sein kann. Solche digitalen Pioniere die rein theoretisch von überall auf der Welt ihrer Arbeit nachgehen können, bringen eine Arbeitsweise aufs Land, die bereits in vielen Teilen unseres Arbeitsalltags selbstverständlich geworden ist. So arbeiten wir laut Studie mittlerweile fast schon wie selbstverständlich unterwegs im Zug und verschicken unserer Mails bequem aus unserer, als Home-Office umfunktionierten Küche heraus. Warum also nicht auch auf dem Land arbeiten?

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Wie funktioniert digitales Leben auf dem Land? Einige Menschen gehen dieser Frage mit eigenen kreativen Projekten nach. (c) Tagesschau vom 12.08.2019, ARD/RBB

Diese Frage stellen sich, laut Studie, immer mehr Menschen. Das interessante: Ein paar Menschen von denen, die den Schritt von der Großstadt aufs Land wagen, nehmen nicht einfach ihre Arbeit mit, indem sie einfach ein neues, ländliches Home-Office-Quartier aufschlagen oder indem sie sich beispielsweise  als Lehrer oder Ärztin eine neue Anstellung suchen. Vielmehr versuchen einige der neuen Landbewohner*innen nach ihrem Umzug raus aus der Stadt nicht nur wohnlich, sondern auch beruflich neue Wege zu gehen. Das ist oftmals verbunden mit der Organisation in Gemeinschaftsprojekten und Unternehmensgründungen. Ein positiver Effekt: Diese Geschäftigkeit beinhaltet nicht selten die Umsetzung kreativer Ideen: So werden Hofläden konzipiert, Cafés betrieben, Galerien eröffnet oder Kulturfestivals ins Leben gerufen.  Positiv sind solche Vorhaben vor allem deshalb, da so abgeschriebene Landstriche zu neuem Leben erweckt werden und letztlich so ein kultureller Austausch stattfinden kann.

Einzelfälle mit strahlender Wirkung 

Bilden Projekte und Unternehmen, die solche Ideen in die Realität umsetzen, zwar eher eine Ausnahme statt die Regel, wird ihnen innerhalb der Studie doch aber das Potential zugesprochen, als „Digitale Inseln“ bisher strukturschwachen Dörfern den Weg in die Zukunft zu ebenen. 19 solcher ganz konkreten Projekte hat die Studie näher unter die Lupe genommen. Darunter etwa die Genossenschaft „Uferwerk“ im brandenburgischen Werder an der Havel, deren Mitglieder ein altes Fabrikgelände zu einem Mehrgenerationenwohnort umgebaut haben und nebenbei ein Lebensmittelkooperative ins Leben gerufen. Ein anderes Beispiel ist etwa der Verein „Kultur- und Bildungsstätte Kloster – Posa e.V.“ vor den Toren der einst blühenden Industriestadt Zeitz. Inmitten des Mitteldeutschen Braunkohlereviers hat sich ein Gemeinschaftsprojekt angesiedelt, dass auf dem Gelände eines ehemaligen, gleichnamigen Klosters ein breites Veranstaltungsangebot in Kultur und Bildung schafft, um – wie es auf der eigenen Website heißt – „die Vernetzung und den Austausch in diesen Disziplinen zeitgenössisch und nachhaltig zu fördern sowie Aspekte des gemeinschaftlichen Lebens miteinander zu vereinen.“

Die Studie hat exemplarisch 19 Projekte und Initiativen untersucht, die ländliche Regionen mit neuen und kreativen Ideen wiederbeleben wollen. (c) Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung, neuland21 (optimierte Darstellung)

So oder so ähnlich begreifen fast alle Projekte ihren Auftrag. Das Land sozial wiederbeleben. Die Menschen hinter diesen Projekten sind laut Studie meist Akademiker*innen die vor allem kreative und wissensbasierte Berufe ausüben. Ansonsten könnten die Unterschiede der einzelnen Projekte teilweise kaum größer sein. So gibt es unter ihnen solche, die nur von einer Handvoll umgesetzt werden, während andere „einen der größten Viehhöfe Brandenburgs“ wieder zu neuen Leben erwecken. Eines haben aber alle Projekt gemeinsam: Sie setzen neue Impulse und zeigen vor allem eines: Es geht auch anders.

 

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