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relaio.de

Die Plattform für nachhaltiges Unternehmertum

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Mach´s gut, relaio!

relaio, die Plattform für gesellschaftlichen Wandel stellt den Betrieb ein. Aber auf anderen Websites der Hans Sauer Stiftung geht es weiter… 

Wie soll eine Gesellschaft aussehen, die ein gutes und gerechtes Leben für alle schafft und dabei die Belastungsgrenzen unseres Planeten achtet? Welche Werte, Praktiken und Technologien müssen sich ändern, damit wir die Welt und die Gesellschaft in der wir leben, nachhaltig gestalten können? Und wer sind diejenigen, die dazu beitragen können?  

Mit diesen Fragen beschäftigte sich relaio zuletzt. Und hat versucht Antworten darauf finden: relaio hat Wissen geliefert, wie gesellschaftlicher Wandel funktionieren kann und dabei Hintergründe und Konzepte zu aktuellen Themen aus Forschung und Gesellschaft beleuchtet. Wie sich Innovationen in der Gesellschaft verbreiten wurde dabei ebenso thematisiert, wie die Probleme der kapitalistischen Produktionsweise oder die Unzulänglichkeiten einer Circular Economy. relaio hat aber auch Lösungsansätze vorgestellt und Vorbilder interviewt, die demonstrieren, wie gesellschaftlicher Wandel gelingen kann. Sowohl Nischenakteur*innen wie das „Penthaus à la Parasit“ als auch renommierte Wissenschaftler wie Volker Quaschning kamen hier zu Wort. relaio wollte so auch seine Leser*innen dazu ermutigt, sich selbst als Gestalter*innen des Wandels miteinzubringen. 

Menschen dazu zu bewegen, sich einzusetzen und ihnen das hierfür nötige Wissen mitzugeben, war seit jeher das Ziel dieses operativen Projekts der Hans Sauer Stiftung. Es steht damit in der gedanklichen Tradition des Erfinders, Unternehmers und Stifters Hans Sauer, der bereits 1987 das „DABEI-Handbuch für Erfinder und Unternehmer“ erarbeitet hat, um Menschen einen Leitfaden für die Umsetzung von Innovationen an die Hand zu geben. Der Stifter beschäftigte sich daraufhin in den 1990er Jahren mit dem Thema der erfinderischen Kreativität und deren Beitrag zu einer funktionierenden „Ko-Evolution“ von Mensch und Natur. Seine Tochter Monika Sachtleben veröffentlichte 1999, drei Jahre nach dem Tod des Stifters, zu diesem Thema das Buch „Kooperation mit der Evolution“. Diese Veröffentlichungen lieferten die Wertedimension, die die Arbeit von relaio prägten: Die Förderung von technischen und sozialen Innovationen, bei denen der gesellschaftliche Nutzen im Vordergrund steht.  Eine digital erneuerte Version des „DABEI-Handbuch“ entstand 2009, die sich noch stark am Aufbau des ursprünglichen Handbuchs orientierte. Zeitweise wurde das Projekt dann am LMU Entrepreneurship Center in München weiterbearbeitet, wobei vor allem der aktuelle Wissensstand rund um das Thema „Nachhaltig Wirtschaften“ erarbeitet wurde. 2012 wurde dann das DABEI-Handbuch „digitalisiert“ und thematisch grundlegend ergänzt und für eine breitere Zielgruppe zugänglich gemacht.  Dies legte den Grundstein für das Projekt relaio, das als „Ideengarage“ gestartet wurde und dann 2015 als Plattform für nachhaltiges Unternehmertum online ging.  

Im Laufe der Zeit gewannen dabei aktuelle Themen der Stiftungsarbeit wie Social Design, Stadtentwicklung und Cirular Society immer mehr an Bedeutung. Diese Themen sind aktuell die Schwerpunkte der Stiftungsarbeit geworden und werden nun auch redaktionell auf- und beabeitet. Wer die Stiftungsarbeit also weiterhin verfolgen möchte, ist herzlich eingeladen dies auf www.socialdesign.de zu tun.  Die Seite relaio.de wird daher nicht weiter aktualisiert, bleibt aber in ihrer aktuellen Form erhalten. Die Plattform hat viele angehende Sozialunternehmer*innen und Pioniere des Wandels begleitet, ihnen Wissen zur Verfügung gestellt und versucht, ihnen neue Richtungen aufzuzeigen, die hierfür erarbeiteten Inhalte sollen daher auch anderen noch zur Verfügung stehen.  
An dieser Stelle möchte sich relaio zudem bei allen Leser*innen, Interviewpartner*innen und ehemaligen Mitarbeiter*innen bedanken – ohne euch wäre diese Plattform nicht so bunt, vielseitig und spannend geworden.  

Für uns heißt es jetzt aber Abschied nehmen, mach´s  gut relaio! 

Aneignung von oben – ein prekäres Penthaus über den Dächern

Irritation im öffentlichen Raum

Eine Wohnung in zentraler Lage mitten in der Stadt, die ausreichend Raum bietet, ist in den meisten deutschen Großstädten ein Luxusgut. Wie stark sich die Wohnsituation auf das eigene Befinden und Chancen und Risiken im privaten und beruflichen Leben auswirkt, hat nicht zuletzt die Corona-Krise mit ihren Ausgangsbeschränkungen, leerstehenden Büros und geschlossenen öffentlichen Einrichtungen gezeigt. Immer öfter stellt sich in diesem Rahmen akut die Frage, wie Wohn- und Gestaltungsraum jenseits der vorherrschenden Verwertungslogik zugunsten der Höchstbietenden für alle zugänglich(er) werden könnte. Seit einigen Tagen thront über den Dächern Münchens ein kleines Penthaus aus Holz, in dessen verspiegelten Außenflächen sich die ansonsten kaum bezahlbaren Dachflächen der Münchner Umgebung reflektieren. Die Modular-Bauweise ermöglicht einen zügigen Auf- und Abbau. Im Interview mit Jakob Wirth, der das Haus zusammen mit seinem Kollegen gebaut hat, betreibt und darin wohnt, haben wir über das Recht auf Stadt, Prekarität und Privilegien und die Münchner Nachbarschaft gesprochen.

relaio: Aktuell seid ihr ja auf einem Münchner Dach angekommen. Welche Umstände haben dazu geführt, dass ihr „Penthaus à la Parasit“ gestartet habt?

Jakob Wirth: Das Ganze hat begonnen mit der klassischen, persönlichen Erfahrung, nach Berlin zu ziehen und zu sehen, dass die Stadt auch nicht mehr so ist, wie man es noch erzählt, mit günstigen Mieten – es ist auch dort nicht einfach, Wohn- und Gestaltungsraum zu finden. Aus dieser Auseinandersetzung mit dem Wohnungsmarkt dort ging die Suche los, wo noch Lücken und Nischen in der Stadt zu finden sind. Da fiel der Blick auf die Dächer und die Frage kam auf, wie man diese brachliegenden Flächen nutzen könnte. Das war der eine Teil der Genese des Projekts. Dazu kam, dass wir beide in mietpolitischen Initiativen tätig sind. Ich selbst habe schon immer Projekte zwischen Kunst und Aktivismus gemacht und deswegen habe ich immer Themen behandelt, die aktuell im Fokus von gesellschaftlichen Diskursen sind. Ganz akut kam dann dazu, dass ich keine Wohnung hatte. So entwickelte sich die Idee, einen Parasiten ins Leben zu rufen, der es möglich macht, von Dach zu Dach zu ziehen und eben diese brachliegenden Dächer nutzbar zu machen.

(c) Penthaus à la Parasit

relaio: Was meint ihr mit dem Begriff des Parasiten?

JW: Wir beziehen uns beim Parasiten nicht auf den Alltagsbegriff, also nicht auf den Schmarotzer, der nur von anderen zehrt, sondern auf die Sozialfigur des Parasiten in Anlehnung an den Philosophen Michel Serres. Der beschreibt den Parasiten als eine Sozialfigur, die Teil jeglichen Systems ist. Die Aufgabe des Parasiten ist es, die Grenzen des Systems sichtbar zu machen, indem er auf der Grenze sitzt, in unserem Fall wohnt, und dort irritiert. Dadurch richtet das System die Aufmerksamkeit auf die Grenze und sieht plötzlich den Parasiten. In dem Moment, in dem er aber gesehen wird, muss er auch wieder weichen, weil das System den Parasiten natürlich nicht gern auf seiner Grenze tanzen sieht. Dann sucht sich der Parasit eine neue Nische. Das heißt, in dem das Penthaus hier auf dem Dach sitzt, wird die Grenze und ganz konkret diese Fläche sichtbar und ist damit keine Nische mehr. Der Parasit selbst kann aber nur in der Nische, auf der Grenze leben, das heißt, er ist immer gezwungen, weiterzuziehen. Wenn er dableiben würde, würde er ja quasi einfach Teil dieses Gebäudes werden, aber irritieren kann er nur, wenn er auf der Grenze wohnt. Michel Serres spricht auch davon, dass der Parasit das System vor dem „Tod durch Ordnung“ schützt. Dadurch, dass der Parasit sich auf der Grenze befindet, bringt er ständig neue Informationen in das System ein. Die Figur des Parasiten gibt es in jeglichen Systemen und Zusammenhängen, und es geht dem Parasiten immer darum, zu irritieren, um dann wieder den Platz zu wechseln und eine neue Grenze sichtbar zu machen. So verstehen wir auch das Penthaus: Es soll irritieren, sichtbar machen. Konkret geht es dabei um das Recht auf Zentralität, Recht auf Teilhabe und Recht auf Mitbestimmung, Recht auf Wohnraum. Dafür hat der Parasit unterschiedliche Strategien.

relaio: Nischen sind ja ein Ausgangspunkt für Transformationsprozesse. Wie funktioniert das in eurer Praxis, diese nach eurem Weiterziehen weiterzugeben oder, ganz konkret, die Nische „Dach“ weiter zu nutzen?

JW: Der Parasit hat da eine Doppelstrategie, die auf mehreren Ebenen abläuft. Auf der einen Ebene wirkt der Parasit sehr symbolisch. Da geht es darum, Stadt zurück zu erobern, Zentralität zurück zu erobern: der Raum im Zentrum, wie hier in München, sollte uns Stadtbewohnern gehören und wir sollten darüber bestimmen können. Der Preis sollte nicht darüber entscheiden, wer die Entscheidungen treffen kann. Hier beim Parkhaus in München sieht man das beispielsweise sehr konkret. Ehemals war die Fläche öffentlicher Grund, nun wurde dem Höchstbietenden das ganze Areal verkauft. Und der muss dann natürlich auch profitmaximierend agieren. Jetzt entstehen hier 19 Fünf-Sterne-Penthäuser – hier in dieser Innenstadtlage, wo es die Chance gegeben hätte, die Stadt wirklich anders zu gestalten und zugänglicher zu machen.

Die verspiegelte Außenfläche des Penthaus. (c) Penthaus à la Parasit

Zurück zum Parasiten: Einerseits verfolgt er eine symbolische Wirkung, aber auf anderer Ebene wirkt er auch ganz praktisch. Konkret für mich als Person bietet der Parasit den Raum, den ich benötige: Ich musste, weil ich aus der USA nach Deutschland eingereist bin, zwei Wochen in Selbstquarantäne gehen und da war die Frage, wo ich hier in München in Quarantäne gehen kann, beziehungsweise, wo ich sie mir leisten kann, akut. Der Parasit schafft für mich diesen Ort. Damit agiert er neben der symbolischen Ebene auch auf der realen und schafft Fakten.

Aber natürlich schafft er auch Raum auf einer Community-Ebene: In Berlin standen wir mal länger und dann wurde das Penthaus auch zu einem Sozial- und Organisationsraum. Dann haben sich Initiativen für Plena auf dem Dach getroffen, es gab Konzerte, Diskussionsveranstaltungen, die Nachbarschaft ist sich hier begegnet. Der Ort wurde so von einer brachliegenden Fläche plötzlich zu einem Sozialraum.Was Städtebau betrifft, muss der Parasit da natürlich auch aufpassen: In dem Moment, in dem er die Lücke sichtbar macht, kommt natürlich die Frage, wer diese Information aufgreift. Ist dann der erste Schritt, diese Lücke wieder zu ökonomisieren und gewinnmaximierend zu verwerten oder schafft man es, die Grenze idealerweise in einer Form von Selbstorganisation oder kollektiver Nutzung zu belassen?

Es gibt auch noch ein anderes Format, im Rahmen dessen Leute in dem Penthaus für eine Nacht wohnen konnten. Konzeptionell geht es dabei darum, dieses Privileg des Oben-Seins, dieses Privileg des Penthauses, also diese Position in der Gesellschaft für alle zugänglich zu machen. Das ist eine Position, in der sich normalerweise gesellschaftlich die allerwenigsten befinden und deshalb soll sich symbolisch auch diese Position angeeignet werden. Deswegen sprechen wir von Aneignung von oben. Natürlich auch als Provokation, politisch stehen wir ein für Bottom-Up-Bewegungen, aber wir wollten das mal umkehren und sagen, wir gehen direkt dorthin, wo wir eigentlich keine Zugänge haben und drehen das einfach mal um. Die Dächer stehen hier symbolisch für die hierarchische höhergestellte Position in gesellschaftlichen Zusammenhängen.

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relaio: Was du ja auch schon angesprochen hast, ist, dass du da oben natürlich auch nicht nur neue Menschen anlockst, sondern es gibt ja auch schon Leute, die auf dieser Höhe oder in dieser Umgebung wohnen. Wie ist euer Kontakt mit der Nachbarschaft da oben?

JW: Also in München bin ich echt verwundert, wie wenig Menschen hier im Zentrum wohnen. Gegenüber steht ein Hotel, das wegen Corona leer ist. Da stelle ich mir auch die Frage, warum das nicht für Menschen, die akut Wohnraum benötigen, genutzt werden kann? Wenn es schon in kommerzieller Sicht aktuell nicht nutzbar ist, könnte es ja Wohnraum für andere schaffen. Gegenüber sind dann noch die Kammerspiele, das ist ja auch keine Wohnbebauung. Dann kommen aber doch einige Nachbarn hoch, die das langsam entdecken. Wir sind schon ins Gespräch gekommen. Bei der Aktion finde ich es auch sehr wichtig, nicht immer direkt eine Message drauf zu legen, sondern mit der Bedeutung offen zu bleiben. Es geht darum, Imaginationen zu erzeugen, die nicht eins-zu-eins mit einer inhaltlich-normativen Interpretation geframed sind, sondern Offenheit für eigene Inhalte, Interpretationen und Symboliken lassen. Mit der Nachbarschaft haben wir dabei an allen Standorten positive Erfahrungen gemacht.

Je nachdem, wie lang wir bleiben, wollen wir auch hier Formate entwickeln, um die Nachbarschaft einzuladen. Als wir in Neukölln auf dem Dach waren, haben wir ein Konzert gemacht, zu dem wir die ganzen Nachbarn eingeladen haben, auf ihre Balkone und Hausdächer zu steigen. Dann haben alle dem Konzert über die Straßen hinweg zugehört.

Um aber nochmal auf die konkrete, reale Nutzung oder Ebene zurück zu kommen: Es ist in diesem begrenzten Zeitraum unserer Intervention utopisch, städtebaulich direkt daran anzuknüpfen. Und natürlich entspricht die Guerilla.Installation nicht den Normen, die für die Erschaffung von Wohnraum wichtig sind. Es geht uns darum, zu zeigen, dass man selbstermächtigend beginnen sollte, sich Räume zurückzuerobern.

relaio: In München gab es ja schon einige Ideen in letzter Zeit, wie Dächer verstärkt genutzt werden können.

JW: Was Dachkonzepte und eine konkrete dauerhafte Nutzung betrifft, ist die Lage etwas zwiespältig. Deswegen nennen wir das Projekt auch „prekäres Penthaus“. Es spielt genau mit diesem Paradox, dass es einerseits wahnsinnig privilegiert ist, man eben diesen Weitblick, diese Position ganz oben hat, aber die Wohnverhältnisse sind dabei wahnsinnig prekär. Es sind 3,6 m² Wohnfläche, man hat eine sehr einfache Infrastruktur, die man, wenn man aus einer privilegierten Situation kommt, erstmal als Romantik wahrnehmen kann. Abe natürlich ist die Wohnsituation herausfordernd in Bezug auf Privatsphäre, Gestaltungsraum, Grundbedürfnissen und so weiter.

Deswegen schlagen wir auch nicht in die Kerbe wie diese Tiny-House-Bewegung, und grenzen uns auch etwas ab von der Frage, wie die Stadt aussehen würde, wenn einfach jeder auf kleinem Raum lebt – das kann nur gut sein, wenn Menschen sich freiwillig dazu entscheiden, aber in den meisten Fällen ist dem nicht so. Dann wird es schnell zu einer neuen Norm und zwingt dann gerade die Leute, auf kleinem Wohnraum zu leben, die eh schon wenig haben. Was aber schon interessant ist, ist dieser persönliche Prozess beim Tiny-House-Bau, natürlich ist es interessant, sich zu fragen, wie man selbst wohnen möchte. Diese eigene Erfahrungsebene mit rein zu bringen und sich den eigenen Wohnraum wirklich selber zu schaffen und zu gestalten, ist natürlich ein spannender Prozess.

relaio: Welche Rolle spielen Kriterien der ökologischen Nachhaltigkeit bei euch?

JW: Ökologische Aspekte sind da auch mit eingeflossen, klar, wir können das Haus schnell auf- und abbauen und es hinterlässt keine Schäden. Es ist auch alles aus Holz gebaut und außen verspiegelt, das heißt, es ist auch im Sommer schön kühl. Ansonsten ist auch nicht viel drinnen, wir haben einen kleinen Tisch, ein Bett, eine Kochstelle, eine Komposttoilette. Es ist sehr reduziert. Für die Baumaterialien wurde auch sehr viel bereits genutztes Material verwendet, die ganzen Wände sind aus alten Dachböden von Baustellen, die weggeworfen wurden.

Die spiegelnde Außenhaut ist natürlich stark konzeptuell verankert: ein Parasit versucht, sich zu tarnen und nicht sofort aufzufallen, der Spiegel ist also wie eine Camouflage. Gleichzeitig wird versucht, Thematiken der Gesellschaft widerzuspiegeln, aber da steht der ökologische Aspekt nicht im Vordergrund. Generell schauen wir, wenn wir etwas umsetzen, erstmal, was es schon gibt und was wir weiterverwenden können und dann erst, was man noch neu dazu kaufen muss. Bei dem Rahmen war es hier zum Beispiel wichtig, dass es exakt das gleiche Holz ist wegen der Statik, da wollten wir kein Risiko eingehen. Es gibt Elemente, bei denen man weiß, dass man sie neu beschaffen muss und andere, die man gut recycelt verwenden kann: die Fenster und die Tür sind auch recycelt. Das ist so ein Mix. Aus Gründen der Transparenz würde ich aber nochmal betonen, dass die ökologische Nachhaltigkeit einfach ein Grundprinzip unserer Arbeitspraxis ist, das Penthaus à la Parasit setzt diese aber nicht als Fokus.

(c) Penthau à la Parasit

relaio: Auf eurer Website findet sich folgende Aussage: „Wenn der Parasit vom Wirt profitiert, ohne das System dabei zu zerstören, transformiert er“. Welche Transformationen könnten durch die Präsenz des Penthouse angestoßen werden?

JW: Der Parasit alleine kann keine Transformation möglich machen, da bin ich schon auch down-to-earth. Aber wir haben die Hoffnung, die Debatte wie hier in München um das bayerische Volksbegehren „6 Jahre Mietenstopp“ und ganz allgemein lokale Stadt-Themen durch die Präsenz des Parasiten zu pushen. Natürlich sagen wir auch ganz klar, dass die Entwicklungen, wie sie hier am Gelände liefen, auf keinen Fall auf weiteren Flächen so laufen sollten. Also da befinden wir uns schon auf der Diskurs- und politischen Ebene. Wir wissen aber auch, dass wir mit so einem kleinen Projekt nicht alleine Realpolitik verändern werden können. Es geht eher darum, Transformationen zu unterstützen, also, die Selbstermächtigung von den Leuten hier zu bestärken. Wir wollen zeigen, dass man sich Räume auch noch nehmen kann, da wollen wir Mut geben. Dabei verfolgen wir hier aber nicht nur einen aktivistischen Ansatz, sondern es geht uns auch darum, Leute aus unterschiedlichen Milieus zu erreichen. Wir wollen Bilder kreieren, die Anschlüsse erzeugen und nicht zu stark verurteilen. Es soll gerade so offen bleiben, dass jeder, der sich damit auseinandersetzt, eine eigene Botschaft daraus entwickeln kann.

relaio: Hängt dieses Fördern von Assoziationen auch mit der ästhetischen Entscheidung zusammen, dieses Haus tatsächlich wie ein kleines Haus aussehen zu lassen, anders als bei vielen Tiny-House-Entwürfen?

JW: Genau, damit spielen wir, einerseits versuchen wir durch die Form eine wirkliche Konnotation zu erzeugen zu Wohnraum, zu „Zuhause“. Gleichzeitig versuchen wir auch, wieder damit zu brechen, durch die Spiegelhaut und die Asymmetrie, um nicht in ein zu romantisches Bild vom Haus als Eigenheim zu fallen. Wir wollen Assoziationen erzeugen, an die viele Anschluss finden, aber trotzdem wieder das Konstrukt zu öffnen und Widersprüche zulassen. Wir sind immer im Hin und Her, da lehnen wir uns wieder an die Figur des Parasiten an, auch der tanzt immer zwischen innen und außen. Der Parasit muss einerseits ans System angedockt sein und andererseits muss er auch immer außerhalb davon sein und tanzt sozusagen auf dieser Grenze. Das ist das, was der Parasit und das Penthaus in verschiedenen Dimensionen versuchen, umzusetzen.

Eine Kaufanzeige für das Penthaus. (c) Penthaus à la Parasit

relaio: Wie du vorher ja gesagt hast, geht es nicht nur darum, auf fehlenden Wohnraum aufmerksam zu machen, sondern auch darum, Netzwerken, die schon da sind, den notwendigen Raum zu geben. Dabei wollt ihr ja explizit unterschiedliche Leute zusammenzubringen. Wie hat das denn bisher so funktioniert?

JW: Genau, das ist so eine nächste Ebene oder Strategie vom Penthaus. Das Penthaus oder der Parasit sucht aufsuchende Rezipient*innen, so habe ich das mal getauft. Deshalb sneakt sich der Parasit auch direkt in die Alltagsrealitäten ein: indem er zum Beispiel auf der Immobilienplattform Immoscout24 inseriert hat und dadurch Leute, die eigentlich grade Wohnraum suchen, beziehungsweise. kaufen wollen, über den Parasiten „stolpern“. Über diese Anzeige kamen dann auch Leute zu Besichtigungen, haben sich das angeschaut und darüber nachgedacht, es zu kaufen. Das könnten sie auch tun, aber nur mit dem Konzept dahinter, dass sie es nicht auf eigenes Eigentum stellen dürfen, es muss parasitär bleiben. Ähnlich aufsuchend war da unser Angebot, Leute eine Nacht in dem Penthaus wohnen zu lassen, das wurde auf unterschiedlichsten Kanälen verbreitet. In Berlin kamen da Leute unterschiedlichsten Alters, aus unterschiedlichen Szenen. Klar, auch beim Wohnen kam gut die Hälfte aus der Bubble von jungen, politisch ähnlich orientierten Leuten, aber die andere Hälfte eben nicht, ähnlich auch bei dem veranstalteten Konzert. Es wird also wirklich versucht, an Alltagswelten anzuknüpfen und auch Teil dieser zu werden. Das passiert einerseits auf diesen unterschiedlichen Plattformen, die genutzt werden, aber andererseits auch dadurch, dass es hier, mitten in der Stadt, steht und physisch „konfrontiert“.

relaio: Ihr seid jetzt noch einige Wochen hier in München. Was wünscht ihr euch noch von dieser Zeit?

JW: Auf jeden Fall wünschen wir uns, dass der Parasit weitere Nischen entdeckt. Ganz realpolitisch wünschen wir uns, die Thematik vom Recht auf bezahlbaren, würdigen Wohnraum wieder stark in den Fokus zu rücken. Dazu wollen wir uns vernetzen mit den Initiativen und Gruppen, die hier aktiv sind. Vielleicht können wir dadurch auch Leute mobilisieren, die vorher etwas weiter weg waren von dem Thema. Ansonsten sind noch zwei Formate geplant, die grad aber noch ein Geheimnis sind, die werden erst noch herauskommen – wir arbeiten auch mit der Überraschung. Und ganz simpel wünscht sich der Parasit aktuell, weiter auf einem Dach sein zu können. 

Partizipative Stadtgestaltung: Kooperativ Gemeinwohl schaffen und erhalten

Gentrifizierung von kulturell gewachsenen Vierteln, Verdrängung von einkommensschwachen Menschen an die Stadtränder, horrende Mietpreise – die Lage in deutschen Großstädten lässt erahnen, dass Wohnen in der Stadt bald Luxusgut sein könnte. Oft können sich Alleinerziehende, Rentner*innen, Studierende oder Menschen mit geringem Einkommen das Wohnen in „ihrem“ Stadtteil nicht mehr leisten. Immobilien und deren Entwicklung werden momentan häufig als Kapitalanlage und zur Gewinnausschüttung ge- und verkauft. Wie kann stattdessen Gemeinwohl im Immobiliensektor etabliert werden? Im Interview mit der Architektin und Aktivistin Roberta Burghardt haben wir über Diversität in stark umworbenen Stadtvierteln, Partizipationsprozesse und konstruktives Handeln gegen Verdrängungsmechanismen gesprochen.

relaio: Du arbeitest als Architektin und bist aktivistisch in mehreren Projekten zu partizipativer Stadtgestaltung aktiv. Kannst du uns zu Anfang etwas von deiner aktuellen Arbeitsweise mit coop.disco erzählen?

Roberta Burghardt: coopdisco ist eine  Kooperative, in der sich Menschen, die als Architekt*innen und Planer*innen, als Forschende und Lehrende an Hochschulen, als Projektentwickler*innen arbeiten und in stadtpolitischen Initiativen aktiv sind, zusammengeschlossen haben. Gemeinsam ist uns dabei die politische Haltung, mit der wir Architektur machen: Wir setzen uns für eine Stadtentwicklung ein, die sich am Gemeinwohl orientiert. coopdisco nutzen wir dabei als gemeinsame Plattform für unsere Ideen und unsere geteilte Praxis. Wir haben angefangen, als  Selbstständige zu arbeiten und immer wieder in verschiedenen Konstellationen gemeinsam Projekte gemacht. Dabei ist langsam ein Netzwerk von Menschen entstanden, die eine ähnliche Haltung teilen. Irgendwann haben wir nach einer Form gesucht, in der wir das verstetigen und institutionalisieren können. Klassische Formen eines Architekturbüros, wie eine Partnerschaft passen nicht zu uns. Wir sind dabei, eine Struktur zu entwickeln, die uns den nötigen Raum und Flexibilität gibt und uns auch erlaubt, mit einer politischen Haltung Architektur zu machen, aber gleichzeitig das, was wir gemeinsam erarbeitet haben, verstetigt und absichert. Hierzu gründen wir gerade einen Verein. Die Arbeit, die wir machen, funktioniert nur in einer gewissen Mischökonomie, in der man nicht ausschließlich von Architekturprojekten abhängig ist.

Ihr habt kürzlich die Studie „Gemeinwohl entwickeln. Kooperativ und langfristig!“   fertig gestellt.  Unter welchen Umständen ist diese Studie entstanden?

In Friedrichshain-Kreuzberg fanden im Zuge fortschreitenden Interesses durch renditeorientierte Investor*innen im Bezirk Gesprächsrunden zwischen verschiedenen Nachbarschaftsinitiativen und dem Bezirksamt statt. Heißes Thema war dabei das bezirkliche Vorkaufsrecht in Kreuzberg. Das war beispielsweise in München schon in den 90er Jahren Thema und wurde dort ziemlich rigoros angewendet. Mittlerweile ist es das dort auch rum, weil die Immobilienpreise in München inzwischen überirdisch sind. Zwischen dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und München gab es diesbezüglich auch Gespräche, um Erfahrungen auszutauschen

Der Dialog entstand, weil der Bezirk gemerkt hat, dass es wirklich viele aktive Menschen in dem Stadtteil gibt, deren Ressourcen und Wissen für den Bezirk sehr wichtig sind – auch, um überhaupt aktiv werden zu können. Zielsetzung war also eine stärke Zusammenarbeit zwischen Initiativen, der Zivilgesellschaft und dem Bezirk.

Kannst du kurz erklären, um was es sich bei diesem Vorverkaufsrecht handelt?

Nach dem Baugesetzbuch können Kommunen sogenannte Erhaltungssatzungen erlassen. Berlin ist da so bisschen anders, weil es ja ein Stadtstaat ist. Was sonst also eine Kommune ist, ist in Berlin ein Bezirk. Bezirke haben allerdings weniger Kompetenz als normale Kommunen. Wenn die Marktdynamik in bestimmten Stadtteilen so groß ist, dass ein Austausch der Bevölkerung droht, droht damit ja auch Gefahr des Verlusts der gewachsenen Strukturen. Dann kann eine Kommune oder ein Bezirk nach Prüfung und Darlegung einer Begründung eine Erhaltungssatzung erlassen. Damit hat sie einige rechtliche Mittel an der Hand: Zum Beispiel wird erschwert, Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umzuwandeln, bei Baugenehmigungen kann der Bezirk viel strenger sein, Modernisierungsmaßnahmen können ganz verboten werden. Das schärfste Schwert ist dann das bezirkliche Vorkaufsrecht: Immer wenn ein Verkaufsfall bei einer Immobilie eintritt, kann der Bezirk oder die Kommune in diesen Verkaufsfall zugunsten Dritter (z.b. eine Genossenschaft oder kommunale Wohnungsbaugesellschaft) ein Vorkaufsrecht ausüben., muss aber dem Käufer die Möglichkeit geben, eine Abwendungsvereinbarung zu unterschreiben. Dabei verpflichtet sich der Käufer dazu, in einem gewissen Zeitraum keine Umwandlungen in Eigentumswohnungen vorzunehmen, keine Modernisierungsmaßnahmen durchzuführen und überhaupt keine Maßnahmen durchzuführen, die zu Mietveränderungen führen würden. Das ist unattraktiv für viele Käufer, somit treten diese im Kauf zurück und der Bezirk kann das Vorkaufsrecht wahrnehmen.  

Viele deutsche Großstädte haben mit einem hohen Verwertungsdruck, besonders in beliebten Vierteln, zu kämpfen. (c) Maria Krasnova

Die Zusammenarbeit sollte also praktische Vorstöße für mehr Gemeinwohl im Immobiliensektor initiieren?

Genau. Interessant daran ist, dass Politik und Verwaltung gemerkt haben, dass bürgerschaftliches Engagement und Wissen vor Ort wichtig sind, um in der Verwaltung effektives Handeln zu ermöglichen. Das ist in meinen Augen in dieser Form neuartig. In den 80er Jahren gab es in Kreuzberg auch schon viele innovative Ansätze, die sind teilweise leider wieder verschüttgegangen. Generell kann man sehen, dass es in Kreuzberg eine sehr engagierte Bürgerschaft gibt, die sich dafür interessiert, was in dem Stadtviertel passiert, die nicht gleichgültig ist und sich einsetzt. Gleichzeitig ist der Verwertungsdruck auf Friedrichshain-Kreuzberg unglaublich hoch. Das ist eine spannungsreiche Konstellation.

Die Gesprächsrunden haben weitere Entwicklungen in Gang gebracht.

Ja, sie waren eben der Ausgangspunkt für verschiedene Studien, die der Bezirk ausgeschrieben hat. Eine war für eine Koordinations- und Unterstützungsstelle für Bürgerbeteiligung, die andere war eine Studie zur gemeinwohlorientierten Immobilienentwicklung. Auf diese Studie haben wir uns dann beworben und sie durchgeführt. Beide Studien wurden schließlich zur Grundlage genommen, um eine neue Stelle im Bezirk einzurichten, das wurde Ende letzten Jahres tatsächlich gemacht. Der etwas trockene Name ist „Arbeits- und Koordinierungsstruktur Gemeinwohl“ (AKS). Daraus sind zwei Vollzeit-Stellen entstanden, die im letzten Jahr auf vier halbe Stellen aufgeteilt wurden, wovon sich zwei um Unterstützung im Immobilienbereich kümmern und die anderen beiden um Initiativenarbeit und Kommunikation mit der Verwaltung. Es wurde außerdem eine dritte Stelle geschaffen, die in der Verwaltung angesiedelt ist und als Kontaktstelle zu der AKS dient, gleichzeitig aber auch konzeptueller Teil der AKS ist.

Die von euch konzipierte Studie trägt ja das Gemeinwohl schon im Namen. Wie definiert sich dieser Begriff darin?

Die grundsätzliche Definition von Gemeinwohl ist sehr allgemein, funktioniert aber als Kompass sehr gut: Gemeinwohl schafft man durch guten Ausgleich zwischen individuellen Interessen und allgemeinen Interessen. Jeder hat Partikularinteressen und will ein gutes Leben führen, das soll aber nicht zu Lasten anderer passieren – deshalb der Interessensausgleich. Die Hypothese: Der Grund, dass heute so viel über das Gemeinwohl gesprochen wird, ist, dass dieser Ausgleich schief hängt. Das sieht man daran, dass die gesellschaftliche Ungleichheit immer weiter steigt, immer mehr Leute sind von Armut betroffen, während sich Reichtum in den Händen weniger konzentriert.

Mit dem Verwertungsdruck geht auch ein Verlust öffentlicher Räume einher. (c) Daniel Ionn

Für das Gemeinwohl in Bezug auf Stadt und Immobilien ist es enorm wichtig, dass die direkt betroffenen, also die Nutzer*innen, Einfluss auf die Entwicklung und Bewirtschaftung von Immobilien und ihres Stadtteils haben. Wir verstehen das Herstellen des Gemeinwohls als etwas prozessuales, iteratives. Wenn es gut läuft, verbessert ein solcher Prozess die Bedingungen für gemeinwohlorientierte Immobilienentwicklung und damit steigt das allgemeine Gemeinwohl in der Gesellschaft.

Dazu haben wir in unserer Studie drei Beteiligte identifiziert: Einerseits die Güter, die ja potentielle Gemeingüter sind – in diesem Fall Boden und Immobilien. Dann gibt es noch die Menschen, die daran beteiligt sind, diese Güter herzustellen, zu bewahren und zu schützen – die nennen wir das Gemeinwesen. Außerdem braucht es die passenden Instrumente, die angewendet werden, um Immobilien abzusichern, zu entwickeln und zu finanzieren: Zum Beispiel neue Steuerungsmethoden oder rechtliche Instrumente. Das nennen wir das „Gemeinschaffen“.
Davon ausgehend haben wir Kriterien bestimmt, die uns bewerten lassen, was eigentlich dem Gemeinwohl entspricht, diese nennen wir „Gemeinnutz“-Kriterien. Im Speziellen sind das dann Kriterien, die für Gemeinwohl im Immobiliensektor angelegt werden.

Was war Orientierungspunkt für die theoretischen Überlegungen eurer Studie?

Konzeptuell haben wir uns an zwei Sachen orientiert und versucht, diese miteinander zu verschränken: Historisch haben wir uns am Gemeinnützigkeitsrecht orientiert, das gibt es im Vereinsrecht noch immer. Es gab diese Gemeinnützigkeit auch bereits im Wohnungsbau, diese wurde aber Ende der 80er Jahre deutschlandweit abgeschafft. Das Instrument dafür war eine steuerrechtliche Vergünstigung für Immobilienunternehmen, die nicht profitorientiert gewirtschaftet haben. Das kann man als wohlfahrtsstaatliches Instrument verstehen.
In der aktuellen Debatte orientieren wir uns an den Commons, also verschiedenen Formen von Gemeinschaftsgütern.  Die Gemeingütertheorie versucht, eine Figur jenseits von Markt und Staat zu entwerfen, die fähig ist, Ressourcen zu erhalten, zu entwickeln und gerecht zu verteilen.  Gemeingüter werden durch eine Gruppe von Nutzenden, die sich um die Entwicklung und den Erhalt einer Ressource kümmert, verwaltet. Gemeinschaftseigentum unterliegt jedoch auch immer der Gefahr, zu einem Clubgut zu werden. Das ist dann der Fall, wenn die Nutzung auf einen exklusiven Kreis beschränkt bleibt oder private Gewinne abgeschöpft werden können. Es muss gewährleistet sein, dass es daran offene Teilhabe und Zugang gibt.

 Und hier kommt die Verschränkung von wohlfahrtsstaatlichen und zivilgesellschaftlichen Ausgleichsmechanismen ins Spiel. Historisch ist der Staat dafür zuständig, den sozialen Ausgleich zu organisieren. Da er dies aber in der Vergangenheit häufig paternalistisch und über die Köpfe der Betroffenen hinweg getan hat und dieser Rolle auch immer weniger gerecht wird, nehmen zivilgesellschaftliche Initiativen eine immer wichtigere Rolle ein. Sie haben oft direkte und unbürokratische Möglichkeiten, gegenseitige Unterstützung zu organisieren. Gleichzeitig fehlt Ihnen natürlich oft die Reichweite oder die Hebel für den Ausgleich oder sie können nur bestimmte Perspektive einnehmen. Hier wollen wir die Kommunen (und den Staat), die über Steuern und andere Mechanismen ganz andere Möglichkeiten haben, für den sozialen Ausgleich zu sorgen, nicht aus der Verantwortung entlassen.

Welche Kriterien für eine gemeinwohlorientierte Immobilienentwicklung konntet ihr also finden?

Die Nicht-Gewinnorientierung muss als oberstes Merkmal stehen. Außerdem muss die Bezahlbarkeit gewährleistet sein, um möglichst breite Zugänglichkeit zu Wohnen und Stadt zu ermöglichen. Ein weiter wichtiger Aspekt kommt aus dem Genossenschaftsgedanken: Nutzer*innen und Anwohner*innen müssen an der Stadt und der Entwicklung der Immobilien teilhaben können. Wir haben noch eine Reihe weiterer Kriterien für eine gemeinwohlorientiere Immobilienentwicklung herausgefiltert: Zum Beispiel, dass Immobilien, die gebaut werden, einen Beitrag für die Nachbarschaft leisten: Dass also beispielsweise in einem Neubau oder einer Neu-Nutzung eines Gebäudes Angebote an die Nachbarschaft mit integriert sind, eine Nahversorgung absichern oder soziale, kulturelle Angebote schaffen. Weitere Kriterien sind Zugänglichkeit der Immobilien, sowohl sozial als auch räumlich, Nachhaltigkeit, Resilienz, Erzeugung von Nutzungsmischung und Diversität. Diese Kriterien haben wir durch die theoretische Verschränkung unserer vorangegangenen Überlegungen identifiziert und sie dann im Weiteren durch Interviews mit verschiedenen Akteur*innen aus dem Immobilienbereich, der Verwaltung und der Politik untermauern können. Da konnte man sehen, dass sich Antworten häufig wiederholen und somit Muster herauskristallisieren.

„100 % soziale Mieten“, „100 % Teilhabe“ (c) Stadt von unten

Diese Studie ist ja Teil eines Gesamtprozesses im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, der bürgerschaftliches Engagement mit Verwaltung und Politik zusammenbringt. Wie wird eine langfristige Einbindung der Bürger*innen auch nach den anfänglichen Gesprächsrunden in Berlin-Friedsrichshain gewährleistet?

Im letzten Jahr startete die Pilotphase der beiden neuen Stellen. Teil der Einrichtungsphase waren bereits konkrete Fälle, in denen eben dieses Vorverkaufsrecht betreut wurde, dabei wurden Mietergemeinschaften unterstützt. Im anderen Bereich wurden Initiativen in Ihrer Arbeit unterstützt, beispielsweise in der Organisierung einer Stadtteilkonferenz. Inzwischen wurde als Ergebnis ein Trägerverein gegründet, der zivilgesellschaftlich getragen ist. Darin sind verschiedene Stadtteilinitiativen Mitglieder. Es gibt einen Begleitkreis der Verwaltung, in dem diese Initiativen auch vertreten sind und in dem alltägliche Fragestellungen, Probleme reingetragen werden. Zusätzlich gibt es ein zweites Gremium, eine Steuerungsrunde, in der neben den  Initiativen auch politische Vertreter der Bezirksverordnetenversammlung sitzen, womit auch eine parlamentarische Kontrolle gewährleistet wird. Die Idee dahinter ist, dass eine solche Struktur aus Initiativen nur gut arbeiten kann, wenn sie politisch unterstützt wird. Dafür gibt es diese kontinuierliche Kommunikation mit den Bezirkspolitikern. Diese tätigen ja tatsächlich die politischen Entscheidungen, die Verwaltung führt am Ende auch nur aus.

Es gibt diverse Studien zu sozialer Durchmischung in Stadtvierteln: Findet man ja super, funktioniert aber oft so gar nicht. Wie kann die Planung einer gewünschten Diversität aussehen und ab wann ist es überplant?

Das ist tatsächlich ein kritischer Punkt. Ich finde den Begriff soziale Durchmischung problematisch, weil dieser zu einer Festschreibung davon beiträgt, dass es überhaupt Arme und Reiche gibt. Damit wird versäumt, festzustellen, dass es ein ganz grundlegendes Problem gibt: Es wäre notwendig, einen Ausgleich herzustellen, damit es weniger Arme und weniger Reiche gibt. Das ist natürlich erstmal ein Fernziel und hat auch eine utopische Komponente, ist aber trotzdem diskursiv stark bedeutend. Natürlich meint man erstmal nur Gutes mit dem Ziel, dass Arme und Reiche möglichst zentral zusammenwohnen sollen. Allerdings ist es wissenschaftlich umstritten, ob Arme notwendigerweise davon profitieren, wenn sie in räumlicher Nähe zu Reichen leben. Soziale Durchmischung wird diskursiv allerdings oft dann verwendet, wenn es um vermeintliche Ghettobildung geht. Sehr selten wird darüber gesprochen, dass es eine problematische (fehlende) soziale Durchmischung in sehr wohlhabenden Stadtteilen gibt. Im Praktischen ist es natürlich wichtig, dass gerade in einem unter hohem Entwicklungsdruck stehenden Stadtteil wie Friedrichshain-Kreuzberg Leute mit geringem Einkommen wohnen bleiben können und nicht verdrängt werden. In unserer Arbeit ist das entscheidende Argument aber beispielsweise nicht, soziale Mischung zu erhalten, sondern ganz grundsätzlich, dass diese Menschen, die dort ja noch immer wohnen, nicht aus ihren Netzwerken und Lebensgrundlagen verdrängt werden.

In einer intersektionalen Betrachtungsweise gibt es unterschiedliche Diskriminierungsaspekte wie Herkunft, Alter, Bildungsniveau, Geschlecht, sexuelle Orientierung oder Einkommen. Je mehr von diesen Diskriminierungsaspekten zusammenkommen, desto schwieriger wird es für diese Menschen, ihren Lebensunterhalt und ihre Entfaltung zu gewährleisten.

In den deutschen Großstädten ist die Armutsquote höher als im Bundesdurchschnitt. (c) Pujohn Das

Wie sieht das dann bei einer Neuentwicklung oder -nutzung von Gebäuden aus?

Bei einer Neubauentwicklung steht man dann natürlich tatsächlich vor der Frage, wie man dort Zugänge ermöglichen kann. Ich glaube, die Macht von Architektur und Planung ist in Bezug auf solche Fragen überbewertet. Sehr oft gibt es eine Verwechslung von formalen Aspekten zu sozialen und kulturellen Strukturen: Der Denkfehler ist, dass man mit dem Schaffen einer vermeintlich diversen räumlichen Struktur auch eine diverse Nachbarschaft schafft. Das ist ein falscher Grundgedanke. Ich glaube natürlich, dass Architektur und Raum daran beteiligt sind, aber erst im Zusammenspiel mit anderen Faktoren wird das dann wirklich relevant. Deshalb glaube ich, dass man, wenn man tatsächlich einen diversen Stadtteil haben möchte, diverse räumliche Angebote schaffen muss, aber damit diese überhaupt angenommen werden, ausgefüllt werden und zum Tragen kommen, braucht es andere Methoden. Es braucht verschiedene, also diverse, Formen der Organisierung. Es braucht unterschiedliche  Angebote, damit sich die verschiedenen Menschen entfalten und selbstständig entwickeln können. Bevor überhaupt ein erstes Haus gebaut wird, braucht es Orte des Zusammenkommens, an denen Gemeinschaft möglich wird.

Können andere Wohn- und Planungsformen, zum Beispiel Genossenschaften, das Vorgehen erleichtern?

Bei genossenschaftlichen Entwicklungen ist das dadurch insofern einfacher, als dass es sich um bereits bestehende Mitglieder*innen handelt – so kann man mit konkreten Menschen arbeiten. Diese können dann direkt in den Planungsprozess miteinbezogen werden und dadurch kommt es zu Community Building. Genossenschaftliche Entwicklung sind jedoch meistens auch ziemlich exklusiv, da sich viele Leute Genossenschaftsanteile gar nicht leisten können. Dies gilt vor allem für viele jüngere Genossenschaften, die zwar gutes im Sinn haben, aber oft hohe Bodenpreise bezahlen müssen und sich über die Genossenschaftsanteilke kapitaliisieren müssen.
Ich glaube, es ist ein Fehler, dass man sich bei diesen Bemühungen für das Schaffen von Diversität irgendwelche abstrakten Typen ausdenkt, man sollte viel genauer hinschauen, wer schon da ist. Das trifft auch für Entwicklungen auf der grünen Wiese zu. Da muss man, schon bevor man anfängt zu planen, schauen, mit wem man das zusammen entwickelt, wer welche Bedarfe hat und welche Stakeholder daran beteiligt werden sollen.
In unseren Projekten habe ich erfahren, dass es enorm wichtig ist, irgendeine konkrete Verortung bei den Projekten zu finden. Ein Projekt, das wir seit zwei Jahren betreuen, ist die Entwicklung von einem Gewerbeareal am Rande von Kreuzberg, was Bundesgrundstück ist. Da gibt es eine sehr komplexe Gemengelage. Deshalb haben wir eine sogenannte Bauhütte eingerichtet: Das ist ein Ort, an dem eine Debatte über die Zukunft der Entwicklung des Geländes stattfindet, in dem sich alle einbringen können.

„Der Denkfehler ist, dass man mit dem Schaffen einer vermeintlich diversen räumlichen Struktur auch eine diverse Nachbarschaft schafft.“

Wie kommt man denn dann mit Leuten ins Gespräch, die nicht die Zeit, das Interesse oder die Hoffnung haben, dass sie mit ihren Vorstellungen etwas bewirken können? Wie kann man Diversität erhalten oder erzeugen in Stadtentwicklungsprozessen?

Da gibt es nicht das eine Rezept. Meistens haben Leute, die arm sind, durch viel Arbeit wenig Zeit und wenig Glauben an Selbstwirksamkeit. Das macht es natürlich sehr schwer. Es gibt wiederum Organisationen, die diese Menschen vertreten, und wieder andere Institutionen, die diese Leute sichtbar machen. Es reicht nicht, irgendwelche Poster für Beteiligungsprozesse auf Straßenpfosten zu kleben. Da wird Community Organising benötigt und das muss auch aktiv wachsen. Ich bin noch in einer anderen Initiative aktiv, die heißt „Stadt von Unten“.  Teilweise geht’s im Quartiersmanagement ja eher um die Befriedung von sozialen Konflikten. Wir fordern dagegen Mittel für ein empowerndes Organising als Bestandteil der Stadtentwicklung, durch das Leute, die nicht sichtbar sind, sichtbar werden können und ihre Selbstwirksamkeit erkennen. Es ist aber natürlich schwierig, Menschen „sichtbar zu machen“, weil das in einem Top-Down-Ansatz nicht funktioniert. Es braucht dafür Organisationen vor Ort, die das unterstützen, im besten Fall Selbstorganisationen, von denen es gar nicht so wenige gibt wenn man genauer hinschaut, und eine progressive Politik oder Verwaltung, die das unterstützt. Das ist aber nichts, was man einfach mal so implementieren kann, das muss sehr stark im Dialog entstehen. Dafür bräuchte es auch in der Verwaltung sehr sensible Leute, die die Strukturen vor Ort kennen und wissen, mit wem man zusammenarbeiten kann. Das ist eine Forderung, die wir stellen.

Community Organising und progressive politische Strukturen sind also notwendige Voraussetzungen, damit sich Menschen überhaupt aktiv in die Gestaltung neuer Räume einbringen können.

Gemeinwesenarbeit ist mindestens genauso wichtig wie architektonische Planung oder räumliche Gestaltung. So bringt man am Ende auch andere Leute in Beteiligungsprozesse. Ein gutes Beispiel ist die Gemeinwesenarbeit (GWA) St. Pauli in Hamburg. Die ist gut im Stadtteil verankert und unterstützt die Menschen gerade auch in Auseinandersetzungen um die Entwicklungen des Stadtteils und unterstützt Stadtteilversammlungen zu Entwicklungsfragen. Ein prominentes Beispiel waren die Auseinandersetzungen um die Essohäuser, die abgerissen wurden. In Zuge dessen haben viele Menschen ihre Bleibe verloren.. Solidarische Strukturen im Stadtteil haben da vieles auffangen können und eine soziale Neuentwicklung des Areals eingefordert, einen Prozess von ‚Unten, der dann durch die Planbude begleitet wurde. Es braucht Vertrauen und Zeit, bis sich Strukturen bilden und die Menschen sich auch trauen, herauskommen. In so einem Prozess bin ich seit Jahren aktiv, das ist der Rathausblock Dragoner-Areal in Kreuzberg. Dabei handelt es sich um ein Bundesgrundstück, das der Bund privatisieren wollte. Seit Jahren haben sich Initiativen dafür eingesetzt, dass es nicht privatisiert wird, und das hat tatsächlich geklappt – es ist also eine Erfolgsgeschichte. Jetzt gerade geht es darum, dieses Grundstück zu entwickeln, und da sind wir mittendrin in all diesen Fragen und Problematiken, die wir jetzt besprochen haben – auch wenn ein großes Augenmerk auf Beteiligung liegt und es verschiedene Kooperationsverfahren zwischen Initiativen und der Verwaltung und der Politik gibt. Ein großer Vorteil ist, dass viele der Initiativen fest im Stadtteil verankert sind, und damit bringen sie auch ganz andere Menschen als sonst oft in den Beteiligungsprozess. Man merkt, dass es für unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen ganz unterschiedliche Formate braucht. Man muss die Menschen dort abholen, wo sie sind, und mit Ihnen gemeinsam herausfinden, wo sie hin wollen.

„Wir müssen den Menschen mehr zutrauen“

Der Verein Mehr Demokratie e.V. plädiert für ein ausgebautes System der direkten Demokratie. Damit soll die partizipative politische Kultur gestärkt werden.

Kann die parlamentarische Demokratie noch die Komplexität und die Konflikte einer vielschichtigen, differenzierten Gesellschaft stemmen? Immer öfter werden zwischen den Tweets verschiedenster Konservativen Stimmen laut, die die Demokratie in einer Krise, mitunter sogar als dem Untergang geweiht sehen. Dabei empfinden sich viele Menschen nicht als repräsentiert oder als frei, obwohl sie in demokratischen Systemen leben.
Damit Demokratie weiter funktionieren kann, muss sie sich weiterentwickeln. Diesem Ziel hat sich der überparteiliche Verein Mehr Demokratie e.V. verschrieben, der sich kurz nach der deutschen Wiedervereinigung im Zuge der Diskussion um ein neues Grundgesetzes gegründet hat. Das Ziel ist die Verankerung von direktdemokratischen Elementen in Deutschland. Als Ausgangspunkt wurde Bayern gewählt, weil es dort schon seit Beginn der bayerischen Verfassung die Möglichkeit gibt, Volksentscheide auf Landesebene durchzuführen. Mehr dazu hat uns Simon Strohmenger vom Verein Mehr Demokratie e.V. erklärt.

Erzähl uns doch etwas über die Anfänge eurer Arbeit in Bayern.

Mehr Demokratie e.V. hat in seinen Anfängen in Bayern ein Volksbegehren gestartet für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene, was dann auch erfolgreich war – Bürger haben sich damit also mehr direktdemokratische Mitentscheidungsmöglichkeiten verschafft.
Bürgerbegehrensberatung ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeit von Mehr Demokratie e.V. Die Gesetzeslage ist dahingehend nicht immer so einfach, es gibt einige Fallstricke. Es ist total schade, wenn sich Menschen für etwas einsetzen und das erste Mal politisch aktiv sind und dann an Formalien scheitern. Zum Beispiel ist es so, dass man die Bürgerbegehrensfrage immer nur positiv stellen darf, das heißt, man muss fragen: Sind Sie dafür, dass Sie dagegen sind? Das haben die meisten Initiativen nicht von Anfang an im Blick und deshalb gehen wir da in Beratung, schauen dass die Unterschriftenlisten richtig sind und Ähnliches. Es bleibt aber bei einer rein formalen Beratung. Die lassen wir eigentlich jedem zukommen, außer es sind irgendwelche rechtspopulistischen Anliegen, dann sind wir raus. Grundsätzlich aber wollen wir den Menschen mehr Selbstwirksamkeit geben. Demokratie heißt eigentlich, dass wir selbst mitgestalten können, sowohl auf staatlicher Ebene, als auch auf Landesebene und auch auf kommunaler Ebene. Damit können wir auch unseren Alltag mitgestalten – die Frage ist, was ist nicht politisch?

Ihr wollt also durch eure Arbeit Elemente einer direkten Demokratie stärken. Ist dies dann auch eine Kritik an der parlamentarischen Demokratie? Meinst du, dass sie einer Krise steckt?

Prinzipiell ist es auch ohne Krise notwendig, den Menschen so viele Mitgestaltungsmöglichkeiten wie möglich zu geben. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass direkte Demokratie glücklicher macht, einfach, weil man selber aktiv werden und mitgestalten kann. Wir wollen aber keine reine direkte Demokratie, sondern die wirklich wichtigen, weitgehenden Entscheidungen für die Bevölkerung öffnen. Trotz allem sehe ich die Politik momentan in der Krise. Das sieht man ja beispielsweise an den Erfolgen der AfD. Von daher glaube ich schon, dass es bei uns eine Krise der Demokratie gibt, einfach weil man schon seit 70 Jahren an den immer gleichen Mustern festhält. Aber die Gesellschaft entwickelt sich weiter, zunehmend auch digital, und da an dem immer Gleichen festzuhalten, ist nicht mehr zeitgemäß. Eine Demokratie muss sich immer weiterentwickeln.

Welche Instrument gibt es, um Politikverdrossenheit entgegen zu wirken und zu fördern, dass also andere Menschen mitmachen?

Wir haben vor kurzem  in Anlehnung an die „Citizen Assemblies“ in Irland einen Bürgerrat gestartet. Dort gab es zwei Volksbegehren: Einmal ging es um die Lockerung des sehr strikten irischen Abtreibungsgesetzes und dann noch um die Einführung der Homoehe. Das sind im erzkatholischen Irland natürlich Themen, bei denen die Angst da war, dass dies zu einer Spaltung der Gesellschaft führen könne. Um dem entgegenzuwirken, wurden geloste Bürgerräte eingeführt. Der Hintergedanke war, dass Menschen aus allen Schichten, die das betrifft, sich an einen Tisch setzen und diese Themen diskutieren. Das hat natürlich auch eine gewisse Transparenz gebracht, die Ergebnisse wurden immer wieder veröffentlicht. Es wurden zudem eine Art Empfehlung ausgesprochen und Experten dazu eingeladen.

Es ist wirklich interessant, was dabei rauskommt: Da gab es zum Beispiel eine Abtreibungsgegnerin, eine Befürworterin des alten Abtreibungsgesetzes, die zugab, dass sie sich nie wirklich damit auseinander gesetzt hatte. Nach katholischen Maßstäben war für sie alles klar. Dann saß sie aber das erste Mal mit einer Frau am Tisch, die selber abgetrieben hatte und ist in persönlichen Austausch und in ein wirklich tiefergehendes Gespräch mit ihr gekommen. Dementsprechend hat sie sich dann anders entschieden.
Ich glaube also, dass es gerade bei Politikverdrossenheit wichtig ist, neue Formen dessen einzuführen, Formen, die genau diesem persönlichen Austausch Rechnung tragen.  Deshalb halte ich es auch für wichtig, Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie zu vermischen. Am Ende eines guten Bürgerbeteiligungsverfahrens ist es enorm wichtig, dass man auch wirklich eine wegweisende Abstimmung mit allen Beteiligten und Betroffenen zustande bringt. Anderenfalls verschwinden Bürgerbeteiligungsverfahren wieder in irgendeiner Schublade.

Das EU-Parlament in Straßburg. (c) Frederic Köberl

Was passiert eigentlich mit Verfahren, die zu einer Unterdrückung von Minderheiten führen, wie zum Beispiel das Minarett-Verbot in der Schweiz? Was kann man unternehmen, dass sowas nicht passiert?

Mit der direkten Demokratie ist es wie bei jedem anderen Herrschafts- oder Machtinstrument – es braucht ein funktionierendes Check and Balance System. Ich sehe bei uns in Deutschland gar nicht das Schweizer Modell – die haben beispielsweise kein Bundesverfassungsgericht. Wir haben mittlerweile fast in allen Bundesländern Elemente der direkten Demokratie. Das ist ein Design, das in drei Schritten funktioniert: Zuerst wird ein Zulassungsantrag gestellt. Dafür braucht es schon eine gewisse Anzahl von Unterschriften, in Bayern sind das beispielsweise 25.000, um ein öffentliches Interesse zu belegen. Sofern das klappt, geht ein Zulassungsantrag zum bayerischen Verfassungsgericht, das prüft, ob so ein Antrag mit der Verfassung und den Grundrechten vereinbar ist. Damit wäre beispielsweise ein Minarettverbot wegen der Religionsfreiheit schon mal raus.

Solche Kontrollinstanzen sind wichtig, und es ist auch wichtig, dass es eine gewisse Zeit dauert. Es gibt ja immer dieses Totschlaginstrument: „Was macht ihr, wenn hier eine Vergewaltigung stattfindet und am nächsten Tag wird die Todesstrafe gefordert, die geht doch sowieso durch“. Zum ersten ist es natürlich wichtig, dass man gewisse Zeiträume hat, in denen man diskutiert: Hier in Bayern ist das Quorum für den Zulassungsantrag relativ hoch, man braucht zehn Prozent der Wählerstimmen. Das führt dazu, dass es auch nochmal ein gewisser Zeitraum ist, bis man die Stimmen zusammen hat, und dass sowohl die Befürworter als auch die Gegner ihre Argumente auf den Tisch legen müssen, warum unterschrieben werden soll. Wenn der Zulassungsantrag also vom Bundesverfassungsgericht akzeptiert wurde, geht er an den Landtag, und der Landtag kann auch da nochmal einen Gegenvorschlag einbringen, über den noch zusätzlich abgestimmt werden kann, oder kann ihn annehmen. Dann erst kommt es zum Volksentscheid – das heißt, wir reden über einen Zeitraum von einem Jahr, den so ein ganzer Prozess einnimt. Da gehen viele Emotionen verloren, die am Anfang noch stärker vorhanden sind.

Welches Quorum würdet ihr vorschlagen – ein Quorum von zehn Prozent ist ja auch ein gewisser Schutzmechanismus?

Wir schlagen zwei bis drei Prozent in Bayern vor. Man braucht gewisse Gelder, um ein Anliegen populär zu machen, man braucht eine Marketingstrategie und viele weitere Ressourcen. Das funktioniert wirklich nur in einem großen Bündnis. Mit einem niedrigem Quorum wäre es also auch für kleinere Organisationen deutlich einfacher, etwas zu starten. Lange Zeiträume halte ich dagegen weiterhin für wichtig. Viele schnelle Entscheidungen, die im Parlament getroffen werden, sind auch nicht unbedingt gute Entscheidungen. Für weitreichende Entscheidungen braucht man weitreichende Diskussionen. In der Schweiz etwa gibt es ein Instrument, das wir in Deutschland auch fordern: das fakultative Referendum. Wenn ein Gesetz erlassen wurde, tritt es erst in 90 Tagen in Kraft. In diesen 90 Tagen hat die Bevölkerung Zeit, eine gewisse Anzahl an Stimmen zu sammeln um ein plebiszitäres Gesetz wieder abzuschaffen. Wenn es super dringend ist, kann ein solches Gesetz schon in Kraft treten, aber die Bevölkerung hat im Anschluss immer noch  Zeit, darauf zu reagieren und es eventuell doch wieder abzuwenden. Es ist also nicht wichtig, möglichst schnell zu entscheiden, sondern möglichst gut zu entscheiden. 

Findest du, dass solche Prozesse stärker öffentlich finanziert werden sollten?

Wir haben die Forderung, dass die Kosten von erfolgreichen Volksbegehren übernommen werden. Bisher ist das noch nicht der Fall. Allein bis zu einem Volksbegehren muss man mindestens 200.000 bis 250.000 Euro einplanen, wenn es bis zu einem Volksentscheid kommt, bis zu 500.000 Euro. Das sind einfach Summen, die für kleinere Organisationen schwierig zu tragen sind. Man braucht dafür eigentlich ein breites Bündnis.

Initiieren und organisieren Volksbegehren dann erfahrungsgemäß wirklich nur die Träger*innen, die monetär gut ausgestattet sind oder macht man sich auch etwa Crowdfunding zu Nutze?

Mit Crowdfunding hab ich persönlich noch keine Erfahrungen gemacht. In der Regel kommt der Anstoß von einer Partei oder einer Initiative und dann schließen sich meist weitere Organisationen an. Man darf auch nicht vergessen, wie wichtig dabei Parteien sind, die auch über Infrastrukturen im ländlichen Raum verfügen, die Plakatständer und ähnliche Mittel zur Verfügung haben. Wenn man das auch noch alles zahlen müsste, wäre es ja nochmal teurer.

Europaweit haben mehr als eine Million Menschen die Europäische Bürgerinitiative „Stop TTIP“ unterzeichnet.(c) Christof Stache

Wenn Bürger*innen selbst für Plebiszite aufkommen müssten, wäre Demokratie ja reine Privatsache?

Es gibt da unterschiedliche Fälle. Es kommt immer darauf an, wer die Volksbegehren startet. Wir versuchen das mit digitalen Mitteln zu stärken. Momentan unterstützen wir „Consul“, ein digitales Beteiligungsprogramm, das für Städte entwickelt wurde. Damit kann man über eine digitale Plattform Debatten in der Stadt anstoßen, Vorschläge einbringen und über diese abstimmen. So wird ermöglicht, dass der Einzelne auch abseits von Bündnissen und großen Organisationen Ideen einbringen kann. Das hat sich bewährt: 2015 wurde es in Madrid erstmals implementiert. In Madrid sind 0,5 Millionen Menschen angemeldet, über 130 Städte nutzen es weltweit schon, einzelne Länder wie Kolumbien oder Urugay nutzen es sogar auf Länderebene. Da tut sich schon was.

Gibt es dabei auch Ansätze, wie man weniger beteiligte Gesellschaftsgruppen stärker in Beteiligungsprozesse einbeziehen könnte?

Wir sind gerade dabei, die Stadt München auch von Consul zu überzeugen und das digitale Tool dort einzusetzen. Über solche Plattformen ist die Möglichkeit größer, auch diese Menschen zu erreichen. Ich kann mich aber nicht darauf verlassen, dass sie dann die Plattform sofort für sich entdecken. Ich muss dann tatsächlich zu den Flüchtlingsheimen oder anderen Stellen selbst hingehen. Die Kombination dieser beiden Teile ist wichtig, man muss das auch aktiv betreiben.

In einem Podcast sagte der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, dass die plebiszitäre Form der Demokratie eine Verfallsform der Demokratie darstellt. Die Gefahr ist, dass man verspricht, dem ungehörten Volk endlich Gehör zu verschaffen, aber in Wahrheit nur das eigene, autoritäre Handeln legitimiert.  Ist das eine Gefahr, die man auch nicht aus dem Weg räumen kann?

Ich würde diese Aussage unterstützen, aber nur in Bezug auf Plebiszite. Die sind Volksbefragungen von oben, direkte Demokratie kommt aber von unten. Plebiszite gibt es seit Jahrhunderten und sie werden immer wieder dafür genutzt, die Bevölkerung zu befragen und so einen Anschein von Demokratie zu entwickeln, der aber gar keine echte Demokratie abbildet. Das hat man zum Beispiel auch in der Türkei gesehen: Wenn es keine freie Presse gibt, wenn es ein autoritäres Regime gibt, das die Systemkritiker mundtot macht, gibt es natürlich auch keine funktionierende Demokratie. Eigentlich muss so was von unten kommen, das muss aus der Bevölkerung kommen. Denn als politischer  Repräsentant hat man sowieso die Möglichkeit, Politik zu machen, durch eigene Entscheidungen, durch eigene Mehrheiten und Koalitionen. Direkte Demokratie und Volksentscheide sind Instrumente, die der Bevölkerung zustehen sollten.

Man will ja auch bei Verfahren, die mit Bürgerbeteiligungen in Gang gebracht wurden, viele Stimmen gewinnen. Da sind einfache Slogans sehr verlockend. Wie kann man dafür sorgen, dass Wahlentscheidungen tatsächlich informierte Entscheidungen sind?

Es ist ein Unterschied, ob es einfache Slogans sind oder eine einfache Sprache ist, mit der Entscheidungen erklärt werden. Ich glaube schon, dass die künstliche Komplexität, die oft geschaffen wird, das Elitendenken fördert. Wenn Christian Lindner zu Fridays For Future-Aktivist*innen sagt,sie sollen doch lieber die Experten da ran lassen, diese seien ja eh noch viel zu jung und kennen sich damit nicht aus, verfestigt das ja Hierarchien. Diejenigen aber, die in den Parlamenten sitzen, sind oft gar nicht die Experten zu bestimmten Themen, die haben selbst Experten, die für ein Fachgebiet zuständig sind, und ansonsten werden sie natürlich auch beraten von Lobbyvereinen. In der Regel sind das dann leider nicht die diejenigen, die sich für das  Gemeinwohl einsetzen, sondern eher diejenigen, die sich für Profit einsetzen. Von daher ist es eine einseitige Beeinflussung und Expertise, die da stattfindet.

 Zum anderen ist es natürlich möglich, Probleme und Herausforderungen in einer einfachen Sprache darzulegen. Die Abstimmungshefte in der Schweiz etwa sind so aufgebaut, dass man immer tiefer in die Materie einsteigen kann. Da gibt’s Stellungsnahmen von Experten, von solchen, die dafür und die dagegen sind. Man traut den Menschen da zu wenig zu. Auch in repräsentativen Systemen hat man jemand in der eigenen Partei, dem man vertraut. Man braucht auch nicht bei jedem Volksentscheid eine Beteiligung von 70 bis 100 Prozent. Es gibt Themen, die mich vielleicht auch nicht betreffen, und es ist in Ordnung, dann auch nicht abzustimmen. Es müssen die Menschen abstimmen, für die diese Themen auch wichtig sind. Man muss sich auch nicht in jedem Thema 100 Prozent auskennen, ich hab Vertrauenspersonen und das ist in Ordnung. Vielleicht arbeitet einer meiner guten Freunde beim Bund Naturschutz, dann lass ich mich von dem auch mal beraten und mir was erklären.

Die Schweizer haben die Möglichkeit, abzustimmen, ja schon sehr lange. Daher  haben die mittlerweile alle Abstimmungen ausgewertet. Dabei hat man herausgefunden, dass man sich am ehesten durch den Freundeskreis beeinflussen lässt. Natürlich gibt es Langzeitbeeinflussungen durch Medien und Parteien, aber was überall stattfindet, sind Gespräche an Stammtischen, in U-Bahnen, in Parks und so weiter.  Man redet über Politik. Man kann selber abstimmen, man hat eine andere Wissensgrundlage und man traut sich auch, anders über Sachen zu sprechen. Natürlich kommt da eine andere Atmosphäre in das Land. Man spricht über politische Probleme und das ist ja etwas, das wir hier nicht haben, es wird viel zu wenig über elementare politische Probleme gesprochen und auch gestritten. Wie oft spricht man denn wirklich über solche Sachen im eigenen Bekanntenkreis? Wie oft sind das Diskurse, die eher oberflächlich bleiben? Direkte Demokratie kann ein Instrument sein, um mehr miteinander zu sprechen und um mehr zuzuhören.

Hängt der Erfolg von Entscheidungen also von guten Menschen ab oder braucht es ein gutes System?

Ich glaub es ist ein Zusammenspiel von beidem. Es ist doch erwiesen, dass direkte Demokratie die größte und beste politische Schule ist, die es gibt, weil man, wenn man selbst abstimmen kann, informiert an die Sache rangeht. Beispielsweise wurde die EU-Verfassung in Frankreich abgelehnt. Danach gab es Umfragen in verschiedenen EU-Ländern, unter anderem in Deutschland und Frankreich, wer eigentlich wusste, was in dem Vertrag drin steht. In Deutschland wusste das kaum jemand, in Frankreich war man da schon deutlich besser informiert. Direkte Demokratie ist also politische Bildung.

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Ist die direkte Demokratie damit auch eine notwendige Antwort beschleunigte gesellschaftliche Veränderung, etwa durch die Digitalisierung?

Ich würde sie als Weiterentwicklung bezeichnen und glaube, dass sie notwendig ist. Wir als Menschen wollen uns ja weiterentwickeln. Wir haben in unserem Alltag auch nicht mehr Hierarchien wie in den 50er oder 60er Jahren, warum sollte es die dann in der Politik noch geben? Warum sollten wir dann nicht mehr mitentscheiden können? Ich glaube auch, dass es gerade jetzt mit den digitalen Möglichkeiten eine Entwicklung ist, die kommen muss und wird. Vor kurzem war ich Sachsen unterwegs und hab verschiedenen Leuten unser Bürgerbeteiligungsprojekt CONSUL vorgestellt. Einer der Bürgermeister meinte: „Genau das brauchen wir, wir haben 30 Prozent AfD Wähler und es kursieren so viele Fake News!“ Wir bräuchten also  solche Plattformen mit einer wirklich guten Diskussions- und Debattenkultur. Dort muss man sich registrieren, um auch abstimmen zu können. Diskutieren muss man natürlich nicht mit Klarnamen, aber die Stadt könnte beispielsweise überprüfen, wer da diskutiert. Das wäre aber selbstverständlich bei Abstimmungen nicht überprüfbar. Die Stadt könnte über die Plattform Dokumente wie Kostengutachten oder Aktionspläne mit reinstellen. Mit Transparenz könnte man die ganzen Lügengeschichten, die da außenrum kursieren, wunderbar entkräften.

Kann man direkte Demokratie damit auch als Widerstand verstehen?

Ich würde sagen als Selbstermächtigung. Es geht darum, seine eigenen Interessen wieder mehr durchzusetzen. Es gibt ja schon das Gefühl, dass man von den politischen Eliten im Stich gelassen wurde und dieses Gefühl ist ja auch nicht zu Unrecht da. Es ist mehr als nur ein Gefühl, es ist eine sinnvolle Entwicklung, wenn es sich mehr zu direkter Teilnahme entwickeln würde. Wenn das natürlich nicht passiert, hat man Verhältnisse wie im 19. Jahrhundert. Dass man sich zurückzieht, denkt, die da oben machen eh was sie wollen und man hat eh keine Chance. Das ist fatal für eine Demokratie, das sieht man auch daran, dass Entscheidungen, die dann gefällt werden, nicht für uns Menschen gut sind, sondern nur für eine kleine Elite.


Beitragsbild: (c) Christoph Eipert

„Das Fatalste, was man machen kann, ist, einfach nichts zu tun“

Wer erfolgreich etwas gegen den Klimawandel unternehmen will, sollte vor allem eines tun: handeln – Im Interview mit Volker Quaschning. 

Junge, demonstrierende Schüler*innen, die unter dem Motto Fridays for Future auf die Straße gehen, gehören mittlerweile zum gewohnten Bild vieler Städte – weltweit. Vor allem eine Forderung wird dabei immer wieder laut: Tut endlich etwas gegen die Zerstörung unserer Erde! Es ist ein dringender Appell und der scheint keineswegs unbegründet zu sein. Denn Industrialisierung und Globalisierung, brachten nicht nur Wohlstand, sondern auch Feinstaub, Klimaerwärmung und Artensterben. Grund zu handeln also. Das weiß auch Volker Quaschning, Professor für das Fachgebiet Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Wir haben mit dem Unterstützer der Schüler*innen-Proteste und Mitinitiator von Scientists for Future über fehlenden Mut in der Politik, das richtige Setzen von Prioritäten sowie über die Bedeutung aktueller Klimaschutzbewegungen gesprochen.

relaio: Herr Quaschning, wenn man Sie auf der Straße fragen würde, was denn das Problem sei mit dem Klimawandel: Was würden Sie entgegnen?

Volker Quaschning: Das Problem ist so groß, dass man es kaum in wenige Sätze packen kann. Aber was würde man sagen? Das Problem ist, dass unsere Kinder in der zweiten Hälfte ihres Lebens vor unlösbaren Existenzschwierigkeiten stehen, wenn wir so weiter machen wie bisher und dass wir sehr schnell handeln müssen. Man kann dann natürlich nochmal anfangen, die wissenschaftlichen Ursachen für den Klimawandel zu erläutern, dass wir also enorme Mengen an Treibhausgasen ausstoßen, die nachweislich das Klima bereits verändern. Dadurch gibt es bereits einen Temperaturanstieg um ein Grad Celsius, was ungefähr ein Drittel des Temperaturanstiegs seit der letzten Eiszeit bedeutet. Der Unterschied: damals dauerte das Jahrtausende, nun geschieht das gleiche im Expresstempo in nur einhundert Jahren. Diesen dramatischen Temperaturveränderungen werden die Ökosysteme unseres Planeten nicht folgen können.

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe des „Münchner Klimaherbst“ haben Sie vor vollen Rängen des Audimax der technischen Universität München einen Vortrag über die gegenwärtige Klimapolitik gehalten. Das öffentliche Interesse zu Klimafragen ist also da.

Das ist ja das Schöne! Da sind wir schon mal viel weiter als vor einem Jahr. Da wären bei dem gleichen Vortrag vielleicht ein Zehntel der Leute gekommen.

Sie haben dort gesagt: „Wenn ein nachhaltige Klimapolitik zukünftig scheitert, dann kommen die Niederländer nach Bayern.“ Wie muss man das verstehen?

Durch den Klimawandel gibt es verschiedene Veränderungen. Die muss man versuchen bildlich darzustellen. Eine der Veränderungen wird es sein, dass der Meeresspiegel ansteigt. Langfristig sind bis zu 70 Meter möglich. Das wird natürlich nicht in den nächsten zehn Jahren passieren, sondern sich über Jahrhunderte hinstrecken. Aber es gibt Veröffentlichungen, die besagen, dass wir gegen Ende des jetzigen Jahrhunderts durchaus einen Anstieg von einem oder zwei Metern erreichen können. Einen Meter werden die Niederländer mit Deichen noch hinkriegen, aber bei bei drei bis vier Meter plus sind diese Gebiete einfach weg. Die Menschen, die dort wohnen, werden sich dann einen anderen Lebensraum suchen müssen. Niederländer in Bayern wären dann wohl noch das kleinere Problem. Durch den Anstieg des Meeresspiegel werden aber generell sehr viele Lebensräume zerstört werden und die Menschen, die dort wohnen, müssen sich eine neue Heimat suchen.

„Das Problem ist, dass unsere Kinder in der zweiten Hälfte ihres Lebens vor unlösbaren Existenzschwierigkeiten stehen“, sagt Volker Quaschning.  (c) Silke Reents

In Ihrem Vortrag haben Sie noch von dem Problem der Nahrungsmittelknappheit gesprochen.  

Genau! Nahrungsmittelknappheit ist auch für mich insofern spannend, da mir erst im letzen Sommer bewusst geworden ist, um welches Problem es sich hierbei handelt. In diesem Sommer hatten wir in Deutschland eine extreme Dürre inklusive 30 Prozent Ernterückgang. Vor einigen Jahrhunderten hätte das eine Hungersnot zur Folge gehabt. Man konnte damals nur regional Nahrungsmittelengpässe ausgleichen. Das heißt, unter diesen Umständen hätten wir ein massives Problem gehabt. Wenn das Szenario eintritt, dass global, gleichzeitig mehrere Regionen von so einer Dürre betroffen sind, dann kann es auch heutzutage eng werden. Dann geht ein Kampf um knappe Lebensmittelressourcen los. Das sind Szenarien, die man sich dann doch lieber nicht vorstellen möchte. Unwahrscheinlich ist es aber eben nicht, dass so etwas in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts passiert.

Aber sind die Folgen des Klimawandels nicht auch schon heute bemerkbar? Oder wollen wir sie vielleicht erst gar nicht bemerken?

Es gibt natürlich verschiedene Möglichkeiten, wie man auf diese Folgen reagiert. Man erstarrt beispielsweise vor Angst und verfällt in Steinzeitreflexe. Es ist, als käme der Säbelzahntiger und man fühlt sich zu schwach, um gegen ihn zu kämpfen. Dann lässt man entweder alles über sich ergehen oder man bildet sich einfach ein, es gäbe gar keinen Säbelzahntiger und hofft, dass alles irgendwie gut ausgeht. Die andere Möglichkeit ist aber, einen Versuch des Handelns zu unternehmen. Die meisten bleiben jedoch bei den Varianten eins oder zwei. Genauso trifft das auf den Klimawandel zu und das, indem man versucht, das Problem einfach klein zu reden. Wir befinden uns aber nicht mehr in der Steinzeit. Das heißt, wir sind mit der Wissenschaft in der Lage Probleme zu bewerten und zu analysieren. Die Wissenschaft kommt dabei zu einem ganz klaren Urteil: Der Säbelzahntiger ist tödlich.

Können wir diesen Säbelzahntiger überhaupt noch bezwingen?

Wenn wir noch ewig diskutieren, ob der Klimawandel wirklich ein Problem ist, dann ist es halt irgendwann zu spät. Das ist das Problem, das wir haben. Anderseits wissen wir, was wir machen müssen. Das heißt: unser Hauptproblem ist die Nutzung fossiler Energieträger – also Öl, Kohle und Gas. Wir wissen aber auch, dass wir das mit erneuerbaren Energien lösen können. Die Technologien dazu sind  bezahlbar, das heißt, wir könnten uns den Umstieg auch leisten. Das ist eigentlich das Fatale: es gibt eine rettende Strickleiter auf den Baum, aber wir bleiben einfach sitzen. Sie nicht zu erklimmen ist zwar bequemer, aber langfristig gesehen nicht besser. Es fehlt also am Handeln. Ich hoffe aber immer noch, dass der Mensch intellektuell in der Lage ist, dieses Problem zu erkennen und demnach zu handeln. Gerade in der Wissenschaft ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen und zu kämpfen.

Wie würden Sie als Wissenschaftler so eine Strickleiter beschreiben?

Wir sagen: bis 1,5 Grad Temperaturanstieg haben wir zwar auch schon Klimaveränderungen, jedoch lassen sich diese noch ausgleichen. Das heißt: der Klimawandel ist schon da, aber in einem Maße, in dem er beherrschbar ist. Über einem Anstieg von 1,5 Grad hinaus wird es aber schon bei jedem zehntel Grad Temperaturanstieg bedeutend schlimmer werden. Wann genau so ein Anstieg für die Menschheit unbeherrschbar wird, ist nur schwer zu sagen. Manche meinen, dass es schon ab diesen 1,5 Grad schwierig wird. Andere hingegen sagen, dass man ab einen Temperaturanstieg von zwei Grad große Teile des Planeten noch einigermaßen gut beherrschen könne. Bei zwei Grad verschwinden aber bereits einige Inselstaaten. Davon abgesehen, werden dann die Probleme größer. Das muss man ganz klar sagen. Meine Empfehlung ist es, Klimaneutralität bis 2040 zu erreichen und jedes Jahr, in dem wir warten, macht das Problem nur größer. Das Fatalste was man machen kann, ist, einfach nichts zu tun. Man sollte lieber nicht ganz die richtigen Maßnahmen treffen, als einfach nichts zu tun und auf zukünftige Innovationen zu hoffen.

„Wenn wir noch ewig diskutieren, ob der Klimawandel wirklich ein Problem ist, dann ist es halt irgendwann zu spät.“ (c) Silke Reents

Unter den erneuerbaren Energien sind vor allem Solar- und Windenergie am günstigsten. In Sachen des Erssetzens gibt es nur ein Motto: bauen. Dabei kann man eigentlich nichts falsch machen. Andere Baustellen, die es zu lösen gilt, sind dann noch etwa die Abholzung von Regenwäldern oder die nachhaltige Ernährung der Bevölkerung. Bei diesen Problemen tragen auch wir ein Mitschuld. Etwa indem wir die Futtermittel für unsere Schweine und Co. von dort beziehen. Das heißt, wir müssen unser Konsumverhalten ändern. Das wäre sogar relativ einfach. Etwa, indem man Fleisch nur noch am Sonntag und möglichst hochwertig isst.

Das Motto muss also lauten: Verantwortung und Verzicht?

Meine Familie und ich sind erst auf eine vegane Ernährung umgestiegen. Ich empfinde diesen Umstieg aber nicht als Verzicht. Sich vegan zu ernähren ist viel leichter, als ich gedacht habe. Es gibt einfach ein paar andere Rezepte und man probiert einfach Neues aus. Momentan ist es eher spannend. Man muss es aber eben machen. Das gilt auch beim Fliegen. Da habe ich einfach für mich entschieden, dass ich nicht mehr fliege. Es gibt trotzdem weiterhin super Urlaubsziele. Ich weiß gar nicht mal, ob man verzichten muss, sondern vielmehr nur seine Lebensgewohnheiten verändern sollte. Ich erwarte ja nicht, dass man wieder zurück in die Steinzeithöhle geht. Die Lebensgewohnheiten sollen sich ja nicht verschlechtern, aber man muss schon an gewissen Punkten, gewisse Prioritäten ändern.

Prioritäten ist ein gutes Stichwort: In der deutschen Klimapolitik scheinen diese ja nicht allzu gut verteilt zu sein. Zumindest war das Fazit Ihres Vortrags: „deutsche Klimapolitik nicht besser als bei Trump“: Sind wir zu langsam?

Genau, das sind wir eindeutig! Wenn wir weiter machen wie bisher, brauchen wir 200 Jahre für die Energiewende – uns bleiben aber nur noch 20. Im Prinzip ist das, was wir hier machen richtig, nur das Tempo stimmt eben nicht. Unser Handeln ist also in einer gewissen Art und Weise schizophren. Es ist fast so, als würde man sagen: Naja, dann machen wir jetzt bisschen weniger Klimaschutz, dann ist die Welt eben ein wenig später gerettet. Aber so funktioniert Klimaschutz nicht. Es ist wie bei einem brennenden Haus: Will man es löschen und schüttet zu wenig Wasser hinein, ist der Schaden zum Schluss viel größer, als würde man von Vornherein einen ordentlichen Löschversuch unternehmen.

In einem YouTube-Post finden Sie das im September vorgeschlagene Klimaschutzprogramm der Bundesregierung „zum Kotzen“. Prägnante Eckpunkte darin sind etwa eine CO2-Bepreisung bei gleichzeitiger „Entlastung von Bürgern und Wirtschaft“: Was ist daran so problematisch?

Naja, eine CO2-Bepreisung ist schon sinnvoll. Das allein reicht aber nicht aus, um das Klima zu retten. Zudem wäre ein Begriff wie die Schweizer Lenkungsabgabe der bessere Ausdruck. Denn so eine Bepreisung soll die Leute so lenken, dass sie von einer CO2-intensiven zu einer CO2-ärmeren Lebensweise gehen. Dazu muss es erst einmal Alternativen geben, zu denen man hinlenken kann. Die Hauptalternative, die wir brauchen, ist die Windenergie, im Klimapaket steht jedoch, dass der Abstand von Windrädern zu Gebäuden erhöht werden soll –  was de facto dazu führen wird, dass weniger Windräder gebaut und in Betrieb genommen werden. Das heißt: Die Alternativen, die wir brauchen, finden in diesem Klimapaket gar nicht statt. Die vorgeschlagene CO2-Bepreisung ist zudem viel zu günstig. Experten sagen: erst ab 50 bis 60 Euro pro Tonne CO2 ist diese in Ansätzen sinnvoll.

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Schweden ist bereits bei über 100 Euro pro Tonne angekommen und selbst die sind noch nicht auf dem Weg, den wir bräuchten, um Klimaschutz erfolgreich umsetzen zu können. Wir fangen mit zehn Euro pro Tonne an und wollen damit unsere Verfehlungen der letzten Jahre im Expresstempo aufholen – da kann man nur müde lächeln. Da geht es einfach nur darum, zu zeigen, dass man etwas unternimmt. Auf der anderen Seite gibt es die Populisten, die das Thema ausschlachten. Die AfD etwa bietet eine sehr einfache Wahrheit an. Demzufolge gibt es gar keinen Klimawandel. Man bräuchte gar nichts tun, alles andere wäre Irrsinn und Abzocke. Diese „Wahrheit“ verfängt sich bei einigen und die regierenden Parteien haben anscheinend viel mehr Angst vor diesen Menschen als vor dem Klimawandel selbst. Das finde ich fatal: Ein Schiff geht unter und man hat mehr Angst vor dem pöbelnden Koch als vor dem Untergang des Schiffes. Daran sieht man, dass die Prioritäten völlig falsch gesetzt sind und dass die verantwortlichen Politiker das Problem offensichtlich gar nicht verstanden haben.

Aber wie entgegnet man solchen einfachen Wahrheiten?

Wichtig ist erst einmal, dass dieses Hin und Her aufhört. Man hat ja gar kein schlüssiges Konzept. Ein Beispiel ist etwa Bayern. Ich war in München bei der bayerischen Landesregierung und habe mir das bayerische Energiekonzept angeschaut. Das ist nicht viel besser als das der AfD. Im Gegensatz dazu leugnet die CSU vielleicht nicht den Klimawandel als Problem, aber gleichzeitig soll es damit gelöst werden, dass keine weiteren Windräder gebaut werden. Zudem wird versprochen, dass aus der Atomenergie ausgestiegen wird, gleichzeitig sollen aber keine Stromtrassen durch das Land gehen. Das ist reiner Populismus. Das merken die Leute auch. Deswegen wäre es einfach gut, wenn man einen überparteilichen, nationalen Konsens schafft, und sagt: diese bestimmte Anzahl an Windrädern muss gebaut werden und zwar aus klimagerechter Hinsicht, überall und nicht nur vereinzelt. Dann kann man durchaus diskutieren, wo Windräder in einer Kommune stehen, aber nicht, ob sie überhaupt stehen sollen. Das muss man entsprechend kommunizieren. Ein anderes Beispiel ist etwa Thüringen. Da hat nicht nur die AfD, sondern auch die CDU gegen Windenergie plakatiert. Noch absurder ist, dass dabei oftmals zu hören ist, dass Windrädern etwa den schönen Thüringer Wald zerstören. Kommen aber diese Windräder nicht, ist in ein paar Jahrzehnten der komplette Thüringer Wald sowieso im Eimer. Dann gibts da gar keinen Wald mehr.

Man könnte das dann ja schon fast als Selbstzerstörung begreifen?

Das ist ein bisschen fatalistisch. Ich denke einfach, dass vielen Leuten vor Ort die Folgen des Klimawandels nicht bewusst sind. Was auch dadurch zustande kommt, das auch online viele Pseudowahrheiten verbreitet werden. Da muss man einfach mehr aufklären. Es ist unsere Aufgabe, das in der Wissenschaft zu tun.

Das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung beinhaltet einen Masterplan Ladesäuleninfrastruktur, der die Schaffung von insgesamt einer Millionen Ladepunkten bis 2030 vorsieht. Für dessen Umsetzung soll auch mit den „Automobilherstellern und der Energiewirtschaft“ gesprochen werden. Ist das eine gute Idee?

Das ist immer die Frage: Will man das oder will man das nicht? Im Falle der Ladesäulen steigen jetzt Unternehmen ein und versuchen damit, maximalen Profit zu erzielen. Vielleicht muss man sich aber auch wieder von dieser Wirtschaftsdominanz lösen. Vielleicht auch deshalb, da sonst etwa Ladesäulen, ähnlich wie beim Handynetz geschehen, wieder nur an stark frequentierten Stellen zu finden sind und die Leute auf dem Land das Nachsehen haben. Zudem wird mit viel zu hohen Preisen abgezockt. Sowas müsste die Politik komplett unterbinden. Infrastruktur ist Staatsaufgabe, dann muss man auch mal bereit sein, Steuern für eine bessere Infrastruktur zu erhöhen. Auch als Gesellschaft muss man dann vielleicht mal über die eigenen Prioritäten reden. Ob man eben nochmal ein paar Euro mehr für den Urlaubsflug bekommt oder ob man sagt: bessere Schulen und die Energiewende sind dann auch Sachen von denen ich irgendwie profitiere.

„Die Hauptalternative, die wir brauchen, ist die Windenergie.“ (c) Mika Baumeister

Der Staat übernimmt also nicht genug Verantwortung, wie er eigentlich übernehmen sollte und die Industrie investiert zu wenig?

Die Industrie versucht das zu machen, was maximal ökonomisch ist. Das sind einfach die Grundbedingungen. Man rechnet durch und was am meisten Rendite bringt, das wird getan. Der Staat trägt hier eine sehr große Verantwortung, indem er regulierend eingreift. Und zwar indem man eben Umweltbelastungen mit Abgaben belegt. Das traut man sich momentan aber einfach nicht – in allen Bereichen.

Und verbaut sich so die eigene Zukunft?

Genau! Man erkennt zwar das Problem, aber handelt nicht. Das sehe ich auch bei meiner Arbeit. Im öffentlichen Bereich irgendetwas durchzusetzen, ist so unendlich langwierig, dass man meist nach einem Jahr aufgibt. Das liegt vielleicht auch an unserer alternden Gesellschaft. Das heißt, je älter eine Gesellschaft ist, desto mehr Beharrungskräfte hat man und die junge Aufbruchstimmung geht komplett verloren. Man kann auch sagen, die Jungen wollten das Handynetz und die alten müssen den Mast ertragen. Man hat einfach einen Generationenkonflikt. Digitalisierung und mehr Klimaschutz sind Themen, die vor allem die junge Generation betrifft, während die Älteren eher konservative Werte bewahren wollen. Das ging früher vielleicht gut, weil die Welt sich nur langsam veränderte. Aber momentan finden alle geostrategischen und politischen Veränderungen in einem Expresstempo statt und wenn man sich dabei nicht anpasst, ist man weg vom Fenster. Das droht Deutschland demzufolge langfristig auch.

Sie sind einer der Initiatoren und Initiatorinnen von „Scientists for Future“ und unterstützen auch die Fridays for Future-Demonstrationen. Was konnte bisher damit erreicht werden?

Wenn sich alle so mit dem Klimawandel auseinandersetzen würden, wie diejenigen, die derzeit auf die Straße gehen, dann müssten alle panikartig versuchen, eine Veränderung voranzutreiben. Viele Leute blenden das Thema aber einfach aus oder informieren sich bei Klimaleugnern mit ihren alternativen Fakten. Deswegen ist unserer Arbeit so wichtig. Denn ich kann ja erst handeln, sofern ich das Problem verstanden habe. Und so mühselig es auch ist, wir haben eine Demokratie und deswegen müssen wir es eben ausdiskutieren und Bereitschaft sowie Mehrheiten erzeugen. Wir stehen damit leider noch am Anfang und müssen erstmal ein Bewusstsein über die Themen des Klimawandels schaffen. Ohne Fridays for Future hätten wir gar keine Chance dazu, auch weil man die Umweltfrage immer in Lagerdenken verhandelt hat. Das heißt, wer für Umwelt war, war eher so links und grün und dann gab es noch die Konservativen, die sich davon klar abgrenzen wollten. Das schöne bei Fridays for Future aber ist, dass dort einfach unverbrauchte Jugendliche mitmachen, die noch gar nicht in solche Lager einzusortieren sind. Klar, die Bewegung ist schon irgendwie links zu verorten, aber dieses Gesamtgesellschaftliche, dieses politisch Unsortierte hat den Schub gebracht.

„Und so mühselig es auch ist, wir haben eine Demokratie und deswegen müssen wir es eben ausdiskutieren und Bereitschaft sowie Mehrheiten erzeugen.“ (c) Fridays for Future Deutschland

Gleichzeitig versucht man aber, immer wieder Schüler als dumm und irregeleitet darzustellen. Deswegen ist unsere Arbeit sehr wichtig, indem wir zeigen, dass ihre Anliegen berechtigt sind und dass es einfach ganz klare wissenschaftliche Belege dafür gibt, auf denen sich die Forderungen von Fridays for Future stützen. Wir haben also angefangen, über Probleme zu diskutieren und das ist ein riesen Erfolg der jungen Generation. Auch beim heute-Journal ist jetzt mal der Klimawandel häufiger Thema. Man kann sich also selbst auf dem Sofa dem Klimawandel nicht mehr entziehen. Aber nun den zweiten Schritt zu unternehmen und die Bereitschaft für Handeln und Veränderung zu erzeugen, ist wahrscheinlich noch ein bisschen mühseliger. Diesen Schritt müssen wir mit dem gleichen Elan und mit dem gleichen Mut weitergehen. Das wird natürlich noch ein steiniger Weg. Leider. Vor allem ist es aber ein Kampf gegen die Zeit.


(c) Titelfoto: Janine Escher 

Über den Tellerrand Café – Wo Brez‘n und Humus sich treffen

Seit Juli 2018 gibt es das  Über den Tellerrand Café in einer Münchner Volkshochschule. Das Konzept der Sozialgastronomie kommt an.

Trotz Wolken am Himmel und einem gehörigen Wind draußen, ist das Café mit seiner großen Glasfront zum Innenhof hell und freundlich. Die Tische sind voll besetzt, trotz Ferienzeit. Teilnehmer*innen der VHS-Kurse, Nachbar*innen und Geschäftsleute – eine bunte Mischung, die hier zusammen trifft. Mittendrin schwirrt Yahyah vor und zurück, immer mit einem Lächeln und einem Scherz auf den Lippen. Der Syrer arbeitet als Service-Experte im Café Über-den-Tellerrand-kochen in München und manchmal auch bei Kochevents als Koch. Er ist einer von 14 Mitarbeitenden – mit und ohne Fluchthintergrund.

Mitgründerin und Geschäftsführerin Jasmin

Angefangen hat alles 2015. Jasmin Seipp wollte etwas tun – aber nicht Kleider austeilen oder Geld spenden. Die gelernte Betriebswirtin hat zu diesem Zeitpunkt noch als Finanzmanagerin gearbeitet. Durch einen Zufall erfährt sie von dem Verein Über den Tellerrand kochen in Berlin. Sie schreibt die Initiatoren an und erfährt, dass es bereits Interessenten gibt, die sich zum gemeinsamen Kochen zusammenschließen wollen.

Gemeinsam Kochen

Entspanntes Kochen – waschen, kleinschneiden, anbraten – und durch die gemeinsame Tätigkeit und anschließende zusammensitzen und essen ins Gespräch kommen. Ein niederschwelliges und einfaches Angebot, das aber gerade deswegen Wirkung zeigt. Schnell wurden aus den monatlichen wöchentliche Kochtreffs. Maximal 25 Leute konnten daran teilnehmen und manchmal mussten auch Personen abgewiesen werden. Die Kochtreffs fanden an unterschiedlichen Orten statt, unter anderem an den münchner Volkshochschulen. „Wichtig waren uns schöne Räume, in denen man sich wohlfühlt. Im Gegensatz zu den Flüchtlingsunterkünften“, sagt Jasmin. Es entwickelten sich Freundschaften, man traf sich auch außerhalb der Kochtreffs und manch einer verliebte sich sogar. Erst am Wochenende vor dem Interview war Jasmin auf der Hochzeit eines Paares, das sich im Bellevue di Monaco und dem Kochtreff kennen gelernt hatte. „Nur durch unsere Events haben wir mittlerweile gut 3.000 Menschen erreicht – und dabei sind die nicht mitgezählt, denen man es am nächsten Tag im Büro erzählt und noch von den Resten probieren lässt“, sagt Jasmin.

  • Die drei Preise für Gerichte der Mittagskarte sorgen dafür, dass hier jede*r Essengehen kann.
  • Neben warmen Gerichten gibt es natürlich auch die klassisch belegten Semmeln und süße Croissants - aber auch arabische Backwaren, die man unbedingt probiert haben sollte.
  • Bayrisch trifft Arabisch - der gemischte Vorspeisenteller für alle, die sich nicht entscheiden können.
  • Die Mitarbeiter von Über den Tellerrand Kochen sind immer für einen Spaß zu haben. Hier Service-Experte Mohammed mit Betriebsleiter Felix.

 

Selbst ein Café haben? Das war immer schon ein kleiner Traum von Jasmin – doch dass er sich erfüllt, hat sie eigentlich nie erwartet. Als der Pächter der Volkshochschule im Einstein aufhörte, bot sich die Gelegenheit Über den Tellerrand auf eine andere Stufe zu heben. Gemeinsam mit der Videoredakteurin Julia Harig beschloss Jasmin: Wir machen das! Im Juli 2018 war es dann soweit: Das erste Über den Tellerrand Café eröffnete. Auf die Karte kam eine Mischung aus bayerischen und arabischen Gerichten, aber es gibt auch einen afrikanischen Erdnusshähnchen-Eintopf und viel Fusion-Küche. Der Verein und die Mitarbeitenden entschieden gemeinsam, was angeboten wird. Es sollte immer etwas dabei sein, das jeder kennt und etwas, das neu ist. Auch um im Geschmack mehr Verständigung zu erzielen. Ganz natürlich ist es außerdem für sie, dass sie möglichst lokal und regional einkaufen und faire Produkte, wie die Schokolade von fairafric, anbieten.

Li: Die gesammelten Rezepte „Eine Prise Heimat“ im Aufsteller von werkraum. Re: Service-Experte Mohammed

Drei verschiedene Preiskategorien

Eine weitere Besonderheit des Cafés ist die soziale Preisspanne beim Mittagstisch. „Täglich müssen wir einen Spagat schaffen zwischen den Leuten, die sich Essengehen nicht leisten können und der Verantwortung für unsere Mitarbeitenden und ihre Arbeitsplätze“, erklärt Jasmin. Gemeinsam mit der studentischen Unternehmensberatung 180 Degree Consulting haben sie sich mehrere Optionen angeschaut, wie diese Preisspanne umgesetzt werden kann. Am Ende entschieden sie sich für ein System mit drei Preisen: der niedrigste Preis ist für den kleinen Geldbeutel, der mittlere deckt die Kosten und mit dem höchsten Preis unterstützt man das Café zusätzlich. „Auf diese Weise muss man sich auch nicht mit Studierenden- und Seniorenrabat für einen niedrigeren Preis rechtfertigen – jeder zahlt eben das, was er kann“, sagt Jasmin. Das Konzept soll auch auf die normale Karte ausgeweitet werden. Das Sozialunternehmen bietet diese Möglichkeit, obwohl das Café finanziell noch nicht ganz stabil ist – nicht ungewöhnlich für ein frisch gegründetes Unternehmen im ersten Jahr. Das Café selbst ist eine eigene GmbH, die zu 100 Prozent dem Verein Über den Tellerrand München gehört. Auf diese Weise verringert sich das Haftungsrisiko für Jasmin und Julia erheblich. „Wir haben noch Kapazitäten, gerade nachmittags und abends, die wir weiter ausbauen wollen. Außerdem gehen wir nun auch langsam das Thema Catering an, da wir hier viele Anfragen bekommen“, erzählt Jasmin. Neben den immer noch stattfindenden Kochtreffs gibt es auch Spieleabend und Sprachcafés – professionell gekocht werden kann auch bei Kochkursen oder einem gemeinsamen Teamevent mit der Arbeit.

Küchen-Magier Mohammad schaut darauf, dass alles gut geordnet und an seinem Platz ist.

Integration fängt für Jasmin im Kleinen an. Es sind Begegnungen im Alltag, manchmal noch so klein, die zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen können. Sei es, wenn eine ältere Dame im Café Mitarbeiter Cham neugierig fragt, wie er sich die Rastazöpfe macht oder die Möglichkeit der Teilhabe und der Mitgestaltung für die Mitarbeiter*innen des Cafés. „Unsere große Vision ist, dass das hier zum Leuchtturmprojekt wird. Ein Beispiel dafür, wie man einen Gastronomiebetrieb auch sozial gestalten kann, indem man Menschen eine Chance gibt, auch wenn sie kein Deutsch können. Das kann man lernen – auch wie man zwei Teller auf einer Hand trägt – aber Motivation und Gastfreundschaft nicht“, sagt Jasmin. Auch die Jury des Gastrogründerpreises 2019 gab Jasmin und Julia Recht. Unter 270 Bewerbern ging das Über den Tellerrand Café als Gewinner von 10.000 Euro und einem Coaching-Programm hervor. Eine Belohnung für die harte Arbeit von Jasmin und ihrem Team, aber vor allem auch eine Möglichkeit ihre Idee weiterzuentwickeln und noch mehr Menschen zu erreichen.


(c) Alles Bilder Sebastian Preiß

Khala Kolumna – Folge 7

Die stille Zeit

Im Juli 2017 hat das Start-Up Khala die Crowdfunding-Kampagne für ihre Slow-Fashion-Mode erfolgreich abgeschlossen. Daraufhin hätte eigentlich die Produktion in Malawi anlaufen sollen. Doch so einfach war es nicht. Es gab Probleme mit dem Stofflieferanten und die Zusammenarbeit mit der Designerin in Malawi musste beendet werden. Dadurch ging auch das Atelier für die Produktion verloren. Doch davon ließen sich Mel, Bene und Hubi nicht unterkriegen. Was sie alles erleben – vor allem in Malawi vor Ort – erzählt Bene von Khala regelmäßig.

Und irgendwann war es dann doch Winter. Ein eisiger Wind blies mir Schnee ins Gesicht, während ich, mit unzähligen schuhkartongroßen, braunen Schachteln beladen, den Weg zur Post bewältigte. In den Schachteln befanden sich Wendejacken, die in verhältnismäßig großer Zahl über den Khala Onlineshop vorbestellt worden waren.

Aber beginnen wir zwei Monate vorher, im Herbst. Ich saß auf einer Bank unter einem blauen Oktoberhimmel und telefonierte mit Mel, die seit einigen Wochen wieder in Malawi war. Sie war ein weiteres Mal nach Lilongwe geflogen und wollte das bevorstehende halbe Jahr, das sie dort verbringen würde, nutzen, um in unserer Schneiderei einiges geradezubiegen und weiterzuentwickeln. Es gab viel zu tun. Materialien und Gelder waren verschwunden, eine kleine Kriminalgeschichte hatte sich zugetragen. Aber dazu später. So hingen wir also am Telefon, saßen auf verschiedenen Kontinenten, teilten uns denselben blauen Himmel und planten für Weihnachten. Die Zeit, in der die halbe Welt verrückt spielt, stand vor der Tür. Und wir wollten dieses Jahr mitspielen. Ein Jahr zuvor hatten wir die Schneiderei gerade erst eingerichtet. Wir waren damals damit beschäftigt gewesen, unsere Crowdfunding-Unterstützer*innen mit ihren verdienten Rewards zu versorgen und hatten daher noch keine Ware verkaufen können. Doch mittlerweile war Khala weiter. Und nochmal wollten wir uns das Weihnachtsgeschäft nicht entgehen lassen. Einzig: Wir hatten uns bisher noch nicht um Absatzmöglichkeiten kümmern können. Im Sommer waren wir auf ein paar Festivals gewesen, sonst verkauften wir unsere Ware ausschließlich online. Für Weihnachten würden wir an ein paar Christkindlmärkten teilnehmen. Die Vorstellung, in einer Bude zu sitzen und zwischen Christbaumkugeln und Kripperlfiguren Jacken zu verkaufen, gefiel mir nicht.

Malawi im Dezember

Nach unserem Telefonat begannen wir, Khala für die Weihnachtszeit vorzubereiten. Ich sah mich ein wenig um und hatte Glück. Der funkigste Weihnachtsmarkt Münchens hatte noch einen freien Platz für unseren Stand. Der würde auf einem Bazar in einem großen, gemütlichen Zirkuszelt Obdach finden. Noch dazu dauerte dieser Weihnachtsmarkt vier Wochen. Ich würde also nicht verschiedene kleine Märkte abfahren müssen, sondern den Stand nur einmal aufbauen und dann 30 Tage lang betreiben. Apropos Stand. Es gab noch keinen.

Unseren Verkaufsstand, den wir für den Sommer gebaut hatten, hatten wir so entworfen, dass er auf lediglich zwei Quadratmetern Platz fand. Das sparte Standmiete. Auf der Suche nach günstigem Baumaterial hatten wir damals in einer Scheune von Hubis Vater einige alte Latten und ein hölzernes Bettgestell gefunden. Daraus hatten wir ein niedliches Khala-Ständchen getischlert. Dieses hatte uns treue Dienste erwiesen. Aber nun waren wir ihm entwachsen. Ich brauchte  schnell einen neuen, größeren, soliden, schönen, praktischen Stand – der natürlich wieder mal nicht viel kosten durfte. Im Mai waren wir bei einem Bayern 2-Wettbewerb nominiert gewesen. Am Gala-Abend hatten wir die Jungs von der Lernwerkstatt kennengelernt. Ein soziales Projekt, um Geflüchteten Handwerkskurse zu ermöglichen. Kurzerhand rief ich dort an. Roberto, der Leiter der Handwerkskurse, war sofort begeistert und verstand es aufs Vorzüglichste, den Stand in meinem Kopf innerhalb einer Woche in der Realität nachzubauen. Next problem solved.

Wir hatten nun also den Platz auf dem Weihnachtsmarkt und der Stand war fertig. Nun musste er nur noch gefüllt werden. Noch hatten wir kaum aber kaum Ware. Während ich in Deutschland die Vorbereitungen für den Weihnachtsmarkt traf, kämpfte Mel mit der Produktion.

Es hatten sich einige Komplikationen ergeben, seitdem sie in Malawi gelandet war. Den größten Verdruss bereitete ihr unser malawischer Projektmanager. Der hatte wohl schon seit längerer Zeit seine Arbeit bei Khala anders genutzt, als es in seinem Vertrag stand. Mel kam dahinter, dass er unsere Steuergelder veruntreut und große Mengen Stoff gestohlen hatte. Außerdem vermuteten wir, dass er ein eigenes kleines Business mit unserer Ware am Laufen hatte. Ihn zu feuern und den Fall den Behörden zu übergeben, fiel Mel alles andere als leicht. Zumal er bei Khala von Anfang an dabei gewesen war und durch die Strapazen, die wir – und vor allem Mel – mit ihm durchlebt hatten, auch ein persönliches, freundschaftliches Verhältnis entstanden war. Mel musste den Laden nun also alleine managen. Da der nun seines Postens enthobene Manager unter anderem die Aufgabe der Qualitätssicherung scheinbar länger nicht mehr pflichtbewusst verfolgt hatte, hatten sich unzählige Jacken angehäuft, die ausgebessert und umgenäht werden mussten. Zudem hatten wir schon seit Langem geplant, unser Sortiment um Wendejacken zu erweitern. Jacken also, die auf einer Seite den farbenfrohen Chitenje-Stoff zeigen, die man aber auch auf links drehen kann, sodass ein einfarbiger Hanfstoff nach außen schaut und man etwas dezenter daherkommt. Mittlerweile hatten wir genug Kapital, um die Materialien dafür einzukaufen. Aus Südafrika wurden Wende-Reißverschlüsse und Hanfstoffe in unsere Werkstatt geliefert. Am Markt in Lilongwe besorgte Mel neue Chitenje-Stoffe, die uns über den Verlust der alten Stoffe hinweghalfen und darüber hinaus noch eine höhere Qualität aufwiesen. Die Zeit rannte, der Weihnachtsmarkt rückte näher. Und eigentlich hätte die Produktion nun wieder rundlaufen können. Doch plötzlich verschwand unser Chef-Schneider. Er kam einfach nicht mehr zur Arbeit. Niemand wusste, wo er war; übers Handy war er nicht zu erreichen. Sein Verschwinden bedeutete auch, dass die Hälfte der Produktion lahmlag. Der Mann leistete gute Arbeit und wir wollten ihn nicht aufgeben. Nach zwei Wochen ohne ein Lebenszeichen machte sich Mel zusammen mit unserer Zuschneiderin in einem Vorort Lilongwes auf die Suche nach ihm. Sie fanden ihn bei sich zu Hause. Am nächsten Tag kam er wieder regulär zur Arbeit. Es gehört zu den Absurditäten, denen man in Malawi begegnet, dass diese Nebengeschichte keine Pointe hat. Es gab keinen Grund für das klanglose Verschwinden des Schneiders. Er war mit seinem Arbeitsplatz zufrieden und seine Familie auf das Geld angewiesen, das er bei uns verdient. Für ein paar Tage hatte er einfach gemeint, etwas Besseres zu tun zu haben.

Das Team in Malawi arbeitet an den neuen Wendejacken.

Die ersten Wendejacken wurden ausgetüftelt und entwickelt. Sie sahen sehr gut aus. Ein paar Wochen später konnten wir sie zum Verkauf anbieten. Ein Freund, der eine Expertise für Werbung in Sozialen Netzwerken entwickelt hatte, schaltete für uns eine Anzeigenkampagne auf Facebook. Es war, als hätten die Leute nur auf die neuen Jacken gewartet. Über den Onlineshop nahmen wir fleißig Vorbestellungen entgegen, die dann direkt im Anschluss in Malawi genäht wurden. Gleichzeitig begann nun der Weihnachtsmarkt. Wir hatten einige Freiwillige akquirieren können, die mich mit den Schichten am Stand unterstützten. Ich hatte ja noch Jobs nebenher. Der Dezember sah nun so aus:

Über unseren eigenen Onlineshop sowie über zwei weitere Plattformen, auf denen wir unsere Stücke anbieten, kamen täglich neue Bestellungen rein. Gleichzeitig betreute ich den Stand auf dem Weihnachtsmarkt, wo der Absatz ebenfalls zu unserer Zufriedenheit lief. Der schöne, sich durch die reizüberflutende Farbenpracht der verschieden gemusterten Jacken nahezu vollständig selbst dekorierende Stand täuschte viele Besucher darüber hinweg, wie klein Khala immer noch war. Tatsächlich hatte ich sämtliche verfügbaren Lagerbestände an unserem Stand untergebracht. Wenn uns also eine Bestellung übers Internet erreichte, nahm ich die bestellte Ware von der Stange unserer Bude und brachte sie am nächsten Morgen zur Post. Um außerdem nicht vorrätige Größen und Muster anbieten zu können, nahm ich auch am Weihnachtsmarkt Vorbestellungen entgegen, funkte diese gleich weiter an Mel, die sie im Anschluss in Malawi fertigen ließ. Dieses Angebot gefiel den Gästen und es wurde oft in Anspruch genommen.

Bene am gut gefüllten Khala-Stand auf dem Märchenbazar im Dezember 2018.

Die am Stand und online vorbestellten und gefertigten Bomber- und Wendejacken trudelten dann Woche für Woche in Deutschland ein. Ich holte sie beim Zoll ab, verpackte sie und brachte sie zur Post, oder informierte Vorbesteller*innen, dass ihre Bestellung nun abholbar war; die übrigen Jacken brachte ich zum Weihnachtsmarkt und füllte die leer gewordenen Plätze an den Kleiderstangen auf. Parallel dazu trafen nun auch immer wieder die dem Versandgeschäft immanenten Retouren ein. Da ich selbst kaum mehr daheim war, gaben die emsigen DHL-Bienchen all die retournierten Päckchen bei verschiedenen meiner Nachbarn ab. Nur ungern öffnete ich noch den Briefkasten, befürchtete ich doch, dass mir wieder ein gelbes Kärtchen mit dem Vermerk „Ihre Sendung wurde an Ihren Nachbarn übergeben“ entgegen flatterte. Auf den Kärtchen stand noch, bemüht um Konkretisierung, der Nachname des Nachbarn. Wenn es ganz blöd lief, lautete dieser Name Müller. Bei mir im Haus wohnen drei Müllers. Auf der Suche nach meinen Päckchen lernte ich sie nun alle kennen. Die Vorbestellungen, Verkäufe, Retouren und neuen Lieferungen bedurften einer Dokumentation. Ein konkretes System dafür gab es noch nicht. Anfangs vermerkte ich alles auf verschiedenen Zetteln. Es häuften sich aber die Fälle, in denen ich etwas auf einen Zettel schreiben wollte und den Stift verdutzt wieder beiseitelegte, da ich die im Entstehen begriffene Notiz scheinbar zu einem früheren Zeitpunkt bereits verfasst hatte. Die Zettelwirtschaft wich einem System aus Listen und Verzeichnissen, welches ich stets mit mir führte, um Daten nachschlagen und updaten zu können. Aktentaschen hatte ich immer als prätentiöses Accessoire von Young Professionals betrachtet. Nun verstand ich. Sollte ich mir vielleicht eine zu Weihnachten wünschen?

Es kamen nicht nur viele Päckchen bei Bene an – er musste sie auch fleißig verschicken.  (c) Nicole Ficociello

Während sich mein Leben in einem Strudel aus vollen und leeren Versandkartons, Kärtchen, Listen und Zettelchen, Zolldokumenten, Weihnachtsmarkt und Paketklebeband zu verheddern drohte, forderte das Weihnachtsgeschäft Mel und das Team in Malawi nicht weniger heraus.

Dort war von Weihnachten indes nicht viel zu spüren. Die Regenzeit hüllte das Land in ein grünes Kleid und die gleichzeitig hohen Temperaturen führten zu einer Schwüle, die einem den Schweiß aus den Poren presste. Im Radio kam niemand auf die Idee, „Last Christmas“ zu spielen, und abgesehen von einer etwas verloren wirkenden Plastik-Tanne in einer Mall, erinnerte auch optisch wenig an Festlichkeit.

In unserem Atelier gab es zwar auch keine Deko, aber die vermerkten Jackenbestellungen an einem neu angeschafften Whiteboard ließen erkennen, dass es in Deutschland sehr weihnachtete. Die schlagartige Nachfrage nach den neuen Modellen und die Sonderanfertigungen für Besteller und Bestellerinnen am Weihnachtsmarkt in München erforderten eine wohlüberlegte Koordination der eingeschränkten Produktionskapazitäten und der teilweise überforderten Mitarbeiter*innen – und auch dortzulande eine akribische Dokumentation. Zudem hatte Mel erst kürzlich einen neuen Schneider eingestellt, der nun in der Anlernphase war. In Malawi ist Schneider, wer Zugang zu einer Nähmaschine hat. Die Stellenausschreibung nach einem fähigen, neuen Kollegen war daher eine Angelegenheit für sich. Ok, ganz kurz: Mel hatte bereits ein paar erfolglose Probearbeitstage mit verschiedenen Anwärtern für den Job hinter sich, da erreichte sie eines Tages eine Anfrage eines malawischen Rappers. Der MC wollte mit unseren Bomberjacken ein Musikvideo drehen und bewarb sich im gleichen Atemzug als Mels Assistent. Das Video wurde gedreht, wegen der schlechten Bildqualität wurde der Gastauftritt der Khala-Stücke jedoch wieder herausgeschnitten. Zu mehreren vereinbarten Terminen, bei denen seine Karrierechancen als Assistenz von Mel und eventuell neuer Projektkoordinator ausgelotet hätten werden sollen, erschien der arbeitssuchende Tausendsassa nicht. Somit war sein Nebenauftritt in dieser Geschichte auch schon wieder zu Ende. Zuvor hatte er aber noch einen seiner Nachbarn als neuen Schneider empfohlen. Und dieser saß nun an einer Nähmaschine bei Mel im Atelier und wurde mit den Spezifitäten von Schnittmustern, Nadeln, Stichlängen und Materialien vertraut gemacht.

Teammeeting im Khala-Atelier in Malawi.

Aus Chaos wurde Routine, aus Fehlern wertvolle Lektionen und aus Stoffen wurden Jacken, die nach Deutschland wanderten. Bei wem die wohl überall unterm Christbaum landen würden, fragte ich mich, während mir ein eisiger Wind Schnee ins Gesicht blies und ich die in unzähligen schuhkartongroßen, braunen Schachteln verpackten Jacken durch die Kälte zur Post trug.

Khala’s erste Weihnachten waren nervenaufreibend und stressig gewesen. Aber durchaus erfolgreich. Mit dem Gewinn, den wir machten, hatten wir nun erstmals genug Geld auf der hohen Kante, um mehrere Monate in die Zukunft zu kalkulieren. Dadurch würden sich im neuen Jahr vollkommen neue Möglichkeiten ergeben.


(c) alle Bilder Benedikt Habermann/ Khala

Packwise – Industrieverpackungen effizienter wiederverwenden

Durch Digitalisierung die Kreislaufwirtschaft von Verpackungen verbessern

PET-Flaschen, Plastik, Glas, Papier – Verpackungsmüll ist für viele Verbraucher*Innen, die bewusst einkaufen wollen, ein großes Thema. Kann man es wiederverwenden, wird es recyclet oder landet es in der Müllverbrennungsanlage? Im Supermarktregal wird man alltäglich mit dieser Problematik konfrontiert. Doch was passiert eigentlich mit dem ganz großen Müll, dem Verpackungsmüll der Industrie? Mit all den Fässern, Transportboxen und Containern, in denen die verschiedensten Prozessstoffe transportiert werden? Die gute Nachricht: Oft werden sie wiederverwendet. Die schlechte Nachricht: bisher meist sehr ineffizient.

Felix Weger, Mitbegründer von Packwise, hat selbst in der Branche gearbeitet und kennt das Problem zur Genüge. Gemeinsam mit seiner Frau Gesche Weger und dem IT-Entwickler René Bernhardt haben sie nach einer digitale Lösung gesucht, um den industriellen Verpackungsmarkt zu revolutionieren. „Bei meiner alten Stelle habe ich gemerkt, dass die Wertschöpfungskette der Verpackungen nicht wirklich effizient ist – viele dieser Stahl- und Kunststofffässer stehen als braches Kapital auf Höfen herum, anstatt genutzt zu werden und durchlaufen dabei nicht die optimale Anzahl an Produktlebenszyklen, die theoretisch möglich sind.“, sagt Felix. Einer der Hauptgründe dafür: Der Markt ist nicht transparent. Teilweise werden dann die sogenannten IBC – Intermediate Bulk Container – von Hamburg nach München gefahren, weil keiner weiß, dass vielleicht eine andere Firma um die Ecke die aufbereiteten Container brauchen könnte.

Typische Industrieverpackungen

Nachdem Felix auf dieses Problem – die fehlende Vernetzung und Transparenz bei der Wiederverwendung von Industrieverpackung – aufmerksam geworden ist, entstand daraus die Idee zur Digitalisierung der Kreislaufwirtschaft für Verpackungen. Die Umsetzung dieser Idee begann mit einer Online Auktionsplattform für gebrauchte Industrieverpackung. Mittlerweile wurde sie weiterentwickelt: Das Unternehmen hat ein Gerät entwickelt, mit dem der Standort, der Füllstand und die Temperaturen der Container überwacht werden können. Durch das Internet of Things sind alle damit ausgestatteten Container miteinander vernetzt – und können miteinander kommunizieren. Geht der Inhalt eines Behälters zur Neige, kann dieser selbstständig Nachschub ordern. Transportwege können so optimiert werden und bestehende IBCs besser ausgelastet werden – so können Geld und Ressourcen gespart werden.

Möglich wurde dieses Projekt unter anderem durch Finanzierungen des Technologiegründerstipendium der Sächsischen Aufbau- und Förderbank und ein Investment des Technologiegründerfonds Sachsen. Nicht nur die Finanziers konnte Packwise überzeugen: Am 1. Juli 2019 hat Packwise den Sächsischen Umweltpreis 2019 in der Kategorie „Umweltfreundliche Produkte und Dienstleistungen“ erhalten.


(c) Alle Bilder Packwise GmbH

Social-Bee – Integration durch soziale Zeitarbeit

Ein Sozialunternehmen beweist, dass Zeitarbeit nicht zwangsläufig Ausbeutung, sondern erfolgreiche Integration bedeuten kann.

In seinem Heimatland war Hamid (Name von der Redaktion geändert) ITler, doch die Umstände zwangen ihn zur Flucht. In Deutschland angekommen, suchte er drei Jahre lang einen passenden Job – vergebens. Das änderte sich jedoch, als er auf die soziale Zeitarbeitsfirma Social-Bee gestoßen ist. Dort bekam er eine Anstellung und wurde zunächst für einige Monate als Hilfsarbeiter in einem Münchner Unternehmen beschäftigt. Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende. Das Team von Social-Bee nutze diese Zeit um Hamid weiter beruflich zu fördern, was ihm letztlich eine Festanstellung in einem IT-Unternehmen einbrachte. Die Idee, dass Integration durch so etwas wie Zeitarbeit möglich ist, scheint also aufzugehen.

Das in Deutschland bisher einzigartige Projekt versteht sich hauptsächlich als Integrationskonzept für Geflüchtete: Während ihres Einsatzes in verschiedenen Partnerunternehmen werden die Geflüchteten sozialpädagogisch begleitet, machen Sprachkurse und nehmen an Personalentwicklungsmaßnahmen teil. Das Ziel ist die Vermittlung in eine qualifizierte Festanstellung oder Ausbildung nach spätestens eineinhalb Jahren.       

Zarah Bruhn und Max Felsner haben Social-Bee 2016 ins Leben gerufen. (c) Frank Bluemler

Zarah Bruhn und Maximilian Felsner, das Gründerteam von Social-Bee, kennen sich aus Studienzeiten. Maximilian hat Volkswirtschaftslehre studiert und sich schon damals nebenbei sozial engagiert. Die Betriebswirtin Zarah wurde durch eine Freundin mit Fluchthintergrund mit den Themen Flucht und Migration konfrontiert. Nachdem sie sich mehrere Monate ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe tätig war, ging sie mit der Idee, eine eigene Initiative zu gründen, auf Maximilian zu. Gemeinsam entwickelten sie das Konzept von Social-Bee. Was dann folgte, war vor allem eines: harte Arbeit. Beide kündigten ihre Jobs, nahmen ein Darlehen auf und tüftelten weiter an ihrem Konzept im Entrepreneurship Center der Ludwig-Maximilians-Universität München. Das hat sich ausgezahlt: Seit der Gründung 2016 ist das Team auf etwa 30 Personen angewachsen, und neben den Standorten in München und Stuttgart kommen gerade neue Büros in Hamburg und Köln dazu. Zu dem Erfolg gehören auch etwa 100 Flüchtlinge, die in Zeitarbeit beschäftigt sind und somit eine Möglichkeit zum Broterwerb gefunden haben. Das selbst gesteckte Ziel erfolgreicher „Integrationsdienstleister“ zu sein, ist also geglückt. Das wissen die Social-Entrepreneure auch aus persönlicher Erfahrung. „Wir bekommen ziemlich oft emotionale Danksagungen, Ehemaliger, in denen es heißt: Danke, dass ihr mir geholfen habt, ohne euch hätte ich es nicht geschafft!“, weiß Maximilian zu berichten.

Die Einsatzgebiete der angestellten Flüchtlinge sind insbesondere die Lagerlogistik- und Produktionsbranche. Bei diesen eher niedrigqualifizierten Tätigkeiten sind die Einstiegshürden, gerade für Flüchtlinge ohne jegliche Ausbildung, geringer. Gleichzeitig stehen Weiterbildungsmaßnahmen, wie etwa Sprachkurse und EDV-Schulungen, zur Verfügung. Die Hürden für Social-Bee selbst scheinen jedoch dagegen höher zu werden. „Tendenziell sind die politischen Rahmenbedingungen schlechter geworden, etwa bei der Vergabe von Arbeitserlaubnissen – da gab es früher weniger Probleme. Zudem sind die gestellten Anforderungen an die geflüchteten Arbeitssuchenden völlig überzogen, während gleichzeitig benötigte Fachkräfte grundlos abgeschoben werden. Das heißt, Politik geht dann doch oft am eigentlichen Ziel vorbei“, erzählt Maximilian.

Etwa 100 Flüchtlinge werden momentan über Zeitarbeit beschäftigt. (c) Frank Bluemler

Aber es bleibt dabei – nicht die Flexibilität der Unternehmen steht im Mittelpunkt, sondern die Begleitung der Geflüchteten auf dem Weg ihrer Integration. Unternehmen verpflichten sich zum Beispiel von Vornherein, Social-Bee-Zeitarbeiter für mindestens neun bis zwölf Monate zu beschäftigen. Trotzdem arbeiten Unternehmen gerne mit Social-Bee zusammen. Denn einer der Vorteile ist die Vermittlung von sehr motivierten und gut betreuten Mitarbeitern, die sie im Anschluss an das Social-Bee Programm fest übernehmen können. Und das letztlich mit einer Erfolgsquote von 70 Prozent. Zudem ist diese Variante der Zeitarbeit eine Möglichkeit für Unternehmen, sich über eine Dienstleistung sozial zu engagieren, die sie ohnehin in Anspruch nehmen. All das zahlt sich auch für die Gründerin Zarah schon jetzt aus: „Alle Mitarbeiter, die bei uns waren, haben sich sehr entwickelt und ich freue mich drauf, wenn wir sie in 20 Jahren sehen und sie mir sagen, dass Social-Bee ihnen wirklich etwas gebracht hat. Dafür haben wir jetzt die Verantwortung. Die Mitarbeiter vertrauen uns genauso wie wir ihnen, dem muss man auch gerecht werden.“


(c) Titelbild: Photogenika

„Das Thema Wasser haben die Leute nicht auf dem Schirm.“

Blue Ben, das ist ein Modelabel, das vor allem Mittel zum Zweck sein will. Und der hat einen Namen: Wasser.

Es hilft kein Stapeln und kein Stopfen – der Kleiderschrank ist einfach zu voll. Aber was soll man machen. Schließlich kann man kann doch nicht das schöne Oberteil der Frühlingskollektion auch noch im Sommer tragen! Aber alles ganz easy: Die neuesten Trends gibt es schließlich zum Dumpingpreis in den Regalen der Fast-Fashion-Ketten. Doch so einfach ist es nicht. Eine immer größer werdende Nachfrage nach Kleidung zum immer kleineren Preis funktioniert nur auf Kosten anderer, tausende Kilometer weit weg – etwa in Bangladesch. Das weiß auch Ali Azimi. Nachdem der Wahlberliner 2016 durch einen Dokumentarfilm auf die prekäre Situation der dortigen Textilarbeiter aufmerksam wurde, begann er zu recherchieren – auch vor Ort. Schnell war klar: Ein großes Problem ist der enorme Wasserverbrauch bei der Herstellung von Baumwollstoffen. Gerade den Ärmsten der Armen wird damit eine überlebenswichtige Ressource entzogen. Um dagegen etwas zu unternehmen wurde „BlueBen“ ins Leben gerufen. Dahinter steckt ein Modelabel, das vor allem eines will: Wasser geben, anstatt nehmen. Um mehr darüber zu erfahren, haben wir mit Ali Azimi, dem Gründer des Start-Up gesprochen.

 

Ali, ihr schreibt auf eurer Website: “Water is more important than clothing.“ Wie lässt sich das verstehen?

Als ich erfahren habe, wieviel Wasser in Baumwolle steckt und wie die Ressource Wasser in der Textilbranche genutzt wird, war ich ziemlich schockiert. Daraufhin reiste ich nach Bangladesch, habe mir die Industrie angeguckt und mit Bauern gesprochen. Die dort produzierte Kleidung ist zu 90 Prozent für den Export bestimmt. Man fragt sich dann, welchen Nutzen die Menschen vor Ort davon haben. Zudem sind es meist nur Großgrundbesitzer oder Fabrikanten, die wirklich etwas dabei verdienen. Daraufhin ist die Aussage entstanden, dass Wasser wichtiger für den Lebensmittelanbau, als Lebensgrundlage vor Ort, ist, als dafür, dass wir T-Shirts für drei, vier Euro kaufen können.

Nach eigenen Recherchen in Bangladesch hat Ali Azimi 2017 Blue Ben ins Leben gerufen. (c) Jonas Nellissen

Wieso ist die Nutzung von Wasser zur Textilherstellung so kritisch? 

Zwischen 7.000 und 29.000 Liter Wasser werden für ein Kilo Baumwolle benötigt – vom Anbau bis zur Endproduktion. Ich diskutiere oft mit Leuten, die meinen, dass man für Kaffee und Fleisch ebenfalls eine Menge Wasser benötigt. Klar, stimmt, aber das sind Lebensmittel. Das ist etwas anderes als Kleidung. Die liegt erstmal überall in Massen rum, die im Gegensatz zu Lebensmitteln, weniger zwingend gebraucht werden. Das Problem ist, dass in den Gebieten – in denen der Baumwollanbau und die Textilindustrie angesiedelt sind – es entweder sehr trocken ist oder es dort von vornherein gravierende Versorgungsprobleme mit Wasser gibt. Das heißt, wir begünstigen durch die Produktion und Anbau von Baumwolle noch mehr Probleme, als es ohnehin schon gibt. Zudem ist erstaunlich: Das Thema ist völlig unterrepräsentiert. Keiner redet darüber. Das Thema Wasser haben die Leute nicht auf dem Schirm.

Aber ihr wollt Wasser nicht nur einsparen, sondern auch geben: Wie wollt ihr das schaffen?

Der erste Schritt liegt natürlich im Wassersparen. Das heißt aber nicht Bio-Baumwolle aus Indien zu verwenden. Wir produzieren überhaupt nicht in diesen Ländern, denn diese Länder brauchen das Wasser für den Lebensmittelanbau. Daher produzieren wir nur in Europa. Der wesentliche Punkt ist jedoch, dass wir überhaupt keine Baumwolle verwenden. Wir wollen hierbei Verantwortung übernehmen, aber wir können uns nicht vor den Schäden drücken, die wir in den letzten 40 Jahren in diesen Ländern verursacht haben. Wir zahlen deswegen eine Art Reparationen, indem wir Wasserprojekte finanzieren. Das ist der nächste Schritt. Wir versuchen das Wasser, das durch die Textilindustrie verschmutzt wurde, wiederaufzubereiten, also den Leuten wieder zugänglich zu machen.

Aber Privatpersonen sollen euch auch direkt unterstützen, oder? 

Genau. Wir wollen erreichen, dass du genau wie einen Co2-Ausgleich beim Fliegen, einen Wasser-Ausgleich machen kannst. Das planen wir mit unserem Verein, den wir gegründet haben und der unsere Wasserprojekte kuratiert. Den gibt es auch deswegen, da wir die Zwischenschritte verkürzen wollen und somit keine überflüssigen Mittelsmänner haben, damit am Ende dort mehr ankommt, wo es gebraucht wird. Ein Beispiel: In Bangladesch gibt es Superarme, Arme und Normale. Die Superarmen können es sich nicht einmal leisten, für 20 US-Cent im Monat, Wasser zu kaufen. Mit dem Wasserausgleich hat man die Möglichkeit, diese 20 Cent pro Familie zu spenden. Zusammengefasst hat man mit zehn Euro einen Monat lang 50 Familien mit Wasser versorgt. Aber das ist ein langfristiges Projekt, deswegen haben wir es nicht in den Mittelpunkt gesetzt. Wir versuchen eher durch größere Wasserprojekte etwas Nachhaltigeres zu implementieren.

Der hohe Wasserverbrauch beim Anbau und der Verarbeitung von Baumwolle erschwert vielen Menschen den Zugang zu sauberen Trinkwasser. (c) Benedikt Fuhrmann

Eure Ziele wollt ihr mit dem Verkauf eines baumwollfreien Sweaters erreichen: Wie kam es dazu?

Wir hatten gar nicht vor ein Modelabel zu gründen – denn es stand die Frage im Raum, ob man eigentlich noch ein weiteres Modelabel braucht. Aber die Tatsache, dass wir das mit dem Sweater machen, interessiert die Leute. Darüber kommen wir mit ihnen ins Gespräch und nicht, weil wir ein Wasserausgleich anbieten oder einen Verein gegründet haben. Das ist schade, aber einfach Tatsache.

Der Pullover ist also Mittel zum Zweck?

Absolut! Er ist die Grundlage, um über unsere Themen zu sprechen. Dazu gehört auch, dass wir einen Schritt weitergehen, indem wir uns gefragt haben, was in Zukunft sein wird. Baumwolle wird nicht dazugehören. Da bin ich mir ziemlich sicher, weil wir die Agrarfläche und das Wasser für den Lebensmittelanbau brauchen werden. Deswegen wird es zwangsläufig darauf hinauslaufen, dass wir andere Fasern nutzen.            
Dafür haben wir selbst einen Stoff zu hundert Prozent aus Buchenholz geschaffen. Aber es hat schon eine ganze Weile gedauert, bis wir das erreicht haben. Wir mussten beim Stoff viel nachjustieren, etwa beim Material für die Bündchen. Wir wollten ein Garn das biologisch abbaubar ist und eben nicht aus Polyester besteht. Das war ziemlich schwierig. Das hat alles ein bisschen länger gedauert als geplant, aber jetzt da die Pullover da sind, ist es echt cool zu sehen was wir in den letzten Monaten geschaffen haben. Da sind wir stolz drauf. Und die Leute sind echt begeistert. Wir hätten natürlich auf schon Vorhandenes zurückgreifen können, aber wir haben uns für diesen Weg entschieden. Dann dauert es eben alles manchmal länger als geplant – in unserem Fall drei Monate.   

Dann geht es also jetzt los mit dem Verkauf? 

Genau. Die Pullover in unseren Basic-Farben sind bereits erhältlich. Die erste Auslieferung war im Dezember 2018.

Ihr hattet bereits in Vergangenheit eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne durchgeführt. Gerade habt ihr nochmal eine gewagt. Wie lief die?

Wir wollten schon immer eine internationale Kampagne auf Kickstarter machen. Das war jedoch schwieriger als gedacht, was vielleicht auch daran lag, dass wir die Kampagne zum Ende des Jahres gemacht haben. Das heißt, die Kampagne ging nicht so durch die Decke, wie wir es bei der letzten erlebt hatten. Einerseits, weil wir unterschätzt haben wieviel Zeit und Kraft so etwas benötigt. Anderseits hatten wir auch schon unser Netzwerk erschöpft. Deshalb mussten wir komplett neue Leute erreichen. Das war echt eine Herausforderung. Dafür haben wir in drei Städten Öffentlichkeitsarbeit gemacht – in Amsterdam, London und Berlin. Zudem haben wir eine tolle PR-Mitarbeiterin an Bord, die einen richtig guten Job macht. Gott sei Dank haben wir dann das Ziel der Kampagne erreicht und sie erfolgreich beendet. Der Erfolg war dann sogar ein bisschen international. Es gab ein paar Kunden aus Asien. Auch in Europa verteilt und aus den USA sind Bestellungen eingegangen. Aber trotzdem, man darf das alles nicht unterschätzen. 

Was wollt ihr mit dem Geld anstellen?

Wir brauchen viel Geld für die Produktion selbst. Aber auch für Dinge wie einen biologischen Abbaubarkeitstest. Der ist echt teuer und kostest allein schon etwa 5.000 Euro. Das wollen wir nicht machen, um es als Alleinstellungsmerkmal zu kommunizieren, sondern damit wir uns selber sicher sein zu können, dass wir etwas geschaffen haben, das biologisch abbaubar ist.

Produziert werden die Sweater ausschließlich in Europa. (c) Blue Ben

Neben all euren Bemühungen: Wen siehst du mehr in der Verantwortung, die Produzenten oder die Verbraucher? 

Ich persönlich bin nicht der nachhaltigste Konsument, um ehrlich zu sein. Worauf ich eher achte ist Qualität. Ich kaufe einfach wenig. Ich bin da eher unbewusst nachhaltig. Ich lege die Verantwortung nicht auf die Konsumenten, sondern auf die Produzenten. Da in ihnen die Ursache des Übels liegt. Das was Konsumenten machen, ist nur Symptombekämpfung. Das heißt, wenn wir unseren Konsum runterschrauben, bedeutet das nicht, dass Modelabels weniger produzieren. Das müssten dann schon alle oder zumindest ein sehr großer Teil tun und das wird nicht passieren. Da müssen wir realistisch sein. Es wird nicht passieren, es sei denn, die Politik würde eingreifen, das tut sie aber nicht. Warum: Es geht um Steuergelder, um globalen Austausch und letztlich um ökonomische Vorteile der Modelabels. Was wir als Produzenten machen können, ist das Ganze anzustoßen. Ich glaube, kein Label, das jemals angefangen hat Fair-Fashion zu machen, war ein Systemwandler. Vielmehr haben sie dazu beigetragen, dass sich andere daran orientieren. Ich glaube, dass die Intensität eines Wandels davon abhängt, wie groß und wie bekannt wir werden. Um zu zeigen, dass man es wirklich radikal anders machen kann.

Euer Pullover ist ja Mittel statt Zweck. Der Steckt in  euren Wasserprojekten. Was hat sich da getan?

Ursprünglich hatten wir uns auf reine Trinkwasserprojekte fokussiert. Das hat sich in wenig geändert. Das heißt, wir arbeiten gerade an einer Lösung, die das Abwasser von Textilmanufakturen, Färberein etc. filtert. An so einem Filtersystem arbeiten wir gerade mit verschiedenen Partnern zusammen. Wir wollen etwas machen, was ein bisschen mehr zu uns passt. Wenn wir Textilien herstellen, macht es auch mehr Sinn etwas mit Textilabwässern zu machen. Brunnenbau würde uns vielleicht die bessere PR bringen, aber wir wollen an der Ursache arbeiten, das ist uns wichtiger. Wir wollen uns mit den Verursachern des Wasserproblems generell, etwa in den Großstädten Bangladeschs, befassen – mit Textilbetrieben etwa, die sich Filteranlagen und ein Waste-Water-Managemernt nicht leisten können. Dort wollen wir Abhilfe schaffen. Wie das aussehen kann, daran arbeiten wir geraden. Da steckt jede Menge Arbeit drin, die wir bald öffentlich kommunizieren werden.

Euer Sweater verfügt über eine ziemlich auffällige Armbinde am Ärmel. Das hat ein wenig einen Siegelcharakter: Meinst du, eine Siegel für nachhaltige Textilien bräuchte es?  

Wir als Unternehmen verwenden keine Siegel. Weil sie nur Symptome bekämpfen, indem sie versuchen Vertrauen zu schaffen, wo gar keine Glaubwürdigkeit da ist. Aber dem ist nicht so. Denn viele Menschen können nicht nachvollziehen, wie Rohstoffe angebaut werden. Da gibt es extrem viele Schwierigkeiten und das ist den Leuten nicht bewusst. Das wollen wir nicht. Wir wollen unabhängig davon zu 100 Prozent transparent sein. Dann braucht es auch kein Siegel mehr. Das Label am Arm ist vielmehr etwas, worüber sich die Leute identifizieren und reden. Also ein Conversation-Starter, mit dem Ziel, ein gemeinsames Symbol entstehen zu lassen. 

Eine Armbinde als Conversation-Starter für nachhaltigen Konsum. (c) BlueBen


(c) Titelbild: Benedikt Fuhrmann

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