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Über die Diffusion von Innovation

10. Dezember 2018 By

Wie sich Neuerungen in der Gesellschaft verbreiten und was GründerInnen aus diesem Prozess lernen können

Aus Nachhaltigkeitssicht haben wir in Deutschland nicht primär ein Innovationsproblem, sondern ein Diffusionsproblem.

Klaus Fichter und Jens Clausen, 2013

Wir leben über unsere Verhältnisse und brauchen dringend innovative technische und soziale Lösungen, um zu einem nachhaltigeren Lebensstil zu gelangen – könnte man meinen. Aber das Problem ist nicht der Mangel an Innovationen an sich, sondern deren mangelnde Verbreitung in unserer Gesellschaft – die Diffusion. Denn nur wenn nachhaltige Produkte oder Problemlösungen umfassend als Alternative erkannt und angenommen werden, sorgen sie auch dafür, dass nicht Nachhaltiges aus der Gesellschaft verdrängt wird. Eine weitreichende Diffusion der eigenen Innovation muss also das Ziel eines jeden Social Entrepreneurs und Ecopreneurs sein. Aber eins nach dem anderen.

Diffusion – was ist das?

Das Wort Diffusion hat wahrscheinlich jeder schon mal gehört – meist aber nicht im Zusammenhang mit Innovationen, sondern mit Chemie. Dort bezeichnet das Wort die selbständige Durchmischung von unterschiedlichen Stoffen aufgrund von Molekularbewegungen, zum Beispiel von Tinte in Wasser. Abgeleitet ist das Wort Diffusion vom lateinischen diffundere, was ausgießen, sich verstreuen oder ganz allgemein sich verbreiten heißt. In dieser Bedeutung wurde der Begriff auch für die Verbreitung von Neuerungen in einem sozialen System verwendet.

Neue Ideen und Konzepte, seien es Produktprototypen, Technologien oder auch soziale Praktiken, werden als Inventionen bezeichnet. Mit ihrer Einführung auf dem Markt oder in die Gesellschaft werden sie dann zu Innovationen – die darauffolgende Übernahme (Adaptation) durch eine wachsende Zahl von Nutzern und die damit einhergehende Verbreitung in der Gesellschaft wird anschließend als Diffusion der Innovation bezeichnet. Wenn ausreichend viele Menschen eine Innovation angenommen haben, wird das Ergebnis des Diffusionsprozesses in der Gesellschaft sichtbar. Die Gründe für eine solche Entwicklung sind aber weit weniger offensichtlich – sie sind sowohl auf persönliche Entscheidungen von Individuen, als auch auf gesamtgesellschaftliche Prozesse zurückzuführen. Die Herausforderung in der Erforschung und Erklärung von Diffusion liegt also darin, diese gegensätzlichen, aber sich beeinflussenden Prozesse in die Betrachtung zu integrieren.

Die Diffusion von Innovationen nach Rogers

Die Diffusion von Innovationen nach Rogers 

Die meisten heute gängigen Diffusionstheorien beziehen sich in ihren Grundlagen auf die Werke des amerikanischen Soziologen und Kommunikationswissenschaftlers Everett Rogers. Rogers betrachtet dabei vier Elemente, denen er eine zentrale Rolle beim Diffusionsprozess zuschreibt:

Die Beschaffenheit der Innovation

Unter diesem Punkt beschreibt Rogers, welche Vorzüge eine Neuerung für den potentiellen Adaptor hat und welche Eigenschaften hinderlich für eine Adaptation der Innovation sind.

  • Die Relative Vorteilhaftigkeit gegenüber einer etablierten Lösung ist wohl der entscheidendste Vorzug. Eine Neuerung kann in Bezug auf die technische Leistungsfähigkeit, die Effizienz, das Preis-Leistungsverhältnis aber auch hinsichtlich von sozialem Prestige Vorteile bieten, die ein Bekenntnis zur Innovation begünstigen. Ein Beispiel hierfür wären Smartphones, die unter anderem die Vorteile von Telefonen, Computern, Kalendern und so weiter kombinieren und dem Nutzer so mehr Vorteile bieten.
  • Eine hohe Kompatibilität der Neuerung mit vorhanden Bedürfnissen, Technologien oder sozialen Praktiken wirkt sich ebenfalls positiv auf das Adaptationsverhalten aus. Dies ist zum Beispiel gegeben, wenn das neue Handy mit anderen Endgeräten kompatibel ist.
  • Eine Komplexität der Innovation, die über das Verständnis des Nutzers hinausgeht, wirkt sich hingegen hinderlich auf den Innovationsprozess aus.  Beim Beispiel Smartphone trifft dies unter anderem auf ältere Menschen zu, die mit anderen Technologien aufgewachsen sind.
  • Die Möglichkeit zur Erprobung der Innovation kann aber dazu beitragen, Unsicherheit abzubauen und Informationen über ihren Nutzen zu vermitteln. Die Flagshipstores von Smartphone Herstellern sind zum Beispiel oft so gestaltet, dass dies bestmöglich umgesetzt wird.
  • Wenn Vorzüge beobachtbar werden, weil die Innovation Einzug in das persönliche Umfeld des potentiellen Nutzers hält, kann dies ebenso wirken. Wenn zum Beispiel ein Freund ein neues Handy benutzt und die Vorteile so offenkundig werden.

Kommunikationskanäle

Während unter dem Element Beschaffenheit die tatsächlichen Vor- und Nachteile der Innovation betrachtet werden, erreichen diese Informationen in der Praxis den Nutzer auf verschiedenen Wegen und werden dabei gefiltert und persönlich gefärbt.

  • Innerhalb des sozialen Umfeldes verbreiten sich Informationen relativ langsam über persönliche Kontakte. Dies beeinflusst die Menschen aber vergleichsweise stark in ihrer Entscheidung für oder gegen eine Innovation. In homogenen Gruppen von Gleichgesinnten verbreiten sich Innovationen schneller, wohingegen es bei heterogenen Gruppen zu einer zwar langsameren, aber umfassenderen Verbreitung in der Gesellschaft kommt.
  • Massenmedien wie Radio, Fernsehen und Printmedien bieten seit langer Zeit dagegen eine schnelle und effektive Möglichkeit, eine große Zahl von potentiellen Nutzern zu erreichen. Da aber hier direkte zwischenmenschliche Kontakte fehlen, bleibt eine höhere Unsicherheit zurück. Durch Internet und Soziale Medien gibt es hier aber mittlerweile hohe Überschneidung mit dem Kommunikationsprozess innerhalb des sozialen Systems

Zeitliche Dimension des Diffusionsprozesses

Hier wird ein Augenmerk auf die individuelle Entscheidung der Menschen und die persönlichen Hintergründe gelegt, die den Entscheidungsprozess für oder gegen eine Innovation beeinflussen.

  • In der Wissensphase wird eine Person durch einen Kommunikationskanal mit der Existenz einer Innovation konfrontiert und erhält dadurch erste Informationen. Dies kann die Person mit einem unterschiedlich hohen Maß an Unsicherheit zurücklassen.
  • In der Überzeugungsphase findet eine tiefere Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit der Innovation statt, woraufhin sich die Person eine Meinung bildet.
  • In der Entscheidungsphase findet die Entscheidung für oder gegen die Innovation statt, was aber nicht zwangsweise die sofortige Adaptation der Neuerung bedeutet.
  • In der Umsetzungsphase findet dann die aktive Anwendung der Innovation statt, in der es auch zu einer Anpassung an die eigenen Bedürfnisse kommen kann.
  • In der letzten Phase, der Umsetzungsphase wird die Entscheidung schließlich bekräftigt oder aber revidiert.

Adaptorenkategorien

Rogers teilt zudem die Gesellschaft in verschiedene idealtypische Adaptorenkategorien ein, die sich in Bezug auf ihre Kommunikationsverhalten, ihre Position im sozialen Gefüge und ihre persönlichen Werte unterscheiden. Damit bezieht er die persönlichen Hintergründe der Nutzer mit ein. 

Die Blaue Kurve zeigt den prozentualen Anteil der verschiedenen Adaptorenkategorien in der Bevölkerung, welche sich an einer Normalverteilung orientiert. Die damit verbundene braune Kurve zeigt den Verbreitungsgrad der Innovation in der Bevölkerung. Haben alle Arten von Adaptoren eine Innovation angenommen, erreicht diese Adaptationsrate 100 Prozent.

  • Die Pioniere sind laut Rogers die ersten Menschen, die eine Neuerung annehmen – sie sind neuem Gegenüber sehr affin, risikofreudig und können finanzielle Verluste verkraften. Sie sind aber eher kosmopolitisch orientiert und haben dadurch eine Sonder- oder sogar Außenseiterrolle in der Gesellschaft inne. Dies trifft zum Beispiel auf Menschen zu, die gerne mal vor einem Laden übernachten, um das neueste Smartphone als Erste zu bekommen und sich auch sonst eher im Silicon Valley verorten würden als in der deutschen Kleinstadt.
  • Die Frühen Anwender teilen viele Eigenschaften mit den Pionieren, sind aber stärker in das lokale System integriert sind und nehmen deswegen dort oft eine Meinungsführerschaft oder Vorbildrolle ein. Sie übernehmen zum Beispiel zügig die neue Handytechnologie, weil sie hierin eine echte Verbesserung sehen. Während sich die ersten beiden Gruppen durch eine Affinität gegenüber Neuem auszeichnen, lassen sich die nachfolgenden Gruppen anhand von einer wachsenden Skepsis gegenüber Neuem charakterisieren.
  • Bei der frühen Mehrheit dominiert zwar eine wohlüberlegte Vorsicht, es findet aber eine aktive Auseinandersetzung mit Innovationen statt und die Meinungsführer werden als Vorbild wahrgenommen. Wenn zum Beispiel eine gewisse Anzahl an Menschen gute Erfahrungen mit der neuen Generation von mobilen Endgeräten gemacht hat, wechselt auch diese Gruppe bereitwillig zum Smartphone.
  • Die darauffolgende späte Mehrheit übernimmt die Innovation hingegen erst aufgrund von gesellschaftlichen Druck oder ökonomischer Notwendigkeit, das Risiko dabei muss dabei geringstmöglich sein. Sie wechseln zum Beispiel erst zu einem Smartphone, wenn sie feststellen, dass sie ohne Messenger-Apps kaum noch jemanden erreichen.
  • Nachzügler übernehmen die Innovation sehr spät oder auch gar nicht, was an extremer Skepsis, sozialer Isolation aber auch an begrenzten finanziellen Ressourcen liegen kann. Ein Beispiel hierfür sind Menschen, die vielleicht nicht einmal ein Handy besitzen, sondern ausschließlich über das Festnetz telefonieren.

Soziales System des Diffusionsprozess

Mit diesem Element werden anschließend noch gesellschaftliche Aspekte miteinbezogen. Werte und Normen können als etablierte Verhaltensmuster den Diffusionsprozess positiv oder negativ beeinflussen. Institutionelle Bedingungen und Machtgefälle sorgen für Ungleichheiten in der Gesellschaft und geben einzelnen Akteuren die Möglichkeit, die Verbreitung von Innovationen zu fördern oder zu erschweren. Erreicht eine Innovation hingegen einen ausreichend großen Teil der Bevölkerung, so steigt auch in der übrigen Bevölkerung die Bereitschaft zu Annahme der Innovation. Es gibt dann nämlich mehr direkte Kommunikationskanäle und die Beobachtbarkeit von Vorteilen erhöht sich. Zudem geraten Nachfolger unter den der Druck, nicht den Anschluss zu verlieren. Dies wird als Effekt der kritischen Masse bezeichnet.

Lehren aus Rogers Theorie

Die Diffusionstheorie kann verwendet werden um zu erklären, wie sich bestehende Innovationen verbreitet haben und sie kann auch Anhaltspunkte dafür liefern, wie eine Innovation aussehen muss, damit sie sich möglichst gut verbreitet. Dies kann für angehende GründerInnen eine wertvolle Grundlage bei der Analyse von Nutzerbedürfnissen und der Definierung von Zielgruppen sein. Auch für die Ausarbeitung einer Marketingstrategie kann ein Verständnis von Diffusionsvorgängen hilfreich sein.

Aus der Diffusionstheorie kann aber auch die Lehre gezogen werden, dass große Teile der Bevölkerung Innovationen mit einer gewissen Vorsicht oder sogar Skepsis gegenüberstehen. Außerdem verbreiten sich Innovationen zwar relativ schnell innerhalb von homogenen Zielgruppen, allerdings nur langsam zwischen verschiedenen Gruppen. Daher ist eine laufende Anpassung von Zielgruppen und Strategien erforderlich, die die verschiedenen Nutzergruppen adressieren. Während sich frühe Adaptoren durch eine hohe Risikofreudigkeit auszeichnen, wird es bei den späteren Nutzergruppen immer wichtiger, Unsicherheitsfaktoren zu eliminieren und auf die Vorerfahrungen der Menschen aufzubauen. Auch eine Anpassung kann daher erforderlich sein, um auf unterschiedliche Nutzerbedürfnisse einzugehen.

Das Diffusionsproblem

Die Diffusionsforschung zeigt aber vor allem auch, wie schwierig es ist, die ganze Gesellschaft mit einer Innovation zu erreichen. Große Teile der Bevölkerung nehmen Neuerung nur an, wenn es dazu eine ökonomische Notwendigkeit gibt oder der gesellschaftliche Druck sie dazu zwingt. Da sie auch nur schwer über Kommunikationskanäle zu erreichen sind, geben sie daher keine sonderlich vielversprechende Zielgruppe für einen Unternehmer ab. Aus der Logik eines etablierten Unternehmens heraus macht es daher Sinn, nur einen gewissen Verbreitungsgrad in der Gesellschaft anzustreben und dafür im Gegenzug sicher zu gehen, dass das neue Produkt in dieser Zielgruppe gute Verkaufszahlen erzielt. Daher werden Neuerungen anhand der Wünsche der Kunden geschaffen, was aber bedeutet, dass sie mit bestehenden Produkten und Erfahrungen kompatibel sein müssen. Innovationen, die sich von Bestehendem abgrenzen, entstehen so aber nicht.

Diese Logik ist nicht nur hinderlich für innovative Ideen und Entwicklungen, sondern auch eine große Herausforderung auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Gesellschaft: Zum einen werden dringend neue Produkte, Verfahren und Praktiken benötigt, die eine Alternative zu unserem aktuell wenig nachhaltigen Lebensstil bieten. Zum anderen müssen die Produkte und Verhaltensweisen, die hierfür verantwortlich sind, aber auch so weit wie möglich abgelegt werden. Diese Abschaffung von Altem wird als Exnovation bezeichnet und stellt quasi das Komplementär zur Innovation dar. Es ist daher unabdingbar, dass Innovationen, die sich die Erlangung von mehr Nachhaltigkeit in der Gesellschaft zum Ziel gesetzt haben, eine umfassende Verbreitung in der Gesellschaft finden.

Hier haben wir nun also das eingangs erwähnte Diffusionsproblem für Innovationen, die zu mehr Nachhaltigkeit in der Gesellschaft beitragen sollen: Eine umfassende Verbreitung ist zwar dringend notwendig, aber sie findet oft nur teilweise über die Grenzen einer an Nachhaltigkeit orientierten Zielgruppe hinaus statt.

Die Rolle des Sozialunternehmers

Eine herausragende Rolle bei der Lösung dieses Diffusionsproblems kommt (angehenden) Social Entrepreneuren und Ecopreneuren zu. GründerInnen mögen von vielen als Nischenakteure begriffen werden, doch auch in vermeintlich etablierten Märkten schaffen sie es immer wieder, Innovationen auf den Weg zu bringen, die zur Herausbildung von neuen Marktsegmenten und Branchen führen. Start-Ups verfügen damit über das Potential, Schlüsselmärkte neu zu definieren und damit auch zu einem Strukturwandel bei eingesessenen Unternehmen beizutragen. Dieses „greening“ von Großkonzernen kann wiederum zu einer verstärkten Verbreitung von Innovationen führen, die zu mehr Nachhaltigkeit beitragen wollen.

Die Ethik, die einem Gedanken im Augenblick seines Entstehens zugrunde liegt, prägt die Qualität und Wirkung des Erdachten

Hans Sauer 

Die Herausforderung für angehende Gründer bei der Erschließung neuer Schlüsselmärkte besteht darin, die Nachhaltigkeitsaspekte beziehungsweise die dahinterliegende Ethik einer Innovation nicht anzutasten, aber in möglichst allen anderen Beschaffenheiten der Neuerung den Nutzern die Adaptation so einfach wie möglich zu gestalten.

Sono Motors

Dass sich Start Ups mit einer Nachhaltigkeitsinnovation auch in Hochtechnologiemärkte vorwagen können, die scheinbar fest im Griff von Großkonzernen sind, zeigt Sono Motors. Von drei Münchner Studierenden gegründet, entwickelt es den Sion: Ein solarbetriebenes Elektroauto, das den Automobilverkehr nachhaltiger machen soll. Ein Elektromotor, der für den täglichen Gebrauch von auf dem Auto verbauten Solarzellen gespeist wird, spartanisches Design, integrierte Sharing-Konzepte und die Möglichkeit, den Solarstrom anderen zur Verfügung zu stellen. Hier findet eine Innovation statt, die der Erreichung von mehr Nachhaltigkeit dient. In allen anderen Bereichen versuchen die Macher, dem Nutzer den Wechsel möglichst einfach zu gestalten: Die Verwendung von Carry Over Parts, also bereits von anderen Herstellern entwickelten und genutzten Bauteilen und die Offenlegung des Reparaturhandbuchs garantiert den Anschluss und die Kompatibilität mit der bestehenden Serviceinfrastruktur anderer Hersteller. Diese Offenlegung reduziert darüber hinaus es die Komplexität der Technologie. Durch Crowdfunding und die Möglichkeit zur Anzahlung minimierte das Team das Risiko für den einzelnen sowie für sich selbst und mit Testfahrten in verschiedenen europäischen Städten wird das Konzept über die Grenzen Deutschlands hinaus erprob- und beobachtbar. Sono Motors steht mit diesem Konzept kurz vor dem Markteintritt – und eine große Zahl von Vorbestellungen zeigen, dass das Start Up dabei ist, ein neues, grünes Marktsegment in der sonst eher schmutzigen Automobilindustrie aufzumachen. 


(c) Beitragsbild: Wikimedia Commons Sion: Sono Motors

Nachhaltige Mobilität

4. Februar 2019 By

Der Weg zu einer Mobilitätskultur, die soziale und wirtschaftliche Grundbedürfnisse erfüllt und für Mensch und Umwelt verträglich ist

Unablässig zieht am Fenster des relaio-Redaktionsraum das geschäftige Treiben des Münchner Stadtverkehrs auf dem Mittleren Ring vorüber: Autos, Laster, Taxis, Lieferwägen, Busse. Zu Hochzeiten passieren fast 150.000 Fahrzeuge pro Tag den Abschnitt an der Landshuter Allee. Tausende Menschen pendeln zur Arbeit, werden mit Gütern und Waren versorgt und verschaffen sich Zugang zu Erholungsmöglichkeiten und Bildung. Die Verkehrswege sind gleichsam die Lebensadern unserer Gesellschaft. Mobilität ist ein Grundbedürfnis des Menschen, denn sie ermöglicht die Teilhabe am öffentlichen Leben.

Aber die Landshuter Allee zählt auch zu einer der am stärksten von Abgasen, Schadstoffen und Lärm belasteten Straßen Deutschlands, was ein hohes Gesundheitsrisiko für die Anwohner bedeutet. Mobilität bietet nicht nur eine gesellschaftliche Grundlage, sondern stellt auch eine Gefahrenquelle für Mensch und Umwelt dar. Der Verkehr ist in Deutschland für rund 20 Prozent des Ausstoßes der Treibhausgase verantwortlich und leistet damit einen erheblichen Beitrag zur Klimaerwärmung – Tendenz steigend. Innerhalb des Verkehrssektors fällt die Umweltbilanz des motorisierten Individualverkehrs, also der individuellen Nutzung von Kraftfahrzeugen, besonders gravierend aus. Hier kommen pro Kopf mehr Emissionen, ein höherer Flächenverbrauch und ein größeres Verkehrsaufkommen zusammen, als bei allen anderen Mobilitätsformen. Und fast drei Viertel aller täglichen Wege in Deutschland werden mit diesem Verkehrsträger unternommen. Unser Mobilitätsverhalten muss sich also dringend ändern: es muss emissionsarm, energiesparend und umweltverträglich sein, aber auch für alle Menschen die Teilhabe an Wirtschaft und Gesellschaft ermöglichen. Wie kann das möglich sein? Und welche Rolle können dabei soziale und technische Innovationen spielen?

Luftmessstation an der Landshuter Allee in München

Das Elektroauto als Problemlöser?

Wie steht es zum Beispiel um das Elektroauto? Von den großen Autokonzernen und neuen Konkurrenten wird in letzter Zeit immer mehr die Weiterentwicklung von Elektromotoren vorangetrieben. Wenn zum Laden Strom aus regenerativen Energiequellen verwendet wird, ist es in seinem Betrieb emissionsfrei und darüber hinaus leise und im Unterhalt günstig. Die Reichweiten steigen, die Anschaffungskosten werden langsam erschwinglicher und auch die Akkus laden schneller. Eine technologische Lösung, freilich noch nicht ausgereift, aber mit viel Potential.

Aber auch nur auf den ersten Blick, denn der reine Wechsel der Antriebsart löst nur einige Probleme von vielen. Der Elektroantrieb senkt zwar den Verbrauch von fossilen Energieträgern und minimiert Schadstoffemissionen, aber die Autos greifen immer noch auf die Infrastruktur für den motorisierten Individualverkehr zurück. In den 1960er Jahren wurde mit dem Konzept der autogerechten Stadt in vielen Städten der Industrieländer alles dem ungehinderten Verkehrsfluss von Automobilen untergeordnet. Getrennte Verkehrswege für motorisierten Verkehr, Radfahrer und Fußgänger wurden angelegt, die ein zügiges Vorankommen sicherstellen sollten. Schnellstraßen wurden in Richtung Stadtzentrum getrieben, wodurch bestehende Stadtviertel durchschnitten und schwer überwindbare Schneisen in über Jahrhunderte gewachsene Strukturen geschlagen wurden. Während das öffentliche Leben in den Innenstädten durch die Pendler erlahmte, kam es in den Randbezirken zur Herausbildung von nicht minder leblosen Trabantenstädten. Den Autos wurde die oberste Priorität in der Gestaltung des öffentlichen Raumes zugestanden, was die Städte bis heute prägt. Andere Formen der Mobilität dagegen müssen noch immer zurückstecken. Fußgänger sind gezwungen Umwege, Über- oder Unterführungen und lange Wartezeiten an Ampeln auf sich zunehmen. Radelnde müssen sich oft auf schmale Radwege zwängen, eingekeilt zwischen dem vorbeirauschenden Autoverkehr, sich öffnenden Türen von parkenden Autos und den Fußgängern. Dies stellt eine Gefahr für sie selbst und andere dar. Der öffentliche Personennahverkehr steckt zusammen mit den Autos im Stau fest oder musste in den Untergrund weichen – eine aufwändige und teure Lösung, die nicht überall umsetzbar ist. Damit nimmt das Konzept der autogerechten Stadt ihren Bewohnern die Möglichkeit, sich frei und sicher in ihr zu bewegen und sie damit zu beleben – eine planerische Sackgasse.

Schnellstraßen zerschneiden das Stadtbild und stellen schwer überwindbare Hindernisse für Fußgänger und Fahrradfahrende dar.

Der Weg zu einer Nachhaltigen Mobilität

Nachhaltige Mobilität bedeutet also mehr als Autos umweltfreundlich zu machen – es bedeutet auch Mobilität sozial und wirtschaftlich verträglich zu gestalten. Dafür müssen sich auch gewisse Grundvoraussetzungen in der Gesellschaft ändern, auch in Angelegenheiten, die auf den ersten Blick gar nicht so viel mit Verkehr an sich zu tun haben.

Die Reduzierung der Reiselänge und des Bedarfs sich fortzubewegen

Mobilität ist dann am umweltfreundlichsten, wenn man sie ganz vermeiden oder das Ziel bequem zu Fuß erreichen kann. Für das morgendliche Brötchen-Holen sind die wenigstens von uns aufs Auto angewiesen – für alles darüber hinaus kann es in manchen Gegenden schon schwieriger werden. Abhilfe dagegen kann die „Stadt der kurzen Wege“ bieten, die sich durch eine hohe Einwohnerdichte und diverse Nutzungsangebote auszeichnet. Eine solche menschengerechte Stadtplanung, in der neben Wohnungen auch Arbeits-, Versorgungs- und Erholungsmöglichkeiten zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar sind, macht Mobilität nicht nur nachhaltiger, sondern auch Städte lebenswerter. Dass ein lebendiges Viertel auch zu einer umweltverträglichen Mobilität beitragen kann, beweist auch die Onlineplattform nebenan.de. Wenn man sich die Bohrmaschine beim Nachbarn ausleihen kann und nicht mit dem Auto zum Baumarkt fahren muss oder man über das gemeinsame Straßenfest neue Freundschaften im Viertel schließt, entfällt so mancher Weg durch die Stadt.

Auch andere Fahrten lassen sich substituieren oder reduzieren: Online-Shopping und eine zentrale City Logistik können Fahrten zumindest bündeln, gemeinschaftliche und integrative Wohnformen sparen Wegstrecken und moderne Informations- und Kommunikationstechnologien ersetzten zunehmend persönliche Treffen. Sie werfen aber auch die Frage auf, bis zu welchem Grad eine Vermeidung des Bedarfs sich fortzubewegen noch persönlich und gesellschaftlich wünschenswert ist.

Die Herbeiführung eines Wechsels der Verkehrsmittel

Geschwindigkeit ist alles im Straßenverkehr! Könnte man meinen, wenn man das hektische Treiben des Großstadtverkehrs beobachtet. Doch für welches Verkehrsmittel sich jemand entscheidet, hängt oft von ganz anderen Faktoren ab – neben Zeit und Kosten auch von ganz subjektiven Gründen wie Bequemlichkeit oder Attraktivität. Oft aber hinterfragen wir gar nicht mehr, welches Verkehrsmittel uns am besten zum Ziel bringt, sondern die Macht der Gewohnheit lässt uns ins Auto einsteigen. Mit den bekannten Problemen für Umwelt und Gesellschaft und eben nicht unbedingt schneller.

Fahrverbote und Geschwindigkeitsbegrenzungen, die Aufhebung von Parkplätzen sowie Maut- und Besteuerungssyteme sind restriktive Maßnahmen, die Autofahrer zum Wechsel auf andere Verkehrsmittel bewegen sollen. Damit solche Maßnahmen aber nicht zum Ausschluss von Verkehrsteilnehmern führen, müssen andere Verkehrsformen mit entsprechenden Kapazitätssteigerungen aufwarten können. Als Lösungen dafür werden häufig Neuzuteilungen von Verkehrsflächen für den öffentlichen Personennahverkehr, ein Ausbau des Radwegenetzes und Sharing Konzepte für Fahrräder und Autos angeführt. Städte wie Zürich, Münster oder Wien zeigen, dass man zu Fuß, mit dem Rad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln zum Teil einfacher, schneller und umweltschonender ans Ziel kommen kann. Doch noch sind diese Städte Ausnahmen, in denen darüber hinaus jeweils nur ein Verkehrsträger über die anderen herausragt.

Ziel ist es aber, einen Verbund der umweltverträglichen Verkehrsmittel zu schaffen, um die Umwelt- und Gesundheitsbelastung des motorisierten Individualverkehrs zu senken. Dafür sind innovative Lösungen gefragt, die vielfältige Angebote vernetzten, flexibel nutzbar machen und dem Anwender unkompliziert vermitteln. So kann die Benutzung mehrerer Verkehrsmittel für eine Reise bequem und attraktiv gestaltet werden – und damit kann eine echte Alternative zum Auto geboten werden.        

Die Steigerung der Effizienz von Verkehrsmitteln

Neben der Vermeidung und der Verlagerung von Verkehr auf andere Mobilitätsformen kommt es auch darauf an, Verkehrsmittel effizienter zu gestalten. Soziale und technische Innovationen können dazu beitragen, negative Effekte zu reduzieren, wenig Nachgefragtes attraktiver zu gestalten und Lösungen für neue Probleme zu bieten. Ansätze wie Alternative Antriebstechniken, die Verwendung regenerativer Energien und die Minimierung von Emissionen dominieren oft die Verbesserungsstrategien. Doch dieses Feld bietet noch viel mehr Raum für Ideen. Die Nutzung von Big Data Analysen, digitaler Automatisierung und der Vernetzung von Fahrzeugen und Nutzern können alle dazu beitragen, unsere Mobilität in Zukunft nachhaltiger zu gestalten. Das Münchner Start-Up Sono Motors zeigt, wie so etwas aussehen kann. Sie haben nicht nur ein bezahlbares Elektroauto entwickelt, sondern dieses lädt sich auch mit integrierten Solarzellen selber auf. Darüber hinaus kann man mithilfe der integrierten Carsharing-Funktion das Auto auch anderen zu Verfügung stellen.

Über nachhaltige Mobilität wird gerade in der Politik heftig diskutiert. Aber nachhaltige Mobilität bedeutet mehr als nur Fahrverbote und Schadstoffgrenzwerte für Dieselmotoren. Nachhaltige Mobilität betrifft viele Bereiche des öffentlichen Lebens, Wohnens und Arbeitens. Vor allem aber ist Mobilität ein Feld, das gerade einem starken Wandel unterworfen ist und das sich auch verändern muss, um zu einem nachhaltigeren Leben beizutragen. Soziale und technische Innovationen werden hier dringend benötigt.

 


(c) Alle Bilder Sebastian Preiß

Social Design als transformativer Prozess

3. Februar 2019 By

Ein technikphilosophisches Fundament

Der Begriff Social Design lässt viele Interpretationsmöglichkeiten zu. Man denke an die Bauhausbewegung, die motiviert war, hochwertige Produkte für die breite Masse herzustellen. Eine andere Auffassung von Social Design konzentriert sich auf Design, das nicht nur für Menschen, sondern mit Menschen – partizipativ – Lösungen für soziale Probleme findet und umsetzt. Hierbei ist es vor allem der kollaborative Prozess der Gestaltung, der für Menschen wertvoll ist, weil er sie unter anderem befähigt, Entscheidungsrollen anzunehmen. Doch aufwendige Kollaborationen lassen sich nur schwer koordinieren, denn im Normalfall müssen die unterschiedlichsten Interessenskonstellationen konstruktiv zusammenfinden. Damit Social Design funktionieren kann, bedarf es entsprechender Koordinationswerkzeuge, die die Teilhabe an der Gestaltung fördern. Die Bedeutung dieser Werkzeuge lässt sich nur begreifen, wenn wir die Konzeption des technischen Objekts als reines Instrument ablegen und ihm eine mindestens vermittelnde, maximal notwendige und entscheidende Rolle in partizipativen Gestaltungprozessen zukommen lassen. Letzteres führt über eine fundamentale Richtungsänderung in der Philosophie der Technologie, die seit einigen Jahren vonstattengeht.

Die Konjunktur des Designbegriffs

Wenn wir das Wort „Design“ hören, denken wir ganz intuitiv als erstes an Designermöbel oder ganz allgemein an luxuriöse Dinge, deren Wert in erster Linie ästhetisch statt funktional ist. Trotzdem ist sicher, dass auch billiger Kram irgendein Design hat beziehungsweise irgendwie designt wurde. Oder wie der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour es knapp auf den Punkt bringt: Design ist immer ein „nicht nur, sondern auch“ – nicht nur Funktion, sondern auch Symbolik. Ein Ausweg aus dieser zweifachen Konzeption der brauchbaren Dinge ist aussichtlos. Gerade ein Objekt, welches sich konsequent auf seine Funktion konzentriert, lässt sich ohne Probleme ästhetisch kategorisieren: so etwas ist dann minimalistisches oder funktionales Design. Es ist ein leichtes, daraus entsprechende handlungsnormative Symboliken abzuleiten.

Latour hat recht, wenn er sagt, dass es kaum einen Begriff gibt, der eine derartige Konjunktur erlebt wie der Begriff des Designs. Von der Kommode bis hin zu Softwaresystemen, Business Meet-Ups und politischen Maßnahmen, im Grunde sprechen wir heute von sehr vielen Dingen, die designt werden können. Scheinbar ganz plötzlich ist die Praxis des Designs nicht mehr nur für konkrete, fassbare Gebrauchsgegenstände reserviert. Selbst in der Philosophie, die methodisch meist analytisch vorgeht, werden Konzepte wie Freiheit, Autonomie oder Verantwortung nicht mehr nur in ihre Einzelteile zerlegt, sondern systematisch Schritt für Schritt „designt“. Das ist erstaunlich und hat möglicherweise weitreichende Konsequenzen, vor allem dann, wenn es um technische Objekte geht, die designt werden sollen. Gleichzeitig ist es auch notwendig, denn die ethischen Implikationen von autonomisierten digitalen Technologien lassen sich nicht vollständig mit den analytischen Konzeptionen und schließlich Begriffen der pre-digitalisierten Technikentwicklung beurteilen. Es besteht ein riesiges konzeptuelles Loch zur Evaluierung von Dingen, die in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wahrnehmung von digitalen Akteuren – entweder als bloße Werkzeuge oder eben super-intellektuelle, Menschen-dominierende Entitäten à la Hollywood – ihren Höhepunkt findet.

In der Tradition der analytischen Philosophie gilt: technologische Artefakte sind Objekte, deren Nutzen sich einzig in ihrem Gebrauch manifestieren. Das technische Objekt ist ein Instrument, das die Intention des Menschen, der es verwendet, erfüllen soll. Also im klassischen Sinne: Mittel zum Zweck. Diese seit Jahrtausenden stabile Rollenverteilung zwischen Mensch und funktionalem Objekt ist auch Basis dafür, Handlungen gesetzlich legitimieren und reglementieren zu können. Nur solange Technologien als Instrumente dem menschlichen Willen untergeordnet werden, können Handlungsträgerschaften und die damit eingehende Verantwortung für Handlungen zugeordnet und entsprechend sanktioniert werden. Nur der Mensch befindet sich somit in der Handlungssphäre, technische Objekte handeln in diesem Sinne nicht. Daraus folgt, was für viele sicherlich intuitiv völlig richtig ist, dass ein Messer nicht bestraft werden kann, sondern nur der Mensch, der damit seinen Willen erfüllt.

Nur solange Technologien als Instrumente dem menschlichen Willen untergeordnet werden, können Handlungsträgerschaften und die damit eingehende Verantwortung für Handlungen zugeordnet und entsprechend sanktioniert werden. (C) Frank V.

In den letzten Jahren hat sich diese Auffassung gegenüber technischen Objekten in der Philosophie zumindest teilweise verändert. Man darf vorsichtig von dem Anschein eines Perspektivwechsels sprechen. Technologien lassen sich in einer sich stetig weiter technologisierenden Gesellschaft nicht weiter als „tote“ Objekte bezeichnen, die als bloße Instrumente für den expliziten Willen der Menschen verfügbar gemacht werden. Es ordnen mehr und mehr Philosophen – an der Spitze vielleicht der Niederländer Peter-Paul Verbeek – technischen Objekten eine deutlich signifikantere Rolle zu: für Handlung, Erkenntnis und Moralität sind technische Objekte nach Verbeek konstituierend anstatt instrumental.  In seinem Buch Materializing Morality  (2006) kritisiert er die Philosophen der Aufklärung in einem entscheidenden Punkt: Die Fähigkeit der Vernunft, so Verbeek, ist nicht nur im menschlichen Denken verankert, sondern eben auch in technischen Werkzeugen. Damit meint Verbeek nicht, dass Objekte denken oder gar vernünftig sein können so wie wir Menschen.  Jedem designten Objekt liegt aber auch eine bestimmte Intentionalität inne, die uns den Zugang zur Welt ermöglicht. Denn wir können, so Verbeek, die Welt überhaupt nur durch die Intentionalität der technologischen Objekte erkennen. Jede Wahrnehmung unserer technologisierten Umwelt ist durch die Intentionalität der Technologien vermittelt. Beispiel Kamera. Die Intentionalität der Kamera amplifiziert bestimmte Wahrnehmungen, sie zeigt uns einen kleinen Teil der Realität besonders gut. Andere Teile der Realität werden perzeptuell reduziert, das drum herum fällt komplett weg.

Die vermittelnde Fähigkeit von technologischen Objekten hat einen unmittelbaren Einfluss auf die Koordination von kollaborativen Prozessen. Denn die Intentionalität der Dinge konstituiert sogenannte „Scripts“ – man würde im Deutschen Handlungsanleitungen sagen. Diese Scripts sind nach Latour, der das Konzept erstmals in seinem Artikel „The sociology of a few mundane artifacts“ 1992 benannte, eingravierte Vorschriften, wie Menschen mit technologischen Objekten interagieren. Technologien können so das Verhalten von Akteuren vorgeben: Wir gehen in einen Raum, setzen uns auf Stühle, legen unsere Sachen auf einen Tisch und die Vorlesung beginnt – das sind technisch koordinierte Prozesse, die keinerlei menschliche Supervision benötigen. Es fällt uns wahrscheinlich nur selten auf, dabei sind aber sehr viele Handlungen, für die wir uns willentlich „frei“ entscheiden, durch technologische Vermittlung auf ein paar wenige Alternativen vorgefiltert. Mit dieser unausweichlich vermittelnden und handlungsvorgebenden Funktion der technischen Objekte lassen sich kreative, partizipierende und transformative Prozesse initiieren, die Social Design Prozesse letztendlich wertvoll machen.

Explizier- und Befähigungswerkzeuge: Modelle sind Mittel und Zweck

Modelle und Prototypen explizieren das Ungefähre. Durch den Bau eines greifbaren Modells tauscht ein Designer eine perfekte aber ungreifbare Vorstellung einer Lösung mit einer zunächst imperfekten aber formbaren Lösung. Die Auslegung einer Idee in die Umwelt – auch Materialisierung genannt – ist die Voraussetzung einer kooperativen Aktivität. Erstens ist eine Idee erst dann Teil eines partizipativen Prozesses, wenn sie es in die Aufmerksamkeit mehrerer Partizipierenden schaffen kann. Ohne das Artefakt, auf das alle in gleicher Weise zeigen, greifen und diskutieren, gibt es keine konstruktive und koordinierte Kooperation. Gerade bei Social Design Prozessen, in denen es darum geht, Lösungsansätze für soziale Probleme zu erkennen und anzupacken, gibt es potentiell große Interessenskonflikte zwischen den einzelnen Beteiligten. Normen- und Wertevorstellungen kollidieren, lassen sich aber durch das materielle Modell glätten: denn die Beteiligten sind in der Praxis des Designens notwendigerweise dazu gezwungen, sich mit den Perspektiven der anderen Partizipierenden auseinanderzusetzen. Ohne Anspruch auf etwas Finales, übt sich die Gemeinschaft darin, gegenläufige Vorstellungen zu thematisieren und eine temporäre Lösung gegenüber den existierenden Ambivalenzen zu bevorzugen. In der Prototypisierung werden die einzelnen Problemfelder explizit benannt, die Designer können sich nicht mehr in ihren eigenen abstrakten Vorstellungen verstecken.

Das Modell ist aber nicht nur Kooperationswerkzeug. Es ist schließlich auch das Modell, um das es letztendlich gehen soll, es ist der Mittelpunkt, das Desideratum der einzelnen Akteure: Es repräsentiert ihre Wünsche und Ziele. In Social Design Prozessen werden Mikroentscheidungen über die Zukunft getroffen, darüber, wie die Zukunft sein sollte. Und genau darin besteht auch das transformative, nachhaltige Potential der Kollaborationen. Denn erst in der Partizipation werden die Akteure legitime und anerkannte Gestalter, anstatt, wie in „traditionellen“ Designprozessen, gefragte Subjekte. Ein Beispiel dafür ist ein Projekt des Moffitt Cancer Centers in Florida aus dem Jahr 2006. Das auf Krebskrankheiten spezialisierte Krankenhaus benötigte eine neue Patientenstation. Das langjährige Pflegepersonal wurde am Designprozess der Station beteiligt. In mehreren Phasen erstellte das Personal Modelle von idealen Patientenräumen. Diese Prozesse erlauben Menschen andere Verantwortungsrollen, für die sie regelrecht qualifiziert, aber in konventionellen Arbeitsstrukturen nicht vorgesehen sind, einzunehmen. Wer kennt die Bedürfnisse der einzelnen Patienten – von der Rezeption bis zur Genesung und Entlassung – besser als das Pflegepersonal? Erst durch die Interaktion und Formung von materiellen Modellen, in die befähigte Designer Objekten und Nischen Intentionalität eingravieren, die die Wahrnehmung und Handlungsvorgaben für Nutzer entscheiden, können die prozeduralen Potentiale des Social Design realisiert werden.

Mögliche Einwände

Abschließend bleibt noch folgende kurze Beobachtung: Social Design muss sich ein paar kritischen Überlegungen stellen. Es ist zu klären, inwiefern die Inklusion bis dato „unkonventioneller“ Experten (z.B. Pflegepersonal) zur Exklusion beziehungsweise Kompetenzabnahme „konventioneller“ Experten (z.B. Architekten) führt. Hier könnten zusätzliche Interessenkonflikte entstehen, die Lösungsprozesse eher behindern als fördern. Daran anschließend besteht die Frage, inwiefern Designprozesse demokratisieren, gleichzeitig aber das nötige Maß an Konstruktivität und Produktivität sichern. Wenn Pflegepersonal und Architekten in ihren Ideen und Konzepten divergieren – was wohl öfter passieren wird – entscheidet letztendlich immer noch eine Hierarchie zwischen den einzelnen Akteuren. Solche Strukturen will Social Design ja mindestens auflockern. Die Frage, nach der Rolle von Expertise und dem sogenannten Expertentum beantwortet es aber nicht. Noch nicht vielleicht.


(C) Titelbild: John Cameron

Open Source

5. Dezember 2018 By

Eine Chance für nachhaltiges und soziales Unternehmertum

Den Begriff Open Source kennen die Meisten wohl in erster Linie aus dem Kontext der Open Source Software. Open Source ist aber viel mehr als das – und spielt nicht nur in der IT eine große Rolle. Besonders für nachhaltig und sozial agierende Unternehmen kann Open Source eine Lösung sein, um schnell und langfristig zu skalieren, Marktanteile zu gewinnen, Nutzer zu aktivieren oder Entwicklungskosten zu teilen.

Die Ursprünge von Open Source findet man nicht wie oft vermutet im Digitalen, sondern in der Do-It-Yourself (DIY) Bewegung, die ihre Anfänge im England der 50er Jahre hatte. Heute verbindet man damit vor allem handwerkliche und kreative Tätigkeiten. Damals aber ging es um Selbstermächtigung, Selbstorganisation sowie um die Kritik an Industrieprodukten und passivem Konsum. Themen, die auch heute noch durchaus aktuell sind. Erst in den 80er Jahren wurde der Begriff von der Freien-Software-Bewegung aufgriffen und neu geprägt. Anfangs handelte es sich nur um eine kleine Gruppe Programmierer, die sich gegen die Kommerzialisierung ihrer Arbeit sträubten – mittlerweile ist die Open Source Bewegung einer der größten sozialen Bewegungen weltweit.            

Oft wird Open Source mit „kostenloser“ Software in Verbindung gebracht, aber es handelt sich hierbei ganz grundsätzlich um Gemeingüter, die jedem zur freien Nutzung zur Verfügung stehen. Diese Güter dürfen benutzt, geteilt und verändert werden – der exklusive Besitz wird ausgeschlossen. Ein gutes, digitales Beispiel dafür ist Wikipedia: jeder hat die Möglichkeit auf die Enzyklopädie zuzugreifen, sie für eigene Zwecke zu nutzen, sich an ihr zu beteiligen, aber niemand kann sie exklusiv für sich beanspruchen oder anderen die Teilhabe verwehren. Aber trotz dieses gemeinwohlorientierten Ansatzes, kann man mit Open Source auch Geld verdienen. WordPress oder Linux etwa setzen Geschäftsmodelle erfolgreich um, die auf dem Prinzip der Beteiligung aller basieren.

Um digitale Gemeingüter zu schützen, gibt es „Open Source Lizenzen“ wie die GNU Public License, die dafür sorgt, dass eine Software „frei bleibt“. Das bedeutet konkret: Jeder darf die Software mitsamt ihrem Quellcode herunterladen, benutzen, weitergeben und sogar verändern; und wiederum diese veränderten Versionen weitergeben. Auch nach dem letzten Schritt schützt die Lizenz die veränderte Software, denn sie sagt auch, dass das Recht auf freie und gemeinsame Teilhabe niemand anderem verwehrt werden darf – auch nicht auf die Version einer Software, die die einzelne Nutzerin selbst verändert hat. Auch kreative Inhalte lassen sich schützen. Die Creative Commons License kümmert sich als gemeinnützige Organisation darum, dass Künstler selbst entscheiden, ob und wie weit sie Gebrauch von ihren Urheberrechten machen. Flickr arbeitet zum Beispiel mit der Creative Commons License und ermöglicht es so dem Nutzer schnell einzusehen, ob und wie umfassend ihre Bilder benutzt werden.

Durch die Schaffung von Standard-Lizenzverträgen, will Creative Commons den Schutz und die Verbreitung geistigen Eigentums erleichtern. (C) Creative Commons

Open Source beschränkt sich aber längst nicht mehr nur auf das Digitale. Ein guter Beweis hierfür sind die sogenanntenFabLab, die Raum und Material für gemeinnützige Kollaboration bereitstellen. Sie sind ein Teil der Open Source Bewegung, weil sie nicht nur einigen, sondern allen einen Zugang zu Werkstätten und industriellen Produktionsverfahren ermöglichen – sozusagen zur Hardware des Open Source Prinzips.  Als solch eine Art Hardware gelten etwa Anleitungen für den Bau eines Autos, eines 100-Dollar-Computers oder günstiger Selbstbau-Solarsysteme. Hier lässt sich nun wieder eine direkte Verbindung schlagen zum ursprünglichen Entstehen des Open Source Gedankens der DIY-Bewegung.

Open Source und soziales Unternehmertum

Vorteile von Open Source gibt es viele. Für Sozialunternehmen sind dabei die folgenden besonders interessant:

  • Märkte erkennen und testen:
    Eine umfassende Marktanalyse ist oft methodisch aufwendig und teuer. Teile des eigenen Produkts offen und online anzubieten hilft oft dabei, schnell herauszufinden, ob es einen Markt gibt und wie dieser auf das Angebot reagiert.       
  • Kreative Lösungsansätze durch die Ideen Vieler:
    Ist ein Produkt erst mal auf den Markt gebracht, kann man die Nutzer-Crowd dazu aktivieren schnelles Feedback zu geben und bei der Verbesserung des Produktes zu unterstützen. WordPress etwa profitiert bei der Weiterentwicklung ihres Angebots sehr stark von der Crowd, indem sie direkt Feedback von denjenigen bekommen, die das Angebot auch wirklich und tagtäglich nutzen.                  
  • Soziale Legitimität: 
    Ein Unternehmen, das sein Wissen oder Teile davon für alle zugänglich macht, kommuniziert eine transparente und soziale Haltung. Open Source kann von Anfang an Vertrauen schaffen. So genießen WordPress und Wikipedia im Vergleich zu kommerziellen Anbietern einen guten Ruf, weil alle Nutzer die dahinterliegenden Prozesse nachvollziehen sowie wirksam mitgestalten können. Der Einsatz von Open Source Methoden als Marketing-Tool, speziell in der Marktforschung ist durchaus legitim, denn auch hier werden Ressourcen eingespart was eine Win-Win-Situation für beide Seiten darstellt.         
  • Sicherheitslücken entdecken:           
    Besonders im Bereich der Software lassen sich durch das Open Source-Prinzip schnell Sicherheitslücken und Schwachstellen aufgrund der hohen Anzahl möglichen Feedbacks aufdecken und beheben – oft viel schneller als wenn die Software nur inhouse getestet wird.

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Wie aber kann man eigene Projekte ganz im Sinne des Open Source-Gedanken umsetzen – vielmehr noch: Wie kann man Open Source für sich, sein Unternehmen oder Projekt nutzen? Grundsätzlich gilt: Open Source ist nicht nur eine Methode, sondern es ist es vor allem eine Einstellung. Dabei ist eine ganzheitliche Analyse notwendig. Die folgenden fünf Fragen können dabei helfen, grundsätzlich zu klären, ob Open Source für ein Unternehmen oder Projekt in Frage kommt:

1. Warum ist Open Source wichtig für dich und dein Projekt?

  • Willst du dein Wissen mit anderen teilen und wenn ja warum?
  • Möchtest du eine Community aufbauen und wenn ja zu welchem Zweck?
  • Kann dir Open Source zu einer besseren Entwicklung deines Projektes verhelfen?

2. Was willst du öffnen?

  • Was kann und will ich weitergeben?
    Hier geht es nicht zwingend um das Prinzip ganz oder gar nicht. Es können auch nur Teile eines Unternehmens zugänglich gemacht werden.

3. Wer will deine Inhalte nutzen?

  • Wer ist die Zielgruppe deiner Inhalte?
  • Warum sollten sie deine Inhalte nutzen?
  • Gibt es Partner, Kunden, Communities, die Interesse an deinem Angebot haben könnten?

4. Wie sollen deine Inhalte genutzt werden?

  • Was dürfen User mit deinen Inhalten machen und was nicht?
  • Gibt es Einschränkungen in der Nutzung?
  • Welche Regeln sind mit der Nutzung verbunden?

5. Wie kannst du die Community in eine nachhaltige Entwicklung einbinden?

  • Wie kannst du Nutzerfeedback von der Community bekommen?
  • Wie (schnell) kannst du Nutzerfeedback integrieren?
  • Wie kannst du Nachhaltigkeit mit deinem Angebot gewährleisten?

Für die Beantwortung dieser Fragen hat sich der globale „Think- und Do-Tank Oui Share, die Verbreitung des Open Source Gedanken zur Unternehmensphilosophie gemacht. Dafür wurde ein Canvas zusammengestellt, der die Beantwortung dieser Fragen vereinfacht und den man hier  downloaden kann. Wer den Artikel aufmerksam gelesen hat, wird die Symbole der Creative Commons Lizenz am unteren Rand des Canvas wiedererkennen – der Canvas darf also nicht nur heruntergeladen, sondern auch gedruckt, benutzt und weitergegeben werden.

Der ausgefüllte Canvas soll dazu dienen, eine konkrete Strategie zu entwickeln und den Open Source Ansatz in die Mission und Vision eines Unternehmens mit einzubauen.

Es müssen natürlich nicht alle Bereiche des eigenen Projekts geöffnet werden. Es gilt nicht das Prinzip „ganz oder gar nicht“, sondern ist es vollkommen legitim im Einzelfall zu entscheiden, welche Inhalte zu einer Open Source werden und welche nicht. Oft ist es Teil der Vertriebsstrategie, nur bestimmte Inhalte bekannt zu geben, um potentielle Kunden erst recht zum Kauf zu motivieren. So lässt sich etwa die Software des fairphones komplett als Open Source herunterladen, die Hardware um diese zu nutzen, ist aber nur käuflich zu erwerben. Viele Nutzer motiviert jedoch die Einstellung des Unternehmens, was sie letztlich zum Kauf motiviert. Open Source lässt sich in diesem Fall auch als Marketinginstrument nutzen. Sowie ganz unabhängig von kommerziellen Zielen oder für den Einsatz von Softwarelösungen, kann das Open Source Prinzip nicht nur auf ein Produkt oder eine Dienstleistung angewandt werden, sondern kann es als Grundsatz einer ganzen Organisation dienen. So sollen etwa mit Formaten wie dem „SkillzBazaar“ Menschen dazu ermutigt werden ihr Wissen und Können mit anderen zu teilen. Dabei kann jeder seine eigenen Fähigkeiten anderen Interessierten vermitteln und beibringen. Ob man dabei lernt, das erste Stück auf dem Klavier zu spielen oder einen Schal zu häkeln, bleibt einen selbst überlassen.  

Oui Share versteht sich als internationales Netzwerk, dass sich dem Entstehen einer kooperativen Gesellschaft widmet. Dafür wurde auch der Skillzbazaar ins Leben gerufen. (C) Ulrich Bareth


Lesetipp //

http://www.ifross.org/welches-sind-wichtigsten-open-source-lizenzen-und-welchem-lizenztyp-gehoeren-sie

(C) Header Image by Alex Holyoake

Business Angels – Ein Schutzengel für Start-Ups

20. Dezember 2018 By

Investoren in frühen Phasen einer Unternehmensgründung zu finden ist schwer. Business Angels können da Abhilfe schaffen – und mehr bieten als Geld.

Jungunternehmer haben es nicht leicht. Sie haben eine gute Idee, aber oft wenig Ahnung von der Umsetzung. Manchmal stecken sie selbst noch mitten im Studium und hatten noch nie eine 40-Stunden-Arbeitswoche. Wie also das eigene Unternehmen finanzieren? Was für den Extremsportler der Schutzengel ist, ist da für den Gründer der Business Angel, übersetzt ein „Unternehmensengel“. In den USA hat die Idee eine lange Tradition. Bereits Henry Ford hat so sein Unternehmen aufgebaut.

Unterstützung brauchte zu Beginn auch das Start-Up my Boo aus Kiel. Sie wollten Fahrräder mit Bambusrahmen in Ghana von einem sozialen Projekt produzieren lassen. Die Idee kam den Gründern Jonas Stolzke und Maximilian Schay während ihres Studiums. Also machten auch sie sich auf die Suche nach einem passenden Business Angel.

Der Begriff selbst ist gar nicht so alt. Er stammt vom Broadway Theater. Mit „Angels“ wurden wohlhabende Investoren bezeichnet, die ihr Geld in Theaterproduktionen investierten, um sie vor der Pleite zu retten. William Wetzel Jr., ein amerikanischer Professor an der New Hampshire Universität, benutze den Begriff bereits 1983 im Zusammenhang seiner Studien zu Risk Capital Investments. Dort beschreibt er mit „Business Angels“ Investoren, die sehr frühphasige Unternehmen finanziell unterstützen.

Wer steckt hinter einem Business Angel?

Business Angels sind häufig erfahrene und wohlhabende Geschäftsleute, die oftmals selber ein oder mehrere Unternehmen gegründet haben. Es gibt sie in so gut wie jeder Altersstufe. Teilweise sind sie unter 30 und hatten früh Erfolg, aber genauso gibt es die über 70-Jährigen, die ihre Erfahrungen nach dem Ende ihrer eigenen beruflichen Laufbahn mit der Unterstützung junger Unternehmer nutzen, um so weitere Geschäftsideen zu realisieren. Sie tätigen Investitionen zwischen 50.000 und 500.000 Euro, in manchen Fällen sogar bis zu zwei Millionen Euro, und bilden eine Investorengruppe, die bereits in frühen Phasen der Unternehmensgründung unterstützen. Im Gegensatz zu Wagniskapitalgebern (Venture Capitalists), die sich vor allem für ertragreiches Wachstumspotenzial und hohe Gewinnmargen interessieren. Diese unterstützen Start-Ups meist auch erst, wenn es ein vorzeigbares Produkt gibt, bei dem ein eventueller Erfolg oder Misserfolg besser abzuschätzen ist.

Das Team von my Boo in Ghana – links Jonas Stolzke, rechts Maximilian Schay.     (c) my Boo

Jonas und Maximilian stellten ihre Idee damals Hans Helmut Schramm vor, dem Inhaber einer mittelständischen Firmengruppe im maritimen Bereich in Brunsbüttel. Der erklärte sich noch während der Präsentation bereit, die Jungunternehmer zu unterstützen – ohne dass er jemals eines der Räder ausprobiert hatte. Denn bis dato gab es nicht einmal einen Prototypen. Er unterstütze sie zudem nicht nur mit Geld, sondern auch mit seinem unternehmerischen Know-How und mit seinem Team aus Ingenieuren und Marketingspezialisten.

Mehrwert Wissen

Ein Business Angel investiert erfahrungsgemäß, neben der Renditeerwartung, oft vielmehr aus Sympathie und Begeisterung für ein Produkt und das Team. Er stellt nicht nur das Startkapital, sondern berät, bringt Ideen und eigene Erfahrung mit ein. Der Mehrwert eines Business Angels ist sein Wissen, das er aktiv an die Start-Ups weitergibt. Braucht ein Unternehmen mehr Geld, kann es auch mehr als einen Business Angel poolen. Skype ist anfangs so vorgegangen und konnte seine Angels beim Verkauf an eBay mit dem 350-Fachen Return on Investment belohnen. Ein weiterer Vorteil eines Business Angel im Vergleich zu einem Venture Capitalist ist, dass er deutlich weniger Zeit für die Prüfung der Beteiligung aufwendet – in der Regel zwei bis drei Tage. Wer sich einen Unternehmensengel suchen will, sollte aber auch einiges beachten

Abgrenzung zwischen Venture-Capital-Gesellschaften und Business Angels. By Alexej Martens (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons.

Der Markt an Business Angels in Deutschland ist nicht so groß wie in den USA, wächst in den letzten Jahren aber stetig. Um den Richtigen für sich zu finden, sollte man sich etwas Zeit nehmen und gut recherchieren. Gute Vorbereitung ist wie so oft die halbe Miete. Wer einen Business Angel sucht, sollte also erst einmal ein überzeugendes Konzept erarbeiten. Das bedeutet nicht, dass es perfekt sein muss. Ein erfahrener Geschäftsmann erwartet das von jungen Unternehmern auch nicht, aber es sollte trotzdem durchdacht sein. Vor allem soll die eigene Begeisterung für das Projekt rüberkommen, am besten mit einer interessanten Entstehungsgeschichte verknüpft. Denn Sympathie und Offenheit punkten besonders.

Hartnäckig bleiben

Üblich ist es mittlerweile auch, seine Idee in einem One-Pager auf den Punkt zu bringen und sich damit bei einem Unternehmen zu bewerben. Dabei soll sich das Team auf das wesentliche konzentrieren, wie den Businessplan, das Produkt, das Alleinstellungsmerkmal. Manchmal wird statt dem One-Pager auch ein Pitch-Deck, eine 10 bis 16-seitige Präsentation mit selbigen Informationen eines One-Pagers, erstellt. Grundsätzlich ist hier eines wichtig: dran bleiben. Sollte nach zwei bis drei Wochen keine Reaktion kommen, einfach nachfragen. Das ist nicht penetrant, sondern zeigt Eigeninitiative. Außerdem ist es nicht verkehrt, mehrgleisig zu fahren und mehrere Business Angels gleichzeitig zu kontaktieren. Hilfreich kann da eines der Netzwerke sein, die es mittlerweile in ganz Deutschland gibt. Besonders die BAND (Business Angels Netzwerk Deutschland e.V.) kann bei der Suche unterstützen. Ihre Mitglieder sind außerdem geprüft und so läuft man nicht Gefahr auf einem sogenannten Business Devil reinzufallen, die zwar viel versprechen, aber wenig halten.

Wer beispielsweise etwas im Bereich Technik gründen will, sollte sich außerdem am besten an jemanden wenden, der Ahnung von seiner Branche hat. Viele Business Angels investieren nur in Bereichen, für die sie über eigenes Wissen verfügen und daher die präsentierte Geschäftsidee und das Geschäftsmodell ausreichend durchdringen können. Vor allem sollte aber die Chemie und die Sympathie zwischen den beiden Parteien stimmen, da es nicht nur um einen Geldaustausch, sondern auch einen persönlichen Erfahrungs- und Wissensaustausch geht.

My Boo trägt sich mittlerweile selbst – Hans Helmut Schramm ist nur noch stiller Teilhaber und natürlich selber im Besitz so einiger Bambusräder.

Start-Up-Europa – Mehr als nur eine Idee

15. November 2018 By

Der EU-Staatenverbund hat sich zu einer Plattform für Social Entrepreneure entwickelt und steht trotzdem immer mehr in der Kritik. Ganz fair ist das nicht.

London, Stockholm, Paris und Berlin: Dies sind nur einige Namen aus einer Reihe von Metropolen innerhalb der Europäischen Union. Dort generieren, pitchen und vernetzen tagtäglich Start-Ups ihre Ideen, Erfindungen und Innovationen. Ob an Spree oder Seine, dass junge Unternehmen ihr wirtschaftliches Handeln nicht mehr nur auf ihr Heimatland beschränken, sondern immer mehr von einem starken Europa profitieren, hat verschiedene Gründe.

Grenzenlose Freiheit

Innerhalb der Europäische Union genießen Start-Ups weitreichende, wirtschaftliche Freiheiten, wie den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Das bedeutet im Klartext: Europäische Start-Ups können auch im Ausland die Vorzüge eines weitgehend einheitlichen und freien europäischen Binnenmarktes nutzen. Dabei haben sie Zugang zu über 500 Millionen Konsumenten ohne störende und kostenintensive Zölle – das vor allem dank offener Grenzen. Dass Unternehmensgründer diese Freiheiten immer stärker nutzen, zeigt der European Startup Monitor: eine Studie zur Start-Up-Kultur in Europa und Israel. Dort gaben mehr als die Hälfte der 2.500 befragten Start-Ups — auch aus den Bereichen Bildung und Green Technology — an, dass sie einen immer größer werdenden Teil ihrer Erlöse nicht in ihrem Heimatmarkt, sondern im europäischer Ausland erzielen. Solch eine Europäisierung von Businessmodellen wird gestützt von einem einheitlichen, europäischen Rechts- und Standardisierungssystem, das helfen soll, Kosten zu reduzieren, den Markt mit seinen Produkten zu schützen und deren Innovationskraft zu stärken.

Die Sternenflagge im Gegenwind

Ein gemeinsamer Markt mit all seinen Vorteilen scheint die richtige Antwort auf eine immer stärker globalisierte und vernetzte Welt zu sein. Aber ökonomische Vorteile allein reichen nicht aus, um das Projekt Europa zu sichern. Und so bleibt Kritik nicht aus. Schon lange wird etwa beklagt, die EU verkomme mehr und mehr zum aufgeblasenen Bürokratiemonster, dem das Verbot von krummen Gurken wichtiger sei als die wahren Probleme seiner Einwohner. Problematisch ist derart Kritik grundsätzlich nicht. Im Gegenteil: Sie gehört zum politischen Alltag dazu wie die Luft zum Atmen und letztlich ist ein durch Kritik entfachter Diskurs Ausgangspunkt demokratischer Entscheidungen und demzufolge auch für ein fair verhandeltes Miteinander. Durchaus problematisch aber ist, dass immer lauter Werden radikaler, konservativer Stimmen. Sie machen sich gesellschaftliche Debatten zu eigen, indem sie bewusst Falschinformationen streuen, um für eigennützige Interessen Ängste zu schüren, anstatt vernünftige Debatten zu führen. Das hat massive Konsequenzen: So waren es etwa die aggressiven Parolen der Anti-Europabewegung der britischen „UKIP“ die dazu führten, dass im Sommer 2016 eine knappe Mehrheit der Briten für den Austritt des Königreichs aus der Europäischen Union stimmten. Dessen Anführer wie Nigel Farage haben längst die politische Bühne verlassen, das Referendum für den Brexit aber bleibt.

Aber nicht nur in Großbritannien, sondern überall machen Europa-Gegner Lärm und fordern die Rückkehr einer lang überholten Weltvorstellung: so etwa Marie-Le Pen in Frankreich, Victor Orbán in Ungarn oder die rechte „Alternative für Deutschland“ hierzulande. Für Start-Ups würden die dort geforderten Pläne, wie die Schließung von Grenzen und der Rückbau eines europäischen Referenzrahmens von Bildungsabschlüssen vor allem eine Minderung ihrer Wettbewerbsfähigkeit bedeuten – und das auf Kosten der Machtansprüche einiger weniger. Zölle und Ausfuhrsteuern würden der internationalen Wettbewerbsfähigkeit junger Unternehmen schaden. Genauer gesagt, schadet das letztendlich dem Umsatz von Start-Ups aus kleineren EU-Mitgliedsstaaten wie Finnland, Ungarn oder Österreich. Diese können – im Gegensatz zu Frankreich oder Deutschland – nicht auf große Inlandsmärkte zurückgreifen und sind somit auf eine Europäisierung ihrer Absatzmärkte angewiesen. Spitzenreiter in diesem Feld ist Österreich, dessen Start-Ups erzielen, laut dem Austrian Startup Monitor,  2018 rund 41 Prozent ihrer Erlöse im Ausland, wovon zwei Drittel innerhalb der EU erwirtschaftet werden.

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Aber nicht nur die Schließung von Grenzen bedroht die europäische Start-UpSzene. Fast wäre etwa mit der Schließung der Budapester Central European University eine wichtige europäische Institution zur Vermittlung und Vernetzung von unternehmerischem Wissen einfach weggefallen. Dabei gilt es festzuhalten, dass etwa zehn Prozent der europäischen Start-Ups einen universitären Hintergrund besitzen. Das zeigt, wie wichtig der akademischer Austausch und die Vernetzung von Hochschulen für das Thema Entrepreneurship sind. Aber gerade Studiengänge die sich mit gesellschaftlichen Fragen beschäftigen und somit das nötige Wissensfundament für soziale Innovationen liefern, sind in ihrer Existenz bedroht. So will die ungarische Regierung nun den Studiengang Gender-Studies aus den staatlichen Hörsälen verbannen. Und das mit dem vorgeschobenen Grund eines fehlenden Bedarfs an Absolventen auf dem Arbeitsmarkt.

Hinterm Horizont geht’s weiter

Trotz aller Hetze und Angstmacherei – eine europäische Gemeinschaft lohnt sich und das auch für soziale Unternehmensgründer. So gibt es immer mehr öffentliche europäische Gründerinitiativen, die vor allem eines bieten: Fördermittel. Europäische Kommission will in ihrer aktuellen Förderperiode bis zum Jahr 2020 vor allem soziale Innovationen fördern, da sie deren Lösungspotenzial für gesellschaftliche Probleme erkannt hat. Dafür sollen rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen in einem Europa überspannenden Netzwerk gestärkt und gründergerecht ausgebaut werden. Ein wichtiger Schritt dazu ist das Förderprogramm Horizon 2020. Damit soll eine wissens- und innovationsbegeisterte Gesellschaft gefördert werden, die die Wettbewerbsfähigkeit Europas stärkt und gesellschaftliche Herausforderungen löst.

Um diese Ziele in die Realität umzusetzen, gibt die Europäische Union eine Menge Geld aus. Von dem insgesamt 80 Milliarden Euro schweren Budget gehen etwa 2,8 Milliarden Euro über das Teilprogram „SME-Instrument“ an kleine und mittelgroße Unternehmen – inklusive Start-Ups – was eine direkte Förderung ermöglicht. Bewerben können sich Projekte mit Sitz in der EU, mit weniger als 50 Millionen Euro Jahresumsatz und weniger als 250 Mitarbeiten. Für viele junge Start-Ups dürften diese Kriterien kein Problem sein. Konkret zu holen gibt es einiges: Erfüllt ein Social-Start-Up die quantitativen Anforderungen und liefert es mit seinem Projekt einen glaubhaften Lösungsansatz zu gesellschaftlichen Herausforderungen – wie dem demografischen Wandel, die nachhaltige Erzeugung von Energie oder die Schaffung intelligenter Mobilität – kann es mit einer finanziellen Unterstützung von einer halben Million bis zu zweieinhalb Millionen Euro rechnen und das mit einer regelmäßigen Quote von 70 Prozent.

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Unterstützung kommt meist indirekt

Mit sogenannten Strukturfonds beinhaltet die Gründerförderung der Europäischen Union einen weiteren Finanzierungszweig. Sie sind Sammelbegriff verschiedener Instrumente zur Schaffung sozialer und wirtschaftlicher Gleichheit in Europa. Zur Subventionierung von Projekten mit sozialem Impact kommen der Europäische Sozialfond (ESF) und der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) ins Spiel. Ihre Ziele sind die Schaffung von beruflicher Chancengleichheit, die Förderung von Projekten zur Verbesserung der wirtschaftlichen Produktivität und die Reduzierung von CO2-Emmissionen – die Fördermöglichkeiten sind also vielfältig. Im Gegensatz zu Horizon 2020 stehen die Mittel aus diesen Geldtöpfen sozialen Start-Ups jedoch nicht direkt zur Verfügung. Vielmehr funktionieren sie nach dem Prinzip der Kofinanzierung, was heißt, dass eine Förderung mit europäischen Mitteln nur zusammen mit Fördermitteln und Programmen auf nationaler Ebene eines EU-Mitgliedsstaates erfolgen kann. Hierzulande ist daraus eine Vielzahl von Projekten entstanden, die insgesamt bis 2020 mit einem Gesamtbudget von rund 7,5 Milliarden Euro finanziert werden. Social Entrepreneure können so, mit Hilfe europäischer Fördergelder, umwelt-, arbeitsmarkt- und bildungsbezogene Projekte finanzieren.

Gelder aus dem europäischen Sozialfond fließen zudem in die Finanzierung von sogenannten Mezzaninkapital. Zielgruppe dieses Finanzierungstools sind in erster Linie Sozialunternehmen. Unternehmen, die aus der Arbeitslosigkeit heraus gegründet werden, ausbilden oder von Menschen mit Migrationshintergrund geführt werden, erfahren eine besondere Berücksichtigung. Gefördert wird mit maximal 50.000 Euro über eine Laufzeit von zehn Jahren, wovon bis zu 35.000 Euro in der Gründungsphase gewährt werden und die Rückzahlung erst ab dem siebten Förderjahr erfolgen muss.

Europa – Erfolgsprojekt oder missglückte Idee?

Europa ist ein echtes Verwandlungstalent: War es früher ein Flickenteppich aus unzähligen Kleinstaaten und Schauplatz für Krieg und Teilung, ist es mittlerweile zu einer demokratischen Staatengemeinschaft herangewachsen. Doch an den Rändern der Idee Europa bröckelt es und die dabei entstandenen Risse reichen tief bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Scheinbar selbstverständliche Privilegien, wie die Freiheit zu reisen, zu arbeiten und zu leben, wo man will, sind große Errungenschaften der Europäischen Union. Sie scheinen jedoch momentan so bedroht wie nie zuvor. Bei der Betrachtung Europas durch die Social-Entrepreneurship-Brille wird klar, dass es auf den ersten Blick nicht so einfach ist, herauszufinden, welche Fördermöglichkeiten es gibt und welche davon die richtigen für das eigene Start-Up sind. Schaut man aber etwas genauer hin, lässt sich eine Vielfalt an geeigneten Fördermöglichkeiten finden. Zusätzlich können Sozialunternehmer auf das Wissen einer immer größer werdenden europäischen Social Entrepreneurship-Community zurückgreifen und sich in zahlreichen Netzwerken austauschen – ja sogar an öffentlich geförderten Austauschprogrammen, speziell für Entrepreneure, wie dem Erasmus for Young Entrepreneurs-Programm, teilnehmen. Man darf denken was man will, nach einer missglückten Idee klingt das nicht.


Lesetipp //

Bureau of European Policy Advisers: Social Innovation – A Decade of Change

(c) Titelbild: Sara Kurfeß

 

System Entrepreneurship – Zeit umzudenken

14. November 2018 By

Wie sich gesellschaftliche Missstände nicht nur vermindern, sondern beheben lassen.

Es könnte alles so schön sein: Fossile Brennstoffe liefern uns die Energie für grenzenlose Mobilität, Konzerne mit neunstelligen Gewinnsummen schaffen, dank stetig steigender Produktion, mehr und mehr Arbeitsplätze und sorgen so für Wohlstand und unser tägliches Wohlergehen. Doch der Konjunktiv ist verräterisch: denn die Wahrheit – das heißt die Welt in der wir leben – sieht anders aus. Der Abbau von Braunkohle und Erdöl zerstört uralte Infrastrukturen von Mensch und Natur und der Aberglaube von der Notwendigkeit eines über allen Dingen stehendenden Wirtschaftswachstums bringt die ökologischen, ökonomischen und sozialen Strukturen, in denen wir leben, ins Schwanken.

Ein Fehler im System

Diese Strukturen bestehen aus wechselseitigen, voneinander abhängigen Beziehungen verschiedener Elemente, aus deren Art der Verknüpfung bestimmte Regeln, Normen und Prinzipien resultieren und letztlich ein System bilden. Systeme bergen also die Gefahr selbst fehlerhaft zu sein oder Fehlverhalten zu ermöglichen, was wiederum anderen Elementen des gleichen oder eines verknüpften Systems schadet. So wurden beispielsweise Finanzsysteme vermeintlich immer effizienter, was jedoch daran lag, dass sie sich durch Spekulationen immer mehr von der Realwirtschaft lösten und mittlerweile viel mehr eine Gefahr für unser Wirtschaftssystem darstellen, als zu dessen nachhaltiger Existenz beizutragen.

We can define systemic innovation as an interconnected set of innovations, where each influences the other, with innovation both in the parts of the system and in the ways in which they interconnect.

Geoff Mulgan & Charlie Leadbeater

Das große Ganze

Zugegeben, neu ist das nicht. Außerdem haben Social Entrepreneure bereits unzählige Tools und Konzepte entwickelt, die ein derartiges Fehlverhalten beheben sollen, indem sie etwa die Effizienz von Elektromotoren steigern, Altes zu Neuem upcyclen oder eben nachhaltige Banken gründen. Das ist wichtig und richtig, vor allem aber schwierig. Denn will ein Social-Start-Up innerhalb eines Systems eine soziale Wirkung erzeugen, gelingt das meist nur, indem man ein Projekt skaliert. Doch ein Skaleneffekt lässt oft lange auf sich warten, da das dazu nötige Kapital erstmal verdient werden muss und selbst danach der Einfluss des jeweiligen Produkts oder Dienstleistung sich oft auf das unmittelbare Umfeld des Start-Ups beschränkt. Das liegt mitunter daran, dass ein Blick für das große Ganze dem Fokus auf den Erfolg des eigenen Unternehmens zum Opfer fällt oder die soziale Wirkung nicht über die Unternehmensgrenzen hinausgeht, da es keine Strahlkraft auf andere Elemente eines Systems besitzt. Problematisch ist also: So gut ein Social-Start-Up auch agiert, es lindert oft nur die Folgen, heißt, die Symptome eines systembezogenen Fehlverhaltens, nicht aber dessen Ursachen.

Was also tun? Eine Antwort liegt in der Generierung eines „System Change“. Er umfasst eine Änderung oder Neuschaffung von Interaktionsmustern, also der Zusammensetzung des Systems an sich, sowie der Art und Weise wie seine einzelnen Bestandteile darin miteinander kommunizieren. Erreicht werden kann das vor allem mit einer Reihe von Innovationen, die sich auf alle Bestanteile eines Systems auswirken, sie gegenseitig beeinflussen und langfristig ihre Regeln, Normen und Werte so gestalten, dass sie mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit vereinbar und funktionstüchtig sind.

Ein System Change umfasst die Änderung oder Neuschaffung der Zusammensetzung eines Systems an sich. Fotocredit: William Bout

Eine neue Generation

Um dieses Ziel zu erreichen, kommt „System Entrepreneurship“ ins Spiel. Dafür arbeiten System Entrepreneure aktiv daran, Paradigmen in verschiedenen Bereichen sozialer Systeme – wie Politik, Kultur und Wirtschaft – so zu verändern, dass gesellschaftliche Innovationen langanhaltend und systemisch übergreifend etabliert werden. Vorweg: Das schließt die Entwicklungen von nachhaltigen Produkten und Dienstleistungen nicht aus, vor allem dann nicht, wenn sie ein Mittel zum systemischen Zweck sind, denn sie können einen umfassenden Impact auf andere Systemelemente erzielen und so grundlegende, normative Strukturen eines Systems zum Positiven verändern. Wie das ganz konkret in der Realität aussehen kann, zeigt das Münchener Start-Up Sono Motors. Begonnen als Bastler-Projekt in der eigenen Werkstatt zweier Schulfreunde, ist daraus innerhalb weniger Jahre ein Unternehmen entstanden, das mit dem Sion – ein marktreifes Elektroauto entwickelt hat. Das kann nicht nur zur Reduzierung des Schadstoffausstoßes beitragen, sondern mithilfe einer zusätzlich integrierten und simplen Handy-App zum Mietwagen, zur Mitfahrgelegenheit oder sogar zu einer autarken Stromquelle werden. Das verändert die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Interaktionen eines Systems, indem vorhandene Akteure ihre Rollen tauschen oder neue einnehmen und damit die Chance entsteht, fehlerhafte Systemstrukturen in Hinsicht auf Mobilität, Energiewirtschaft und deren politischen Gestaltung grundlegend neu zu gestalten.

Aber welche Qualitäten werden benötigt, um Schritt für Schritt gesellschaftliche Bereiche in einem Ausmaß zu verändern, das über die Reichweite einer einzigen Organisation hinausgeht? Die Bewegungen aufbauen können und alle betroffenen Stakeholder erfolgreich in kollaboratives Handeln einbinden?

Schritt für Schritt zum System Entrepreneur

Erstens: Die eigenen Potentiale kennen

Zugegeben, ressourcenverschlingende Industriesysteme oder ein komplexes Gesundheitssystem nachhaltig umzugestalten ist nicht leicht. Umso wichtiger ist es, von Beginn an zu klären, ob das eigene Vorhaben überhaupt das Potential besitzt, ein Türöffner für einen Systemwandel zu sein. Um das zu prüfen, sollte man sich folgende Fragen stellen:

  1. Kann mein Vorhaben einen echten Wandel initiieren, indem ich mit dem Status Quo eines Systems breche und nicht nur die vorherrschenden Gegebenheiten verbessere?

  2. Kann ich mit meinem Vorhaben aktiv einen Systemwandel mitgestalten und die für einen Wandel benötigten Ressourcen bündeln und steuern?

Dazu gehört auch, die Art des anvisierten Systems zu bestimmen. Nur so lässt sich erkennen, ob ein hypothetisches Potential auch in der Realität Bestand hat. Denn es ist nicht unwichtig, ob ein System komplex oder einfach, geschlossen oder offen, lebend oder mechanisch ist. So kann eine neue Technologie mit einer guten Idee in der Realität trotzdem scheitern, da sie aufgrund der Geschlossenheit eines Systems von außen keine innovative Wirkung entfaltet. So ist vielleicht die für den Systemeintritt oder -Anschluss benötigte Infrastruktur nicht vorhanden oder es fehlen die finanziellen Mittel um sie aufzubauen. Währenddessen können andere Ideen sich zwar an bestehenden Infrastrukturen bedienen, laufen aber dort möglicherweise Gefahr, aufgrund mangelnden Know-hows, die Situation eines komplexen Systems nicht ausreichend analysieren und steuern zu können und somit wichtige Faktoren wie eine Marktakzeptanz zu gering ausfallen.

Indikatoren für die Veränderungen eines Systems

Zweitens: Die Umwelt und sich selbst reflektieren

Ein System zu verändern oder neu zu etablieren bedeutet auch, eigene Denkmuster und die des Systemumfelds zu durchbrechen, um Platz zur Selbstreflexion und Toleranz für Neues zu schaffen. Kein leichtes Unterfangen. Wir werden in Systeme hineingeboren: Ganz gleich ob Kapitalismus oder parlamentarische Demokratie, Bildungssysteme und Industrien – sie werden über Generationen weitergegeben und ihr Narrativ nicht weiter hinterfragt. Nur, anthropogene Systemmechanismen sind keine in Stein gemeißelten Naturgesetze. Wer Denkmuster durchbrechen will, muss zunächst mit den eigenen beginnen. Das funktioniert indem System Entrepreneure mit dem geistigen Auge über die Grenzen eines Systems hinausgehen. Nur so lässt es sich auch als Ganzes sehen, als Ganzes verstehen und mit Alternativen vergleichen. Ein Blick in die Geschichte, also auf die Ursachen zur Entstehung von Systemstrukturen, ist ein geeignetes Mittel dafür. So eine Reflexion zeigt, dass Systeme endlich sind, indem sie auf den Beginn – folglich auf die Grenzen eines Systems –  schaut und somit ein Vorher-Nachher-Sichtweise ermöglicht, die Strukturen leichter nach Moral und Zweckmäßigkeit bewertbar macht.

Systematiken wie „Twelve Leverage Points“ nach Donella Meadows bieten besonders für komplexe Systeme eine gute Orientierung (Quelle: Donella H. Meadows: Thinking in Systems).

Nicht minder wichtig ist die Reflexion des eigenen Verhaltens in einem System. Nur wer bereit ist, seinen eigenen Ansichten den Spiegel vorzuhalten, ist auch bereit andere Sichtweisen zuzulassen und sie gemeinsam zu diskutieren. Eine tiefe, gemeinsame Reflexion ist ein entscheidender Schritt, um Gruppen oder einzelne Personen in die Lage zu versetzen, einen Standpunkt zu hören, der sich von ihrem eigenen unterscheidet. Das hilft letztlich die Realität des anderen emotional und kognitiv schätzen zu lernen. Das ist ein fundamentaler Weg, um Vertrauen aufzubauen, wo Misstrauen vorherrschte und um kollektive Kreativität zu fördern. Dabei ist es die Aufgabe von System Entrepreneuren aus vagen Absichten konkrete Ziele und Visionen zu formulieren und aus dem Spannungsverhältnis mit der Realität neue nachhaltige Ansätze zu schaffen.

Drittens: Einen gemeinsamen Raum schaffen

Sind nach Analyse und Reflexion die Ziele und Visionen des eigenen Vorhabens festgelegt, kommt es nun darauf an, einen Raum für dessen Umsetzung zu schaffen. Dafür ist der Aufbau einer Infrastruktur ein wesentlicher Bestandteil des System Entrepreneurships. Vor allem deshalb, da sie eines ermöglicht: Kollaborationen – die Zusammenarbeit aller Stakeholder eines Systemwandels zugunsten eines gemeinsamen, nachhaltigen Ziels. Es sollte klar sein, dass sich ein Systemwandel kaum alleine bewältigen lässt. Das liegt im Wesentlichen daran, dass ein einzelner Akteur – wie etwa ein Social Startup – kaum in der Lage ist, das dazu notwendige Spektrum an Fähigkeiten und Mitteln abzudecken. System Entrepreneurship beinhaltet demnach immer Allianzen aus verschieden Co-Innovatoren und Distributoren, die eine gemeinsam entwickelte Innovation systemisch etablieren. Ein Merkmal für ein erfolgreiches System Entrepreneurships ist demnach die Schaffung einer optimalen Konstellation der am Wandel beteiligten Akteure. Dazu benötigt es Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit, branchen-, kulturen- und perspektivübergreifend zu übersetzen, Beziehungen aufzubauen und Workshops und Veranstaltungen zur Unterstützung des Veränderungsprozesses zu konzipieren und zu moderieren. Das alles mit dem Ziel ein möglichst breites Publikum in den Wandel einzubinden.

Viertens: Mit den richtigen Tools ein Systemwandel steuern

Soweit so gut, doch geht es um die konkrete Umsetzung, stellt sich leicht die Frage: Welche Tools eignen sich am besten? Und nach welchem sollte vorgegangen werden? Eine einheitliche Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Die Wahl einer der unzähligen Methoden und Ansätze ist abhängig von Merkmalen wie Art, Alter und Größe eines Systems. Etabliert haben sich aber unter anderem: Theory U, Collective Impact oder Change Labs. Ein Werkzeug, das oft sehr hilfreich ist, ist zudem das sogenannte Mapping. Hierbei werden die Hauptakteure eines Systems und ihrer Beziehungen zueinander illustriert. Das kann helfen, Systeme besser zu verstehen, indem sie in einfacher Form dargestellt, beschrieben und, für weitere Überlegungen, dokumentiert werden. Letztlich bildet der Prozess des Mappings, durch seinen kollaborativen Gestaltungsprozess an sich, eine Plattform zur gemeinsamen Reflexion und Analyse.

Die Methodik des Mappings kann Startpunkt, von Analyse, Reflexion und Koalitionsbildung sein. (Hier nach dem Panarchy-Modell).

Beim Steuern, das heißt dem Anwenden von Tools und Werkzeugen, gibt es zwei essentielle Herausforderungen. Zum einem ist der Ausgang eines Systemwandels, aufgrund mangelnder Erfahrungswerte, oft ungewiss, zum anderen sind Lern -und Steuerungsprozesse oft verschieden und komplex. Für den Bruch mit dem Status Quo eignet sich etwa eine Führungspersönlichkeit, die wie ein Pirat eine Crew anführt und Schlachtzüge von den Seitenrändern eines Systems startet, während der Aufbau von Allianzen jedoch eine Führungspersönlichkeit erfordert, die eher einem Gemeinschaftsorganisator gleicht.

Fünftens: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein

Systeme sind immer mehrdimensional. Unabhängig davon, ob es sich um abstrakte oder konkret greifbare Strukturen handelt: Raum und Zeit spielen bei ihrer Zusammensetzung eine wesentliche Rolle. Umso einleuchtender scheint es, diese beiden Parameter in das eigene Handeln einzubeziehen. Kurzum: Wer einen Systemwandel erfolgreich umsetzen will, muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Dafür identifizierte die einflussreiche Systemtheoretikerin Donella Meadowskonkrete Punkte, die eine größtmögliche Hebelwirkung versprechen – die sogenannten Leverage Points (eng.: „leverage“= deutsch: Hebelwirkung)Das Prinzip dahinter ist es, Orte in einem System zu definieren, deren minimale Veränderung zu einem größtmöglichen Wandel im Systemverhalten führt.

Systematiken wie „Twelve Leverage Points“ nach Donella Meadows bieten besonders für komplexe Systeme eine gute Orientierung. (Quelle: Donella H. Meadows: Thinking in Systems).

Ein Wirkungsmaximum wird am besten erzielt, sobald sich ein System im Umschwung befindet. Vollzieht ein System beispielsweise den Übergang von Aufschwang zu Abschwung, werden feste und resistente Strukturen durch deren Umorientierung elastischer und offener für neue Ansätze. Demnach ist die Aufgabe eines System Entrepreneurs herauszufinden, wann sich Bedürfnisse und Wünsche in einem System ändern, um dann adäquate Vorschläge zu deren Erfüllung vorschlagen zu können. Wo ein Hebel die größte Wirkung erzielt, ist abhängig vom eigenen Vorhaben. Die Möglichkeiten sind also vielseitig. So krempeln nicht nur smarte Elektroautos festgefahrenen Systeme um, sondern kann ein Systemwandel auch durch Dienstleistungen oder durch reine non-profit Initiativen bewirkt werden. So versorgt etwa das Projekt Child & Youth Finance International (CYFI) Kinder und Jugendliche aus prekären Lebensverhältnissen mit Bildungsinhalten zu Finanz -und Wirtschaftssystem. Die Idee: Jungen Menschen wird eine bessere Lebensgrundlage gewährt, indem sie lernen, wie sie Zugang zu finanziellen Mitteln bekommen, eigenes Geld sparen und es in ihre Zukunft investieren können. Um das zu erreichen, sollen langfristig bildungs- und finanzpolitische Systemstrukturen, gemeinsam mit relevanten Systemakteuren, nachhaltig verändert werden. Das Projekt übernimmt dabei die Rolle des Change Leaders und ist damit Befürworter, Experte und Netzwerker zugleich. Operativ erfordert das besonders: die Schaffung eines Problembewusstseins, das Generieren und Teilen von relevantem Wissen, sowie der Aufbau von Allianzen. Letztlich ist dies nur ein Beispiel von vielen, aber es zeigt, dass ein Systemwandel mit den richtigen Schritten machbar ist und das für ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt.


Lesetipp //

Donella Meadows: Thinking in Systems – A primer.

(c) Titelbild: Deva Darshan

Soziales Unternehmertum und Blockchain: Das Beispiel Trustlines

13. November 2018 By

Wie lokale Währungen in kurzlebigen Noteinrichtungen faire Transaktionen ermöglichen können.

Bei den vielen technologischen Entwicklungen, die man über Wochen und Monate durch die Medien vorgetragen bekommt, ist es schwierig Nutzbares von Produktivitätszerstörern und unbrauchbarem Kram zu unterscheiden. Technologische Entwicklungen sind unter anderem Spekulationsblasen, die viel versprechen: Man denke beispielsweise an Apples iPhone 4 Werbeslogan, der sinnbildlich lautete: „Das ändert alles. Wieder einmal“. Und neben der x-ten App, die irgendwelche Notifications an das Display schickt oder irgendwelchen Kaffeemaschinen, die sich vom Esstisch aus bedienen lassen, gibt es dann doch wieder die eine oder andere Entwicklung, die es schaffen kann, Technikerphantasien zu transzendieren und eine globalisierte Gesellschaft verändert. Genau, es geht um die Blockchain, bisher schon bezeichnet als die „digitale Magna Carta“.

Die Kryptoketten digitaler Objekte

Die Macht der Blockchain liegt in ihrer Fähigkeit digitale Objekte, die Dinge in der analogen Welt repräsentieren, mit der Sicherheit mathematischer Gnadenlosigkeit, festhalten zu können. Eine Datenbank, an der man nicht rumfummeln kann, schon allein deswegen, weil die gesamte Datenbank dezentralisiert ist. Meine Facebook-Daten liegen auf Facebook Servern und sonst nirgendwo. Daten, die in die Blockchain geschrieben werden, liegen auf jedem Computer, der an diesem Netzwerk teilnimmt (mittlerweile mehr als 200.000): klassisches Peer-to-Peer also. Um Daten zu manipulieren, müsste man das zu manipulierende Datum auf jedem einzelnen Rechner, der Teil des Netzwerkes ist, manipulieren. Das ist geradezu unmöglich, auch Dank der Verschlüsselung, die die Blockchain nutzt. Die Blockchain ist eine wachsende Kette aus Datenelementen, wobei jedes Datenelement verschlüsselt ist und zudem mit einem Zeiger auf das nächste (zeitlich) folgende Datenelement zeigt (daher Kette). Die Crux: Wenn ich einen Schreibvorgang (eine Manipulation) über ein Datum erreichen will, muss ich alle vorherigen Kettenelemente entschlüsseln.

Ich speicher’ dir die Welt

Die Frage ist nun, was man damit macht. Ist die Blockchain an sich eine herausragende technische Innovation oder eher ein Lösungsansatz, für den wir jetzt nur noch das richtige Probleme finden müssen? Jedes digitale Objekt kann ohne irgendeinen Mittler verteilt gespeichert werden. Aha. Nehmen wir mal das Beispiel Wissenschaft: Wissenschaftler könnten ihre neusten Entdeckungen einfach in die Blockchain schreiben. Somit gibt es keine Möglichkeit Ideen zu klauen, das geistige Eigentum der Entdeckung ist unwiderruflich geklärt. Es kann niemand danach kommen und heimlich das gleiche Objekt nochmal in die Datenbank einschleusen. Und so funktioniert das natürlich auch mit künstlerischen Objekten aller Art, Ideen, oder auch Gesundheitsakten und natürlich Verträgen (Smart Contracts) genau wie jedem anderem Finanzobjekt: Überweisungen, Transaktionen, Bonds, Aktien und Kredite. Es sind eher die letzteren Objekte, die die Blockchain bisher so bekannt gemacht haben.

Das Banksystem von heute

Soziale Graphen als Geldverkehr: Eine Sache des Vertrauens.

„Unser Ziel ist das sogenannte ‚People-Powered Money‘, wodurch Menschen wie Du und Ich lokale Währungen schaffen können, die unabhängig sind von Staaten, Zentralbanken oder auch normalen Banken. Es ist ein alternatives System zu dem Geldschöpfungssystem, wie wir es heute haben”, sagt Dominik Schmid. Wir treffen den ehemaligen Mathematik- und Philosophiestudenten in einem Co-Working Space in München. Von dort arbeitet er für das Start-Up Brainbot aus Mainz. Brainbot definiert sich über die zwei Hauptprojekte Raiden und Trustlines, die beide auf der Blockchaintechnologie von Ethereum aufbauen. Das Ziel von Trustlines ist es, lokale und effiziente Währungen aufzubauen. Mittels einer App versendet und empfängt man dann Geldbeträge.

Es ist ein eisiger Morgen und Dominik ist bisher fast alleine in dem hippen Co-Working Office in der Münchener Maxvorstadt. „Büros in München sind einfach sehr teuer, wir bleiben erst mal hier, auf längere Sicht werden wir sicherlich irgendwo was bekommen.“ Mittlerweile arbeiten mehr als 20 Entwickler bei Brainbot, viele verteilt in Deutschland und auf der Welt, eben genau wie Dominik. „Ich habe gestern einen interessanten Artikel über eine Studie im Guardian entdeckt“, sagt er gleich zu Beginn. „85 Prozent der britischen Parlamentarier wissen nicht, dass Banken Geld einfach so erschaffen können. Aber das ist so. Banken erschaffen einfach Geld, zum Beispiel, wenn wir einen Kredit aufnehmen. Das ist schon ziemlich abgefahren, oder? Trustlines und ganz allgemein dezentralisierte Geldsysteme können ähnliche Mechanismen nutzen, um Alternativen zu entwickeln. Ein Schlagwort, das man immer wieder hört ist ‚Banking the unbanked‘.“ Ich wusste das selbst nicht und vergewissere mich nach dem Interview mit Dominik nochmal selbst über einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dort steht auch: „Wenn Banken uns Geld geben, haben sie dieses Geld in der Regel gar nicht. Die Macht Geld zu schöpfen und zu verteilen liegt damit bei der Handvoll von Banken, die wir alle kennen.“

Trustlines ist somit der Versuch, Geldverkehrsströme unabhängig von den kommerziellen Banken zu ermöglichen. Dabei setzt das System auf die technologische Sicherheit der Blockchain einerseits und die Bindung sozialer Normen anderseits. Trustlines sind hier wirklich Vertrauenslinien, wie sie im echten Leben bestehen. Das Vertrauen realisiert sich in diesem Kontext darin, dass man Freunden, Bekannten oder Familienmitgliedern einen bestimmten Geldbetrag als Kreditlinie einräumen kann. Beidseitig eingeräumte Kreditlinien bilden dann Trustlines. Innerhalb dieser Trustlines können sich nun zwei Freunde Geld senden.

„Sagen wir einfach mal wir beide sind Nachbarn und kennen uns gut. Ich gebe dir eine Kreditlinie von zehn Euro und du mir auch. Diese zwei gegenläufigen Kreditlinien sind unsere Trustline, jeder hat zehn Euro zur Verfügung. Ich kann dir jetzt fünf Euro über diese Trustline schicken. Dann hast du fünfzehn Euro zur Verfügung, die du mir irgendwann ganz oder in Teilen schicken kannst. Ich habe aber nur noch fünf Euro zur Verfügung. Das klappt gut und macht Sinn, weil wir uns kennen. Nun möchte ich aber Barbara 5 Euro zahlen, aber ich habe keine Trustline mit ihr, sondern nur du. Über dich gibt es also jetzt einen Pfad von Trustlines, den ich für meine Bezahlung an Barbara nutzen kann. Dafür muss ich nur die jeweiligen Kontostände der Trustlines verschieben, unsere Trustline verschiebt sich um fünf Euro zu deinen Gunsten und deine Trustline mit Barbara verschiebt sich um fünf Euro zu Ihren Gunsten. Für dich bleibt alles gleich, nur ich habe fünf Euro weniger und Barbara fünf Euro mehr, “ erklärt Dominik.

Und weiter: „Nehmen wir an, Barbara ist mit dir unterwegs und möchte jetzt abends einen Cocktail für fünf Euro kaufen. Sie kann dann einfach eure Trustline schließen und da sie dort ja im Plus ist, fordert Sie von Dir fünf ‚echte‘ Euro in bar. Eure Trustline ist damit ausgeglichen und geschlossen, aber unsere weißt ein Plus von fünf Euro auf deiner Seite auf. Aber nachdem du mir ja vertraust, Stichwort soziale Normen, weißt du, dass ich dir die fünf Euro jederzeit geben würde, wenn du wolltest. Daher hast du kein Problem damit Barbara auszuzahlen. Die Idee ist, dass jeder über geeignete Pfade – Trustlines – jeden bezahlen kann. Werden Trustlines geschlossen, wird der Nettobetrag der Trustline in echtem Geld oder Dienstleistungen ausgeglichen, von dir oder deinen Freunden und Bekannten.“ Das Besondere an diesem System ist, dass das Geld ohne klassische Geldschöpfung geschaffen werden kann und dass dieses Geld mit Fremden über Vertrauenslinien ausgetauscht werden kann.

 

Das System Trustlines

Aha, jetzt verstehe ich das schon besser. Also wenn ich Barbara eine zehn Euro Kreditlinie einräume und Barbara würde Dominik eine für 20 Euro einräumen, dann könnte ich ihm maximal zehn Euro schicken, weil ich praktisch nur die Brücke zwischen mir und Barbara nutzen kann. Wenn ich Dominik nun 20 Euro schicken möchte, dann findet die App eine entsprechende Kreditlinie zwischen uns, da können dann viele Leute dazwischen sein, die diesen Betrag zulässt – dieses Feature nennt sich Pathfinding. Dieser Graph verläuft dann nicht mehr nur über Barbara, sondern über andere Knoten, die auch einen Maximalbetrag von zehn Euro haben. Führt man beide Kreditlinien zusammen, kann ich Dominik also insgesamt 20 Euro schicken. Es geht nicht darum, dass er den oder den kennen musst. Aber im Endeffekt bekommt man immer nur von denjenigen Geld, den man auch wirklich kennt. Die direkte Linie zählt. Soziale Normen garantieren damit die Sicherheit, dass ich beim Ausstieg aus dem Netz meinen Geldbetrag bekomme und zwar ausschließlich von meinen direkten sozialen Bekanntschaften, meinem sozialen Netzwerk. Das heißt, dass der Intermediär des klassischen Zahlungsverkehrs, zum Beispiel die Deutsche Bank, durch technologische Faktoren und soziale Normen ersetzt wird.

 

Dominik Schmid von Trustlines

Das bedeutet natürlich auch, dass man seine Freunde in Vertrauenskredite einteilen muss. Man sieht genau, welchen Betrag man einem Freund anvertrauen würde. Die Vertrauensbeziehung lässt sich in einem expliziten, diskreten Wert darstellen. Die App ist derzeit in ihrer Betaversion, es wird sich zeigen, wie Nutzer mit diesem Faktor umgehen werden. Für den einen oder anderen wird es sicherlich nicht ganz so einfach sein, Freunde in unterschiedliche Vertrauensbeträge einzuteilen, vor allem, wenn diese Beträge im System offengelegt werden und für alle sichtbar sind.

Chancen für soziales Unternehmertum

In der Idee von Trustlines manifestiert sich auch das Potential von Blockchain-Anwendungen für soziales Unternehmertum. Denn der soziale Graph, auf dem das System beruht, kann für die Verwaltung von allen möglichen Transaktionen verwendet werden. Laut Dominik funktionieren Trustlines besonders gut in klar abgegrenzten Kommunen oder Gemeinschaften, die eine Lokalwährung benötigen. Wie etwa die Milliarden von Menschen, die in ländlichen Gegenden in Entwicklungsländern leben und kein Bankkonto haben. Sie können gar nicht am kommerziellen Geldverkehr der Banken teilnehmen. Lokalwährungen sind Währungen die nicht an einen Nationalstaat gebunden sind (wie etwa der Euro). Oder in ephemeren Kommunen, wie zum Beispiel Flüchtlingslagern, in denen sehr viele Menschen aus verschiedenen Gegenden in kurzer Zeit auf kleinem Raum leben. Er fügt an: „In großen Flüchtlingslagern kannst du dadurch schnell und effizient Geld verteilen, ohne das man ein Bargeldsystem brauchst. Diese Währungen haben in ihrem Währungsraum echten Wert und müssten dann wiederum umgetauscht werden, wenn sich der Wert über diese Grenzen hinaus erhalten soll. In Jordanien gibt es ein Flüchtlingslager, das bereits eine Blockchain-basierte Währungslösung innerhalb eines Lagers aufbaut. Das Projekt heißt Building Blocks. Die Idee von Trustlines ist dann eben auch, dass man viele kleine Währungskreise miteinander verbindet. Dadurch kann man letztendlich sogar über die Grenze des eigenen Währungskreises mit Hilfe der Blockchain Geld in andere Währungskreise überweisen.“

Die Blockchain wird einiges ändern, auch im sozialen Unternehmertum. Es ließe sich schon mal debattieren, ob die Abzweigung des Geldverkehrs in eigene Geldnetzwerke – wie etwa Trustlines – nicht bereits eine Demokratisierung der Geldschöpfungs- und Verteilungsinfrastrukturen darstellt. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, denn rechtlich betrachtet befinden sich diese innovativen Finanzierungstechnologien noch in der Schwebe. Steuern fallen hier eben auch an. Bis dahin führen die Kreditlinien wohl in alle erste Linie noch zur Bank um die Ecke.

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