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Das Internet als Gemeingut?

16. Mai 2019 By

Ein Annäherungsversuch an die technische und gesellschaftliche Gemeinressourcenverträglichkeit des Internets.

„LO“. Das war sie, die erste Nachricht, die je von einem Computer zu einem anderen Computer über mehr als ein paar Kilometer hinweg übertragen wurde. Am 22.10.1969, um 22:30 Uhr schickte der SDS Sigma 7 der University of California, Los Angeles, diese zwei Buchstaben an den knapp 630 Kilometer nördlich gelegenen SDS 940, den Computer der Stanford University. Geplant war ein ganzes „LOGIN“ zu versenden, nach dem „O“ crashte jedoch das System.

Eigenschaften einer Allmende

Die Rolle des Internets für die heutige Welt kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Es wäre langweilig hier einfach aufzulisten, wie viele Menschen täglich über das Internet kommunizieren, wie viele Menschen mittlerweile online Liebe finden, wie viele Menschen ihre Finanzen online regeln oder wie viele Industrien ohne das Internet nur noch einige wenige Minuten überleben würden. Das Internet ist heute wohl so etwas wie der Sauerstoff des globalen Welthandels: mehr als vier Billionen US-Dollar trug das Internet allein 2017 zur globalen Wirtschaft bei. Wenn wir fragen, wem gehört die Luft, die wir täglich einatmen, dann werden wir uns notwendigerweise auch fragen müssen, wie wir diese Luft schützen können und wer dafür verantwortlich sein sollte. Wenn wir alle darauf zugreifen, alle damit interagieren, Content produzieren, Content konsumieren, gehört es uns dann nicht irgendwie allen? Wenn wir einerseits von Open Access sprechen, könnte das Internet dann eine Allmende sein? Welche technischen Eigenschaften des Internets können eine potentielle Tragik der Allmende erzeugen? Gibt es Folgen des Internets? Könnte es, die gesellschaftlich zu einer Tragik der Allmende für die Gesellschaft führen?

Das Internet bestimmt viele Bereiche unseres Lebens. Aber wem gehört es eigentlich? (c) Miguel Á. Padriñán

Nicht-kommerzielle Anfänge: die TCP/IP Protokolle

Ähnlich kompliziert wie der Besitzeranspruch oder die Folgenanalyse des Internets auf technischer und gesellschaftlicher Ebene, ist dessen Geschichte. Wer hat’s erfunden? Die Schweizer in CERN? Nein, das waren die Amerikaner! Das Internet, oder besser gesagt dessen Vorgänger „ARPANET“ geht klar an das Amerika der späten 1960er Jahre. Was oben so trivial beschrieben wurde, dass ein Computer über ein langes Kabel mit einem anderen Computer „sprechen“ kann, ist genau diesem ARPANET geschuldet. Was ist daran aber so besonders? Dabei stellt man sich am besten eine sehr internationale Party vor, auf der jeder Gast nur seine eigene Sprache spricht. In etwa so wäre die Welt für Computer ohne Internet. Computer haben unterschiedliche Betriebssysteme und unterschiedliche Hardware, sie sprechen daher verschiedene Sprachen. Das ist das erste Problem, das eine Interaktion zwischen zwei Computern sehr schwer macht. Zweitens gibt es dann auch noch unterschiedliche Netzwerktypen. Computer sind also „eigen“, aber die Universitätsnetzwerke der University of California und der Stanford University sind es eben auch! Wir kennen hierfür meistens nur irgendwelche Abkürzungen, die uns nicht wirklich viel sagen, wie etwa „LAN“ (Local Area Network), „CAN“ (Campus Area Network), „MAN“ (Metropolitan Area Network), oder „WAN“ (Wide Area Network). Jedes dieser Netzwerktypen, die hier nach Größe aufgelistet wurden, sind Teil des Internets. Das Internet ist damit ein Netzwerk von unterschiedlichen Netzwerken. Ein „Netzwerk aller Netzwerke“ sozusagen.

Wer vom Internet redet, meint eignetlich das „Netzwerk aller Netzwerke“. (c) Markus Spiske

Es ist die Fähigkeit, die Vielfalt an Hardware, Software und Netzwerktypen auf einen Nenner zu bringen, die das Internet so besonders macht. Wie ist das möglich? Ein amerikanisches Team um die beiden Internetpioniere Robert E. Kahn und Vinton Cerf, schufen Anfang der 70er Jahre hierfür die entscheidende Technologie: die Internetprotokollfamilie Transmission Control Protocol/Internet Protocol (TCP/IP) – ein Kommunikationsprotokoll für ein globales Computernetzwerk. Durch Kommunikationsprotokolle können Regeln für die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Netzwerkentitäten festgelegt werden. Das TCP/IP Protokoll beinhaltet somit die Regeln, wie zwei Computer, zum Beispiel einer in San Francisco und einer in München, Informationen austauschen können. Das Protokoll bestimmt wie die Daten zerlegt werden, denn Informationen werden immer in Datenpaketen verschickt, über welche Route die Daten an die gewünschte (IP-)Adresse gelangen, und wie die Daten über unterschiedliche physikalische Medien (zum Beispiel Kupferdraht, Glasfaser, Luft, bei drahtloser Verbindung) hinweg übertragen werden. Zwischen den zwei Hosts (den Computern) stehen noch andere wichtige Transaktionsteilnehmer zum Beispiel Router, die die Datenpakete von einem Netzwerk zum nächsten weiterleiten können. Das ist er in etwa, der ganze Zauber, definiert in einem großen Kommunikationsprotokoll TCP/IP.

Das World Wide Web

Auf diese Netzwerktechnologie, die es ermöglicht mit jedem IP-fähigen Gerät, das am Internet angeschlossen ist, über eine beliebige Route zu kommunizieren, baut nun das sogenannte World Wide Web auf. Diese Idee wiederum geht zurück auf das CERN in der Schweiz. Um genauer zu sein, auf den englischen Wissenschaftler Tim-Berners Lee, der 1989 den ersten Internet Browser programmierte. Mit diesem Browser-Programm können über das ebenso von Lee kreierte HTTP-Protokoll verlinkte Hypertextseiten (Webseiten) geladen werden. Das http-Protokoll liegt dabei auf der obersten Schicht des Internets auf. Das World Wide Web ist eine der vielen Möglichkeiten, die die Grundtechnologie des Internets zur Verfügung stellt und ermöglicht. E-Mail und File-Transfer funktionieren beispielsweise auch dank dem Internet, werden aber über andere Protokolle umgesetzt.

Die Technologien hinter dem Internet haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten nur inkrementell verändert. Wir nutzen Google und andere bekannte Webdienste immer basierend auf der Funktion des TCP/IP – das hat alles nichts mit großer artifizieller Intelligenz zu tun, entscheidend sind hierfür immer noch die Protokolle der 1970er Jahre. Die Richtlinien dieser Protokolle, die Regeln, die den Datenstrom formulieren und kontrollieren, sind von unabhängigen und nicht-kommerziellen Institutionen und Organisationen bestimmt worden. Das gilt heute noch: seit dem Ende der 1960er Jahre befasst sich die Internet Engineering Task Force (IETF), heute eine von vielen Gremien der Nichtregierungsorganisation Internet Society, mit der Entwicklung und Standardisierung der technischen Protokolle des Internets. Die IETF ist offen für alle, es gibt keine Mitmachkriterien. Im Gegenteil, die IETF ist abhängig von einer internationalen Freiwilligengemeinschaft, die sich um die Weiterentwicklung des Internets kümmert. Es gibt sie also wirklich, die Teile des Internets, welche nicht kommerzialisiert sind.

Die Tragik der Allmende Teil 1: Netzneutralität

Die Frage nach der Netzneutralität, die sich gerade durch die Medienlandschaft zieht, ist genau deshalb so wichtig, weil es um die ursprünglich festgelegten Standards des Internet geht, wie sie ursprünglich in TCP/IP definiert worden sind. Die Netzneutralität besagt ganz einfach, dass Internet Service Provider (ISP), wie in Deutschland zum Beispiel die Telekom, bestimmte Datenpakete nicht bevorzugen darf. Wenn sie das machen würde, hieße das: „Wenn du mehr zahlst, bekommst du dein Streaming-Angebot, dein File-Transfer etc. schneller also die anderen.“ Vor dem TCP/IP r Netzneutralität sind aber alle Datenpakete gleich. Hier, auf dieser technischen Ebene des sogenannten Packet-Forwading, entstehen Probleme der Kategorie wie sie Garitt Hardin in seiner Tragik der Allmende formulierte. Wenn jeder ISP das Maximum der Datenübertragung für seine Kunden verfolgt, zum Beispiel indem immer noch ein weiteres ressourcenfressendes UDP-Datenpaket – wie etwa beim Streaming – dazwischengeschoben wird, kollabiert irgendwann die gesamte Verbindung für alle Teilnehmer. Dass das Internet in gewisser Weise also doch eine Gemeinressource ist, offenbart sich genau dann, wenn wir unter der Woche zwischen 20:00 und 22:00 Uhr einen Film sehen wollen. Tja, da sind auch noch andere in der Leitung, die Datenpakete anfordern, denn das Limit des physikalischen Leitmediums ist eben sehr konkret. Analog dazu kann man sich ganz einfach einen Stau auf der Autobahn während des Berufsverkehrs vorstellen. Die Aufhebung der Netzneutralität könnte. dazu führen, dass eines der bedeutendsten Eigenschaften des Internet kommerzialisiert werden würde: die Norm, dass jedes angeforderte Datenpaket – egal ob von einem globalen Unternehmen oder einer Privatperson zu Hause – gleichberechtigt ist.

Dass das Internet in gewisser Weise eine Gemeinressource –  und die ist begrenzt. (c) Francesco Ungaro

Die Tragik der Allmende Teil 2: Aufmerksamkeitslimits

oft überfordern, ablenken und stören. Diese Nachrichten sind so gestaltet, dass wir sie nicht ignorieren können: meistens rot, meistens mit einer Vibration oder einem Ton begleitet, strahlen sie Gefahr und somit Bedeutung aus. In diesem Fall sind die App-Developer daran interessiert, die Anzahl an Push-Nachrichten, die ein Nutzer pro Zeiteinheit bekommen kann, auf die Spitze zu treiben. Zusammen genommen ruiniert die Summe der App-Developer dadurch den Home Screen und möglicherweise auch den konstruktiven Umgang mit dem Smartphone. In diesem Fall ist die Allmende also unsere persönliche Aufmerksamkeit, vielleicht auch die der anderen, wenn die Notifications unseres Smartphones andere Mitmenschen ablenkt. Ist das Internet eine Allmende? Diese Frage kann man nicht stellen, denn das Internet ist viel zu groß und multidimensional, als dass man es als Ganzes evaluieren könnte. Es ist besser, man nimmt sich einen kleinen Teil heraus –egal ob technisch oder gesellschaftlich – und analysiert diesen nach Potentialen der Gemeinressourcenverträglichkeit! Dann mal Lo’.


(c) Titelbild: Pixabay

Über Postbusse und Gondeln

14. Mai 2019 By

Soziale Chancen von alternativen Mobilitätstypen in Großstädten

Schon immer waren Menschen unterwegs. Männer, Frauen und Kinder, Freund- und Verwandtschaften – ganze Völker rafften sich auf, um neue Räume zu erkunden und zu erschließen. Dabei hatte die Bewegung nicht nur eine ökonomisch-rationale Begründung. Das Reisen und Aufbrechen ist eine fundamentale Art und Weise die Welt zu erfahren: Menschen tendieren dazu, sich zu bewegen. Die Sesshaftigkeit, die wir heute vor allem in den Großstädten Europas und Nordamerikas beobachten können, ist, evolutionär betrachtet, ein völlig neuartiges Phänomen. Erst in der sogenannten neolithischen Revolution um 5000 v.Chr. hörten Menschen damit auf, sich in einem Zustand permanenter Bewegung – von einem Ort zum nächsten – zu befinden. Anstelle dessen ließen sie sich erstmals an einer Lokalität nieder und kultivierten dabei vor allem landwirtschaftliche Tätigkeiten. Und trotzdem: erst die Anfänge der Industrialisierung im späten 18.Jahrhundert ebneten den Weg in die heutige Urbanisierung.

Was ist soziale Mobilität?

SozialwissenschaftlerInnen untersuchen die Mobilitätsmuster einer Gesellschaft, um soziale Verhältnisse zu verstehen. Doch eigentlich meint der Begriff etwas anderes: es geht um die sozialen Auf- und Abstiegsmöglichkeiten, die Individuen innerhalb einer Gesellschaft realistisch bekommen. Im Extremfall bedeutet soziale Mobilität entweder „Einmal Tellerwäscher, immer Tellerwäscher“ oder „Vom Tellerwäscher zum Millionär“. Das Konzept soll als Fluiditätsmaßstab sozialen Status’ in Gesellschaften dienen. Seit ein paar Jahrzehnten verstehen Wissenschaftler den Begriff jedoch buchstäblicher. Die rasante Entwicklung der Megacities im 19. und 20. Jahrhundert – wie beispielsweise Dhaka (Bangladesch), Sao Paolo (Brasilien) oder Kalkutta (Indien) – hat den Fokus der sozialen Mobilität auf die tatsächliche Möglichkeit zur Bewegung gelegt. Sprich: Erst der Zugang zu Mobilität ermöglicht den Zugang zu den wertvollen materiellen und immateriellen Ressourcen, die eine urbane Gesellschaft bereitstellen kann: vor allem Bildung, Beruf und soziale Kontakte. Räumliche und soziale Mobilität sind damit untrennbar miteinander verbunden und werden gegenwärtig in den Sozialwissenschaften als gemeinsames Phänomen betrachtet. Denn aus den räumlichen Mobilitäsformen einer Gesellschaft können sich soziale Probleme ergeben, während umgekehrt auch die Verbesserung der Mobilitätssituation der Bevölkerung eine wirkungsvolle Form angewandter Sozialpolitik darstellen kann.

Held der Nation: das Schweizer Postauto

Die lokal verfügbaren Formen der Mobilität zeigen, wie Menschen sich im Raum bewegen und wie sie Raum gestalten. Viel wichtiger noch: Sie machen deutlich, welche Schwierigkeiten Menschen in Teilen einer Metropole oder eines Landes zu überwinden haben, um mobil zu sein. Wie einfach ist es, wirtschaftliche und kulturelle Zentren von peripheren Lokalitäten aus zu erreichen? Ein Beispiel: Die Schweiz gilt als eines der reichsten und innovativsten Länder der Welt. Der nationale Held ist das Postauto – ein regelrechter Mythos. Warum? In der Schweiz ist es gesetzlich festgelegt, dass das gelbe Postauto jedes, aber auch wirklich jedes noch so abgelegene Schweizer Alpendorf, fernab von jeder urbanen und internationalen Wirtschaftsanbindung, anfährt – obwohl es sich rein ökonomisch nicht lohnt. Etwa wie auf der Linie 220. Auf ihr erklimmt der gelbe Bus die Pochtenschlucht, die, mit 28 Prozent Steigung, steilste Busstrecke Europas. Die finale Station Griesalp ist ein Minidorf. Das Postauto ist für die Menschen die Verbindung zur Außenwelt: es bringt die Griesalper zur Arbeit in den Städten der Region und Touristen wiederum nach Griesalp.

Die Schweizer Postautos fahren auch entlegenste Bergdörfer an. (c) Wikimedia Commons

Natürlich kann man sagen: „Ok, das ist die Schweiz, die kann sich das leisten“. Das mag sein. Doch ganz so einfach ist es nicht. Soziale Probleme existieren erst, wenn sie von einer kritischen Masse als solche wahrgenommen werden. Ein Problem ist erst ein soziales Problem, wenn es eine bestimmte Form der Anerkennung findet. Viele Probleme erreichen gar nicht die Aufmerksamkeit der Bevölkerung. Und selbst wenn, müssen sie sich durch einen langen Legitimationsprozess kämpfen, Menschen mobilisieren und schließlich den richtigen Handlungsplan realisieren. In allen Phasen dieses Prozesses hätte möglicherweise ein einziges Individuum ausgereicht, um die Griesalper immobil zu machen: zu umständlich, zu gefährlich, zu irrelevant. Und doch wird der Aufwand als angemessen betrachtet, um der Bevölkerung der Peripherie Zugang zum gesellschaftlichen Leben in den Zentren des Landes zu gewähren.

Gondeln in den Großstädten Südamerikas

Kaum ein Land konnte in den letzten Jahren durch sportliche Megaevents so eine globale Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie Brasilien. Der Fußballweltmeisterschaft 2014 folgte die Olympiade in Rio de Janeiro 2016. Schon in den Jahren vor den beiden Weltereignissen, während die kolossalen Stadien in Brasilia, Sao Paolo oder Rio gebaut und eingeweiht wurden, erreichte ein soziales Problem der Städte Brasiliens zum ersten Mal eine Weltöffentlichkeit: die mit der Isolation zusammenhängende Ghettoisierung der Menschen an den äußeren Stadtgrenzen. Jene urbanen Gebiete, die sich in den letzten Jahrzehnten in die felsigen Berglandschaften Rio de Janeiros ausgeweitet haben, die sogenannten Favelas. Man kann sich das als Europäer wohl kaum vorstellen: eine Stadt, zwei vollkommen voneinander abgeschnittene Parallelgesellschaften. Denn keine Tram, kein Bus, keine U- oder S-Bahn lassen sich auf dem Hügelterrain installieren. Der Fußweg von der Favela Complexo do Alemão (übersetzt: der „Deutsche Komplex“) bis zum Zentrum der Stadt dauert etwa eine Stunde. Doch seit 2011 könnten die etwa 120.000 Bewohner des Complexo do Alemão den Rest der Stadt in unter 16 Minuten erreichen. Ganz bequem – per Gondel.

Unter dem Namen „Teleferico do Alemão“ hat die Stadt Rio de Janeiro ein 3.5 Kilometer langes Gondelsystem gebaut. Das System umfasst 152 Gondelkabinen, die je 10 Passagiere transportieren können. Für Bewohner der Favela Complexo do Alemão gibt es zwei gratis Rundfahrten pro Tag, die dritte Fahrt kostet dann einen halben US-Dollar. Das heißt, die Anwohner könnten in das urbane Zentrum Rios reisen. Seit 2016 ist der Gondelbetrieb jedoch vorerst und auf ungewisse Zeit eingestellt worden. Was zunächst als eine notwendige sechsmonatige Reparaturphase kommuniziert wurde, entpuppte sich als falsch: Der Staat hatte monatelang keine Subventionen an die Betreiber des Teleferico do Alemão gezahlt. Bis heute ist der Betrieb eingestellt. Wer sich ein Bild von den schwebenden Kabinen über den Kastenhäusern der Favelas machen will, kann sich dieses Video anschauen.

Gondeln verbinden in Medellín die an den Berghängen gelegenen Viertel mit dem Stadtzentrum.

Nachhaltiger und erfolgreicher sind übrigens die drei ähnlichen Gondelprojekte in den südamerikanischen Metropolen Caracas (Venezuela), Medellín (Kolumbien) und La Paz– El Alto (Bolivien). Über das „Metrocable“ in Medellín gibt es bereits erste Forschungsprojekte, die einen Rückgang der Kriminalität in den Barrios, den Elendsquartieren der Stadt, zeigen. Die Forscher Cerda und Diez- Roux der Universität Columbia, New York, verglichen in einer Langzeitstudie die Kriminalitätsrate vor und nach dem Infrastrukturprojekt. Dabei stellten sie fest, dass die Abnahme der Mordrate in den Nachbarschaften, die direkten Zugang zu den Gondeln haben, 66 Prozent größer war als in entsprechenden Kontroll-Nachbarschaften.

Chancen für soziale UnternehmerInnen

Räumliche Beweglichkeit ist Voraussetzung, um am sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Die sozialen Aufstiegschancen in einer Gesellschaft lassen sich daher sehr gut an den Möglichkeiten der Bewegung für alle Gesellschaftsgruppen erkennen. Die oben beschriebenen Initiativen und Projekte stehen sinnbildlich dafür, dass soziale Mobilität in einer Welt der Megacities nur durch Formen des Transports gegeben sein kann. Hier ist Innovation gefragt. Denn mehr Transport heißt auch immer weniger Raum und mehr Überlastung der Verkehrsinfrastruktur. Wer hätte gedacht, dass ein Transportmittel, das eigentlich für einen exklusiven Wintersport entwickelt wurde, abgeschnittene Bevölkerungsgruppen wieder re-integrieren kann? Die Idee für das „Metrocable“ in Medellín, übrigens das erste urbane Gondelprojekt in Südamerika, wurde von einem neueröffneten Luxushotel abgekupfert. Dieses wollte seinen Gästen einen exklusiven Weg zurück auf ihre Zimmer bieten: eben mit einer Gondel. Mittlerweile befördert das urbane Gondelsystem mehr als 30.000 Menschen jeden Tag.

Für viele Menschen ist es selbstverständlich sich in einer Stadt von Ort zu Ort zu bewegen. Vielen fällt dieser räumliche Spagat eventuell gar nicht wirklich auf. Aber er bedeutet ein Teilnehmen an verschiedenen Welten, in denen verschiedene soziale Rollen angenommen werden können. Jede soziale Rolle ermöglicht wiederum Zugang zu wertvollen Ressourcen. Das bedeutet: wer nicht mobil ist, ist schnell von einer ganzen Reihe von Ressourcen abgeschnitten. Das suspendierte Projekt „Teleferico do Alemão“ in Rio de Janeiro unterstreicht aber auch, wie schwierig es ist, ein derartiges Unternehmen nachhaltig aufzubauen. Denn die Technik alleine reicht nicht aus, sie muss in ein soziales Umfeld eingebettet werden, das sich durch seine individuellen Eigenarten auszeichnet.


(c) Bilder Medellín: Sebastian Preiß

Keine Tragik der Allmende

15. April 2019 By

Wie ein Wissenschaftsthriller unser Denken über Gemeinressourcen veränderte.

Kaum eine naturwissenschaftliche Veröffentlichung der letzten 50 Jahre verhalf einer wissenschaftlichen Karriere derart schnell in die Höhen des wissenschaftlichen Olymps, wie der 1968 veröffentlichte Artikel „The Tragedy of the Commons“. Dessen Autor, der amerikanische Biologe Garrett Hardin, hatte für den Beitrag keine langjährigen Feldstudien präsentiert, er hatte keine methodisch-komplizierten Experimente entworfen, Hardin hatte einfach nur beobachtet und postuliert: dass die Nutzung von natürlichen Ressourcen ohne staatliche oder privatisierte Verwaltung letztendlich zu deren nichtregenerierbarer Vernichtung führen würde. Zu einer Zeit, in der die Thematik der Commons nicht einmal in der wissenschaftlichen Literatur vorhanden war, brachte Hardin mit seinem Beitrag im Fachmagazin „Science“ Ökonomen, Politiker, ja ganze Gesellschaften dazu, über Ressourcenmanagement zu diskutieren.

Aber der Reihe nach. Was ist nun die Tragik der Allmende (wie der Titel auf Deutsch übersetzt lautet)? Das folgende Beispiel der Commons kennt vielleicht der eine oder andere, es ist sozusagen Hardins „Klassiker“: Man stelle sich ein frei zugängliches Feld vor, dass über eine begrenzte Fläche zum Grasen verfügt. Ein Feld eben, wie es in ländlichen Regionen tausendfach vorkommt. Nun gibt es eine Gruppe von Menschen, für die das Feld eine Ressource ist. Jeder Hirte, so Hardin, will so viele seiner Schafe wie möglich auf einem räumlich begrenzten Feld weiden lassen. Mit jedem zusätzlichen Schaf bringt der individuelle Hirte die Ressource „Feld“ in Bedrängnis – bis sie schließlich so überbewirtschaftet wird, dass kein einziges Schaf mehr auf ihr weiden kann. Der finale Akt der Tragödie ist, dass alle Hirten somit ihre lebenswichtige Ressource (Schaf) verloren haben, weil niemand sich verantwortlich für den Erhalt des Feldes sieht. Die Logik hinter dieser Tragödie lässt sich auf andere Ressourcen, zu denen theoretisch alle Zugang haben, erweitern: Edelmetale, Klima oder Trinkwasser.

Rationale Tragik

Hardin folgte in diesen Szenarien strikt dem etablierten Menschenbild des Homo oeconomicus’: Die einzelnen Hirten handeln genau dann rational, wenn sie es verstehen, sich einen tatsächlichen Mehrwert mit den begrenzten und verfügbaren Ressourcen zu verschaffen. Jedes weitere Schaf, das ein Hirte durchbringt, hat somit einen echten zusätzlichen Nutzwert. Handeln aber alle Beteiligten rational, stirbt die Ressource. Daher sprach Hardin auch explizit von einer „Tragik“. Denn gerade weil (ökonomisch) rational gehandelt wird, ist die Ressource ja in Gefahr: Ihr Ende ist besiegelt, es ist unausweichlich.

Hardin ging davon aus, dass Menschen ohne die Intervention des Staates beziehungsweise ohne das Regelwerk der Privatisierung eine frei öffentlich-zugängliche Ressource über einem nachhaltigen Gleichgewicht hinaus bewirtschaften. Die Privatisierung würde im Fall der Hirten eine Aufteilung der Ressource in gleichwertige Teile bedeuten. So gibt es nicht mehr das gemeinschaftlich-öffentliche Feld, sondern Peters, Pauls, oder Paulinas privates Feld. Eine gemeinschaftliche Einigung der Hirten untereinander, meinte Hardin, ohne eine privatisierende Aufteilung der Ressource oder eine staatliche Intervention kann es nicht geben.

Ohne einer geeigneten Ordnung lässt sich kaum nachhaltig wirtschaften. (c) Samuel Zeller

Doch wie es ein echter wissenschaftlicher Thriller so will, lag Hardin spektakulär falsch. Seine Theorie der Tragik der Allmende wurde über Jahrzehnte hinweg empirisch falsifiziert und zwar von der Amerikanerin Elinor Ostrom. Für ihre Arbeit zu den Commons erhielt sie 2009 als erste Frau den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Ostrom führte auf der ganzen Welt Feldstudien über das Verhalten von Menschen gegenüber frei zugänglichen Ressourcen durch. Egal ob die Fischereien von Maine, die Bergdörfer der Schweiz oder Japan, nepalesische Wälder oder spanische Bewässerungssysteme, Menschen schaffen es überall, sich dezentralisiert und unabhängig externen Kontrollsysteme Regeln zu geben, um ihre Ressourcen nachhaltig zu bewirtschaften.

Grundlegende Eigenschaften des Commoning

Aber was macht erfolgreiches Commoning aus? Das Commoning ist eine bestimmte Art des Wirtschaftens, die weder die „für-jeden-das-Gleiche“-Utopien des Kommunismus abbilden noch in irgendeiner anderen Art und Weise exotisch-archaischen Gesellschaftsformen zugeordnet werden können. Es gibt aber ein paar grundlegende Unterschiede zur Wirtschaftslogik der Privatisierung.

Erstens gibt es im Commoning niemals einen Exklusivbesitz auf eine Ressource, sondern immer einen Mitbesitz. Ich kann also nicht einfach mit einem Teil der Ressource machen, was ich will – wie das zum Beispiel in gewisser Weise mit meinem exklusiven Eigentum möglich ist, sondern ich bin für den Teil des Mitbesitzes der Ressource verantwortlich. Die Verantwortung ist meistens, nicht immer, proportional nach der Nutzung gegenüber der Ressource geregelt.

Zweitens ist ein ganz entscheidender Faktor bei jeder Form der Allmende der Prozess, in dem die Regeln der Nutzung festgelegt werden. Die Privatisierung ermöglicht es, demjenigen, der die Ressource besitzt – meistens und im gewissen Maße – die Nutzungsregeln dieser Ressource zu bestimmen. Dies ist fundamental anders in Allmenden. Der Regelkanon muss von allen Beteiligten, also allen Mitnutzern der Allmende, partizipativ und in mehreren Schritten erstellt werden. Entscheidend ist hierbei auch nicht, sogenannte „Best-Case-Szenarien“ heranzuziehen und möglichst getreu zu kopieren und zu implementieren. Entscheidend ist, dass es für die Ressourcenverwaltung des Commoning kein Patentrezept gibt und auch nicht geben soll. Die Regeln zur Verwaltung der Ressource muss immer an den Ort mit seinen Eigenartigkeiten, seinen natürlichen Gegebenheiten, seiner Historie angepasst werden. Daher hat Ostrom auch nie versucht, einen Regelkanon für Allmenden zu entwerfen, sondern prinzipielle Bausteine, die die fundamentalen Bedingungen spezifizieren.

Die Hochgebirgsweiden im schweizerischen Törbel

Einer der ersten Gemeinschaften, die Ostrom in ihren Feldstudien analysierte, waren die Bewohner des Hochgebirgsdorfs Törbel im Kanton Wallis der Schweiz. Der niedrigste Punkt des Dorfes befindet sich auf etwa 700, der höchste auf knapp 3.000 Meter. Das Dorf hat also eine spezielle topologische Anbaustruktur – entlang des Bergstiegs zwischen Vor- und Hochalpen.

Im schweizerischen Tröbl gilt auch heute noch die sogenannte „Winterregel“. (c) Ivan Louis

Ostrom untersucht zunächst das soziale Gefüge der Dorfgemeinschaft. Auffallend ist die Übereinstimmung der einzelnen Bewohner hinsichtlich der Zukunft des Dorfes: es besteht ein allgemein großes Interesse, das Dorf für die nächsten Generationen lebenswert zu konservieren. Die meisten Bewohner leben von der Viehzucht und versorgen sich heute noch teilweise selbst. Ab etwa 2.000 Metern beginnen die Hochalpen, dessen Weiden in der heißen Jahreszeit für den Weidegang des Viehs genutzt werden können. Dieser Teil des Dorfes ist nicht privatisiert und somit das Fundament der Allmende in Törbel. Hier würde sich nach Hardin nun die Tragik entfalten, denn jeder Bewohner würde nun versuchen, das Maximum an Weidefläche für sich herauszuschlagen. Nicht in Törbel. Denn Dank der 1517 festgelegten „Winterregel“ von Törbel ist die Anzahl des Viehs, die jeder Bauer auf die Alm bringen darf, auf die Anzahl reglementiert, die er selbstständig durch den Winter bringen kann. Der Schweizer Ethnograph Gottfried Stebler, der bereits in Tröbel geforscht hatte, berichtet 1922 von zusätzlichen Verpflichtungen, derer sich ein Bauer bei einer bestimmten Zahl Vieh annehmen muss: Ab der siebten Milchkuh ist eine Abgabe pro Kuh zu Zahlen sowie einen Tag Arbeit pro zusätzlicher Kuh für die Restaurierung und Instandhaltung der Weide-Infrastruktur zu leisten. Törbel hat heute auch noch eine Alpenkommission, die sich um die regelmäßigen Verwaltungsaufgaben kümmert, wie zum Beispiel die Kostenverteilung der Allmende, die Messung der Milchquantität pro Kuh oder die Verteilung des Käses pro Milchmenge einer Kuh.

Ostroms Grundprinzipien einer Allmende

Am Beispiel Törbels kann man auch die polyzentrischen Strukturen der Organisation der Allmende erkennen, die Ostrom als Grundprinzip der Gemeingüterverwaltung sieht. Eine Allmende wird über verschiedene – dem kulturellen und sozialen Gegebenheiten des Ortes entsprechenden – hierarchischen Strukturen aufgebaut. In Törbel zum Beispiel wählt jeder Nutzer die Alpkommission als eine Regulierungsinstanz, entledigt sich damit aber nicht jeglicher Verantwortung gegenüber der Allmende. Wie Ostrom in ihren anderen Studien immer wieder feststellte, ist eine Allmende alles andere als ein „free-for-all“-Ressourcenraum. Im Gegenteil: Sie ist von den Beteiligten sehr stark reglementiert. Ostrom formulierte insgesamt elf Grundprinzipien der Allmende:

  1. Bedeutung: Die Allmende ist der dritte Weg zwischen Privatisierung und Verstaatlichung.
  2. Grenzen: Eine Allmende ist kein Selbstbedienungsladen. Es gibt eine Grenze zwischen denen, die sie nutzen können, und den Ausgeschlossenen.
  3. Regeln: Es gibt kein allgemeines Gesetz der Allmende. Sie sind an den Ort der Allmende angepasst.
  4. Anerkennung: Die Allmende funktioniert, wenn staatliche Institutionen sie und ihre Regeln anerkennen.
  5. Ressourcen: Die Allmende baut Ressourcen für die geteilte Nutzung auf.
  6. Nutzen: Gemeinressourcen ermöglichen den Nutzern mehr Auswahl, Information und Verfügungsmacht.
  7. Kosten: Gratis ist eine Lüge. Die Allmende kostet. Sie muss aufgebaut, unterhalten, geregelt, und überwacht werden. Die Kosten werden proportional zur Verteilung des Nutzens aufgeteilt. Keiner nimmt kostenlos beliebig viel mit.
  8. Überwachen: Die Einhaltung der Regeln und der Zustand der Ressourcen müssen kontinuierlich überwacht werden.
  9. Konflikt: Streit und Auseinandersetzungen werden schnell, günstig und direkt gelöst. Die Regeln werden gemeinsam abgemacht.
  10. Strafe: Wer Regeln verletzt, wird bestraft. Die Strafen reichen bis zum Ausschluss aus der Allmende.
  11. Ende: Für den, der nicht mitwirken kann oder will, muss der Ausstieg geregelt sein.

(Aus der 2017 herausgegebenen Sonderausgabe der „Hochparterre“  zum Thema „Sharing“)

Grenzen der Allmende

Ist die Allmende nun eine Wirtschaftsform, die unseren Planeten besser und nachhaltiger macht als die Privatisierung – und das grundsätzlich? Nein. Für eine erfolgreiche Allmende müssen bestimmte Faktoren zusammenkommen. Da wäre zum Beispiel die überschaubare Anzahl an Akteuren. Zwar sagt Ostrom explizit, dass die Nutznießer einer Allmende allein durch ihr gegenseitiges Interesse an der Ressource verbunden sein müssen, es wird aber auch immer wieder die Bedeutung der sozialen Beziehungen, das Vertrauen untereinander, hervorgehoben. In einer Welt der technologischen Infrastrukturen, die Menschen die Möglichkeit geben spontan wegzuziehen oder sich global und digital auszutauschen, ist es fraglich, ob die Allmende sich festigen und ihre Stärke ewahren kann. Grundsätzlich zeigt sie aber eines ganz sicher: der Mensch ist nicht notwendigerweise ein Homo oeconomicus, sondern ein kooperatives Wesen, dass eine Ressource nachhaltig und balanciert für die künftigen Generationen konservieren kann.


(c) Titelbild: Rod Long

Design-Build-Bewegung

16. Mai 2019 By

Für mehr Partizipation in der Architektur

Früher war alles einfacher. Auch das Bauwesen. Da gab es einen Baumeister, der in Personalunion alles geleistet hat, vom Entwurf über die Statik bis hin zur Beaufsichtigung des Bauvorhabens. Im Laufe der Zeit und durch die Industrialisierung veränderte sich dieser Beruf zunehmend. Die Tätigkeit wurde immer komplexer und Experten mussten zu Rate gezogen werden. Heraus bildete sich dann der Beruf des Architekten, der irgendwann nur noch für die Entwürfe zuständig war – um alles andere kümmern sich nun Statiker und Bauingenieure. Das Verstehen des realen Bauprozesses war damit für den Architekten nicht mehr so wichtig – deswegen wird dieser auch in der Ausbildung nur oberflächlich beleuchtet und das Architekturstudium bleibt damit sehr theoretisch. Aus vielen Ideen aus der Studienzeit werden zwar Entwürfe und Modelle, aber die landen oft in irgendeiner Schublade und bleiben ein Fantasieprodukt. Ob die entworfenen Wolkenschlösser überhaupt umsetzbar wären, spielt dann keine große Rolle mehr. Die Design-Build-Bewegung will das ändern und die Studierenden auch praktisch in die Umsetzung von Bauvorhaben miteinbeziehen.

Jakob Bahret, Architekturstudent aus München, hat zu Beginn seines Studiums bei einem Design-Build-Projekt mitgemacht – bei der Assembly Hall Kibwigwa, eine Schulaula in Tansania. Der Bereich Design-Build ist an der Technischen Universität in München seit einigen Jahren als Wahlfach Teil des Curriculums. Kommt dieses Thema in Deutschland und in anderen Ländern erst seit einigen Jahren auf, so ist es in den USA schon viel früher angewendet worden.

Die Assembly Hall Kibwigwa, eine Schulaula in Tansania. (c) Jakob Bahret

Das Rural Studio der Universität Auburn in Alabama, USA, setzt dieses Konzept beispielsweise schon seit den 90er Jahren um. Studierende entwarfen Projekte und verwirklichten diese gemeinsam mit den Anwohnern vor Ort. Konkret in diesem Fall waren das Projekte von Kirchenbau bis zur Brückenüberdachung im südlichen Ende von Alabama, eine arme Region in der vor allem Farmer leben. Oft werden die Design-Build-Projekte auch in Entwicklungsländern durchgeführt. Es besteht bei Projekten dieser Art immer, wie allgemein in der Entwicklungszusammenarbeit, die Gefahr, dass man westliche Ideen durchsetzen will, ohne sie genügend zu hinterfragen. Doch das sollte eben nicht der Fall sein. Im Austausch mit den Menschen vor Ort wird Wissen transferiert, neue Techniken – auf beiden Seiten – gelernt und gleichzeitig viel diskutiert und ausprobiert. Für die Umsetzung werden Ressourcen vor Ort genutzt, unter anderem auch Upcycling-Materialien. Das Ergebnis hängt natürlich auch von den Fähigkeiten der Studierenden und der Personen vor Ort ab.

So jedenfalls die Theorie. In der Praxis sieht das dann meist doch etwas anders aus. Als 2014 das Projekt der Assembly Hall Kibwigwa der TU München startete, war Jakob Bahret Teil der zweiten Gruppe, die an dem Gebäude arbeitete. Beim ersten Besuch waren die Studierenden nicht fertig geworden, wie es des Öfteren bei Design-Build-Projekten der Fall ist. Ein Grund dafür war in diesem Fall die komplizierte Dachstruktur. „Das wurde nach dem Zollingerdach gebaut. Hier hat man relativ kleine Holzteile, die man dann zu einem Bogen miteinander verschränkt. Damit diese Rundung entsteht, braucht man aber einen bestimmten Winkel. Den nicht nur theoretisch, sondern praktisch hinzubekommen, ist ziemlich schwierig. Vor allem für Leute, die keine Werkstatterfahrung haben“, sagt Jakob, der selber vor dem Studium eine Schreinerlehre absolviert hat und einer der wenigen mit praktischer Erfahrung in der Gruppe war. Gleichzeitig ist die Erfahrung für die Studierenden wichtig, damit sie sehen, dass nicht alles, was auf dem Blatt Papier gut aussieht, auch einfach umzusetzen ist.

Das Zollingerdach sieht toll aus – braucht aber eine sehr präzise Arbeitsweise und vor allem auch die richtigen Werkzeuge.  (c) Jakob Bahret

Steve Badanes, Jim Anderson und John Ringel – auch bekannt als die „Godfathers of Design-Build“ – legten für ihr Studio „Jersey Devil Design Build“  schon früh gewisse Ziele fest, die ein Design-Build-Projekt verfolgen sollte, beziehungsweise erreichen sollte. Ganz weit vorne steht dabei das Erleben eines kollaborativen und konsensgetriebenen Designexperiments. Durch den Bauprozess sollen die Werte des kollaborativen Denkens erlernt und vor allen verstanden werden – so soll dann auch die Erfahrung des Bauens das Wissen für zukünftige Designs erweitern. Während dieses Prozesses geht es außerdem darum, dass sich die Studierenden miteinander austauschen, diskutieren und gegenseitig ihre Ideen präsentieren. Das Ziel ist es, ein kollektives Design für das Projekt zu entwerfen. Durch die Zusammenarbeit – auch mit der lokalen Bevölkerung – sollen die Kommunikationsfähigkeiten der Studierenden verbessert werden und Toleranz geübt werden. Der Plan ist, dass am Ende eines solchen Projektes, die Studierenden ihre Erfahrungen in ihre zukünftigen Arbeiten in Designstudios mit einfließen lassen und sich vermehrt auf Nachhaltigkeit, Dauerhaftigkeit, Komfort und Kontextualität konzentrieren.

Wie läuft aber eigentlich so ein Design-Build-Projekt ab?

Die Vorbereitung

Ein Design-Build-Projekt steht und fällt mit der Motivation der Studierenden. Denn sie müssen bereit sein viel Zeit und teilweise eigenes Geld (wie Reisekosten) zu investieren – je nach Länge des Projekts kann das sogar dazu führen, dass sich das ganze Studium verzögert. Denn die Zeitplanung ist nicht pauschal festzulegen. Je nach Situation vor Ort kann so ein Vorhaben wenigen Monaten bis hin zu mehreren Jahren dauern. Auch wenn hier oft nachfolgende Studierende weiter an dem Projekt arbeiten.

Bereits vor seinem Studium, hat Jakob ein Freiwilligenjahr in Tansania absolviert und als er bei seiner Bewerbung für das Architekturstudium das Design-Build-Projekt der Assembly Hall Kibwigwa entdeckte, bot er seine Hilfe an. Vor der Abreise der ersten Gruppe gab er an einem Abend eine kleine Einführung in Kultur und Sprache des Landes. „Eines der Probleme ist meiner Meinung nach, dass bei solchen Projekten das Land oft eine zu geringe Rolle spielt – also wie die Situation vor Ort ist und auf welche kulturellen Schwierigkeiten man treffen kann“, sagt er. Eigentlich war auch bei diesem Bau nur eine Reise geplant. Am Ende gab es eine zweite Gruppe – bei der auch Jakob dabei war – und sogar noch eine dritte, die aus Experten bestand, die das Dach schlussendlich fertig gestellt haben. Die Komplexität des Daches und die wenige Erfahrung der Studierenden wurden hier einfach unterschätzt.

Genauso wie sie Zeitplanung sollte die Finanzierung des Projekts bereits vor Beginn geklärt sein. Sonst besteht die Gefahr, dass das Projekt am Ende eventuell gar nicht fertig gestellt werden kann oder es zu unnötigen Verzögerungen kommt. Gerade wenn die Projekte auf anderen Kontinenten, wie Afrika oder Mittel- und Südamerika stattfinden, muss der Bauleiter vorher vor Ort gewesen sein und sich mit den Menschen und der Situation vertraut gemacht haben. Auch der Entwurf sollte idealerweise mit der Bevölkerung diskutiert werden, da sie das Gebäude am Ende nutzen sollen. Hilfe kann man sich hierbei auch bei anderen Organisationen in dem jeweiligen Land holen. Das ist auch bei eventuellen Sprachbarrieren eine Erleichterung.

Das Studio Mzamba – ein fortlaufenden Bauprojekt eines Schuldorfs im Südafrikanischen Mzamba. (c) Markus Dobmeier

Der Bau

Am Ende kann man noch so gut planen, aber, dass wirklich alles klappt, ist eher die Ausnahme als die Regel. Vor allem wenn die Projekte in anderen Ländern stattfinden, kann man viele Eventualitäten nicht vorhersehen. Da gibt es teilweise klimatische Veränderungen, Materialengpässe, politische Umbrüche und Umweltkatastrophen. Neben all den äußerlichen Faktoren gilt es zu bedenken, dass auch die fremde Kultur eine große Rolle spielt: das Verständnis von Pünktlichkeit und Absprachen, die Rollenaufteilung und fachliche sowie sprachliche Differenzen. Das alles kann – auch innerhalb der Studierendengruppe – zu langen Diskussionen führen. „Wenn ich über die Baustelle gelaufen bin, habe ich viele Dinge gesehen, die noch zu tun sind und andere haben sich abends beschwert, dass ihnen keiner gesagt hat, was sie hätten machen sollen. Es war für manche schwierig ihre Rolle zu finden“, sagt Jakob. Wenn die Bauphase länger dauert und verschiedene Gruppen mitarbeiten – wie bei dem Schulaula-Projekt in Tansania – kann außerdem die Einarbeitung mehr Zeit in Anspruch nehmen.

Auftauchende Probleme können aber auch als Chance gesehen werden. Als Chance die eigene gedankliche Flexibilität zu erweitern, nach neuen Lösungen zu suchen, sich auf neue Dinge einzulassen und zu improvisieren. Alles Eigenschaften, die in vielen anderen Bereichen ebenfalls angewandt werden können und den zukünftigen Architekten von Nutzen sein werden. „Wir sind alle auch an unsere Grenzen gegangen und haben teilweise elf Stunden auf der Baustelle gearbeitet. Aber dabei haben alle auch viel gelernt und am Ende haben wir Studierende von dieser Erfahrung am meisten profitiert“, sagt Jakob.

Die Nachbereitung

Ob ein Projekt wirklich erfolgreich war, kann man oft erst nach einigen Jahren sagen. Wird das Gebäude noch genutzt? Wurde es zweckentfremdet? Hat das Projekt vielleicht auch weitere Kreise gezogen, wurde es nachgemacht oder erweitert? Wie war die Zusammenarbeit vor Ort und was könnte man besser machen? „Eine kritische Nachbesprechung gab es bei uns leider nicht – auch wenn ich mir das gewünscht hätte“, meint Jakob.

Für die Studierenden, die mitgemacht haben, haben die Design-Build-Projekte viel verändert – auch wenn es immer Verbesserungsbedarf gibt, ob es nun die Einarbeitungszeit ist, die Vorbereitung oder das Einbeziehen der Anwohner vor Ort.

Das Projekt Traudi von Innen. (c) Petra Panna Nagy

 

TRAUDI – ein Wohnheims Projekt in Wien

Ein Design-Build-Projekt in Europa ist das TRAUDI in Wien. Im Zuge des Home Not Shelter! Projekts der Hans Sauer Stiftung im Herbst 2015 haben Studierende der Technischen Universität in Wien, der TU München und der Universität Hannover gemeinsam mit Geflüchteten ein bereits bestehendes Gebäude in Wien zu einem Studentenwohnheim umgebaut. Die Studierenden haben die Basis vorbereitet und dann hieß es „sich trauen“ und selber mitanpacken. Die Zwei- bis Vierbettzimmer konnten und wurden selber von allen Beteiligten mitgestaltet. Dadurch hat sich bereits im Anfangsprozess eine Gemeinschaft gebildet – anders, als wenn alle nur in das fertige Haus gezogen wären. Durch das aktive Mitbauen haben sich die zukünftigen Bewohner gleich selber mit dem Haus und den Räumen identifizieren können. Daraus erschließt sich auch ein anderer Umgang, nicht nur mit den anderen Erbauern, sondern auch mit den Räumen und den Möbeln selbst, auf die somit besser achtgegeben wird. In das von der Caritas betriebene Wohnheim HAWI zogen dann 143 Menschen ein: 68 Studierende, 30 Geflüchtete und 45 unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Im Juni 2018 musste das erfolgreiche Projekt aber früher beendet werden als gedacht. Da durch die Schließung der Balkanroute nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Österreich kommen, bekommt die Caritas keine Gelder mehr, um das Wohnheim weiter zu betreiben. Dies zeigt, dass erfolgreiche Projekte auch in Industrieländern von äußeren Faktoren und politischen Entwicklungen abhängig sind.

Wo geht die Reise hin, relaio?

12. April 2019 By

relaio entwickelt sich weiter und wird die Onlineplattform für gesellschaftlichen Wandel.

relaio verändert sich und erscheint jetzt nicht nur in neuem Design, sondern stellt sich auch inhaltlich breiter auf. Bisher war nachhaltiges Unternehmertum das Hauptaugenmerk von relaio: Soziale Innovationen und nachhaltige Produkte, die eine Alternative zu gegenwärtigen Konsum- und Lebensweisen bieten und Aufmerksamkeit für Probleme und gesellschaftliche Missstände schaffen. Doch oft können sie nur einen kleinen Beitrag dazu leisten, das dahinterliegende Problem zu lösen. Nachhaltige Innovationen verbreiten sich in der Gesellschaft oft nicht weit genug, um sich als echter Gegenentwurf zu etablieren und alte, nicht nachhaltige Praktiken werden nicht abgelegt – die Probleme bleiben bestehen. Auch viele Gründer*innen, die eine Menge Herzblut in ihre Projekte stecken und den persönlichen Profit dahinter weit zurückstellen, stehen vor dieser Herausforderung. Ein gutes Beispiel hierfür sind Einwegkaffeebecher. Obwohl es nachhaltigere Alternativen gibt, nämlich den eigenen Becher mitzubringen oder Pfandsysteme mit Mehrwegbechern, ändert sich wenig an der Menge der weggeworfenen und schwer recyclebaren to-go Becher. Auch gehen die nachhaltigen Komponenten der Innovation oft in bestehenden technischen und ökonomischen Dynamiken unter: Produkte, die die Welt ein Stück besser machen sollen, gekauft aus den besten Absichten, mögen vielleicht ökologischer oder sozialer sein als konventionelle Massenware. Aber im bestehenden Wirtschaftssystem werden sie meist genauso nur konsumiert. Dies geschieht zum Beispiel oft mit nachhaltig und fair produzierten Klamotten, die dann genau wie die Fast Fashion nach einer Saison im Schrank hängen bleiben. Dabei hätten viele Innovationen sehr wohl das Potential, etwas zu ändern und Probleme nachhaltig zu lösen. Doch dafür müssten sich gewisse gesellschaftliche Grundvoraussetzungen ändern.

Warum brauchen wir gesellschaftlichen Wandel?

Das mag auf den ersten Blick zwar nicht als die oberste Priorität erscheinen, besonders wenn es sich um ökologische Probleme handelt, die vermeintlich nach einer technischen Herangehensweise verlangen. So wie das zum Beispiel CO2-Emissionen sind, die scheinbar gut durch Ausgleichsmaßnahmen kompensiert werden können. Um zu verstehen, warum gesellschaftliche Veränderungen notwendig sind, ist deshalb zunächst ein Blick zurück hilfreich. Wir befinden uns gerade in einem Epochenwechsel, dem Beginn des Anthropozäns, in dem die Menschheit erstmals in ihrer Geschichte dabei ist, globale geoökologische Prozesse selbst zu beeinflussen, während sie zuvor einseitig der Beeinflussung durch die natürliche Umwelt unterworfen war. Zwei große Transformationen haben die Menschheit dorthin geführt, wo sie jetzt ist: die neolithische Revolution und die industrielle Revolution. Der Wandel zur Agrargesellschaft und schließlich zur Industriegesellschaft hat die menschliche Existenz zunehmend von den Begrenzungen der Natur emanzipiert und weiten Teilen der Menschheit ein Leben jenseits des bloßen Überlebens ermöglicht. Diese beiden großen Umbrüche waren weitgehend ungesteuerte Ergebnisse evolutionären Wandels, in denen neue technologische und ökonomische Möglichkeiten den Takt vorgaben – mit weitreichenden Folgen für die Gesellschaft. Im Kontext der industriellen Revolution kam es zu einem Prozess, den der ungarisch-österreichische Wirtschaftswissenschaftler Karl Polanyi bereits 1944 als „Die große Transformation“ bezeichnet hat. Damit bezeichnete er die stetig fortschreitende Verselbstständigung und Entbettung des Wirtschaftssystems gegenüber der Gesellschaft und den Regeln des sozialen Zusammenlebens. Dadurch, dass Geld, Arbeit und Boden als Waren kapitalistisch in Wert gesetzt und am Markt gehandelt werden, sind sie traditionellen sozialen Kontrollmechanismen entzogen. Die stetig voranschreitende technologische und wirtschaftliche Entwicklung wurde so mit einer wachsenden sozialen Ungleichheit und einem individuellen Gewinnstreben ohne Rücksicht auf den Rest der Gesellschaft oder die Umwelt verbunden. Die zeitgleich entstehenden Nationalstaaten haben es dabei nicht geschafft, diese Entwurzelung abzudämpfen, sondern eher sogar aktiv vorangetrieben, so dass am Ende dieser Entwicklung eine Marktgesellschaft steht, in der Wirtschafts- und Konsumweisen weltweit soziale und ökologische Probleme verursachen, aber nicht dem Wohl der Menschheit dienen. Dies bedeutet mitnichten, dass früher alles besser gewesen wäre oder es frühere soziale Kontrollmechanismen geschafft hätten, soziale Gerechtigkeit für die Bevölkerung zu bringen, aber sie hielten die Kräfte des Marktes im Griff. Um eine Wende in Richtung Nachhaltigkeit zu erzielen, ist es daher notwendig, die Leitidee in den Vordergrund zu stellen, ein gutes Leben für die gesamte Weltbevölkerung zu organisieren. Dazu müssten Wirtschaft und Technologie wieder in einen gesellschaftlichen Ordnungsrahmen eingebettet werden, der es aber ermöglicht, soziale Gerechtigkeit zu schaffen und einen gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben.

 

relaio ist ein Projekt der Hans Sauer Stiftung

Doch wie kann eine Gesellschaft aussehen, die ein gerechtes Leben für alle schafft und dabei die Belastungsgrenzen unseres Planeten achtet? Welche Werte, Praktiken und Technologien müssen sich ändern, damit wir die Welt und die Gesellschaft, in der wir leben, nachhaltig gestalten können? Und wer sind die Akteure, die dazu beitragen können, dass sich in unserer Gesellschaft ein Wandel in Richtung Nachhaltigkeit im ganzheitlichen Sinne vollzieht? relaio möchte mit der Erweiterung des Themenfeldes dazu beitragen, Antworten auf diese Fragen zu finden und einen gesellschaftlichen Wandel aktiv vorantreiben. Dazu vermitteln wir auf unserer Plattform nicht nur Wissen über gesellschaftliche Transformationen und Nachhaltigkeit, sondern liefern unter anderem auch Ansätze, wie Wohnen oder Bildung in Zukunft aussehen könnte, setzen uns mit alternativen Wirtschaftsweisen auseinander oder diskutieren politische Konzepte und demographische Entwicklungen. Außerdem stellen wir Akteure vor, die aktiv Gesellschaftlichen Wandel vorantreiben und zeigen Möglichkeiten, wie man selbst Wandel mitgestalten kann.

Betreiber und Initiator von relaio ist die Hans Sauer Stiftung, die im Jahr 1989 von dem Erfinder und Unternehmer Hans Sauer gegründet wurde. Die weitgehend operativ arbeitende Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, gezielt technische und soziale Innovationen zu fördern, ethische, ökologische und interkulturelle Fragestellungen in den Innovationsprozess zu integrieren und die Entwicklung von Kompetenzen für verantwortungsbewusstes Denken und Handeln zu fördern. Hans Sauer war der Meinung, dass Innovationen generell aus einer sozialen und ethischen Motivation heraus entstehen sollten und dabei von spürbaren gesellschaftlichen und ökologischen Nutzen sein sollen. relaio will mit seiner inhaltlichen Entwicklung dieser Sichtweise Rechnung tragen.


(c) Alle Bilder Sebastian Preiß

Was genau ist eigentlich eine Stiftung?

10. April 2019 By

Auch wenn die meisten meinen zu wissen, was eine Stiftung ist, birgt das Stiftungswesen doch mehr Besonderheiten als man denkt.

Stiftungen gehören in Deutschland zum Dritten Sektor oder auch Nonprofit-Bereich und können somit weder dem staatlichen, noch dem erwerbswirtschaftlichen Sektor zugeordnet werden. Jedoch halten sie in Deutschland eine sehr wichtige Funktion inne, denn sie übernehmen gemeinnützige Aufgaben, die sonst keiner leisten will oder kann. Das Stiftungswesen ist sehr viel größer, als den meisten bewusst ist und wird weiter wachsen, so zumindest die Prognose des Bundesverband Deutscher Stiftungen. Die meisten Menschen haben in Ihrem Alltag viele Berührungspunkte mit Stiftungen, wie beispielsweise mit der Stiftung, die das Stadtmuseum betreibt, die Universität unterstützt, Stipendien vergibt, Nachbarschaftsprojekte fördert oder ganz einfach auch mit der Stiftung Warentest.Trotzdem wissen viele nicht wirklich, wie das Stiftungswesen funktioniert und welche gesetzlichen Regelungen und steuerlichen Ausnahmen für Stiftungen gelten.
In Deutschland gibt es etwa 21.000 Stiftungen privaten Rechts, die Hälfte davon ist nicht älter als 20 Jahre. Seit 2001 hat sich ihre Anzahl verdoppelt. Sie haben durchschnittlich einen Ertrag von 20.000 Euro. Die meisten dieser kleinen Stiftungen werden von Ehrenamtlichen geführt.

Das geschätzte Gesamtvermögen aller Stiftungen liegt bei etwa 100 Milliarden Euro – daraus werden etwa fünf Milliarden Euro im Jahr erwirtschaftet und für gemeinnützige Zwecke ausgegeben. Dazu kommen zwölf Milliarden Euro zusätzlich durch, zum Beispiel, eingeworbene Spenden, Fundraising oder sonstige Aktivitäten. Im Vergleich dazu: Insgesamt 139,18 Milliarden Euro umfasste der Etat des Ministeriums für Arbeit und Soziales in 2018. 

Elemente der Stiftungsarbeit

Jede Stiftung besteht aus drei Elementen: dem Stiftungszweck, dem Stiftungsvermögen und dem der Stiftungsorganisation. Gesetzliche Regelungen dazu findet man im §§ 80ff BGB und in Teilen des Vereinsrechts. Um eine Stiftung zu gründen muss der Stifter seinen Willen diese zu
gründen zum Ausdruck bringen. Er verpflichtet sich ein bestimmtes Vermögen einzubringen, bestimmt die Organe, die für die Stiftung handeln sollen und verfasst eine Satzung, die das alles beinhaltet. Eine Beispielsatzungen findet man hier. Das Stiftungsgeschäft muss dann von der Stiftungsbehörde anerkannt werden. So erlangt die Stiftung den Status einer juristischen Person. Sie hat keinen Eigentümer, sondern gehört sich selbst.

Der Stiftungszweck
Jede Stiftung wählt einen oder mehrere Zwecke, die in der Satzung festgelegt werden. Die möglichen Stiftungszwecke sind vorgegeben, man findet sie in er Abgabenordnung (AEAO § 52). Beispiele dafür sind die Förderung von Wissenschaft und Forschung, die Förderung von Kunst und Kultur, die Förderung des Tierschutzes oder die Förderung der Heimatpflege und Heimatkunde. Insgesamt kann man aus 25 Zwecken wählen. Eine Stiftung kann mehrere Zwecke verfolgen, muss diese aber auch alle jedes Jahr bedienen. Rund die Hälfte der deutschen Stiftungen agieren in den Bereichen Gesellschaft, Bildung, Soziales und Umwelt.
Der Stiftungszweck kann nur dann nachträglich geändert werden, wenn der ursprüngliche Zweck nicht mehr erfüllt werden kann, wie zum Beispiel bei der Renovierung eines Gebäudes, welches irgendwann fertig gestellt ist oder wenn die Zielgruppe der Stiftung nicht mehr existent ist.

Das Stiftungsvermögen
Das Stiftungsvermögen wird immer für die Ewigkeit angelegt. Das Stiftungskapital darf nicht verbraucht, sondern nur benutzt werden, um Ertrag zu generieren. Deshalb ist der Wert der Stiftung nicht so wichtig, wie der Ertrag den sie erwirtschaftet. Sie genieren eigene Einnahmen durch die Verwaltung ihres Kapitals. Deshalb muss man auch mindestens 50.000 Euro aufbringen, um eine Stiftung gründen zu können. Dies ist nicht gesetzlich verankert, aber die Stiftungsaufsichtsbehörde sagt zu Recht, dass der Ertrag, der aus Summen unter 50.000 Euro generiert werden kann, zu klein ist, um erfolgreiche Stiftungsarbeit zu leisten und die Verwirklichung des Stiftungszwecks zu gewährleisten. Stiftungsvermögen ist nicht immer automatisch Geld, es können auch ganze Unternehmen sein, Wertgegenstände wie Kunstwerke oder Immobilien, aber auch immaterielle Werte wie Patente oder Marken. Gegenwärtig investieren die meisten Stiftungen in Unternehmensanleihen, sowie dividendenstarken Aktienwerte. Für kleine Stiftungen eignen sich vor allem Pooling-Lösungen, um (Verwaltungs-)Kosten zu sparen. Stiftungen müssen ihre Mittel zeitnah für den Stiftungszweck ausgeben. Selbst Rücklagenbildung ist nur eingeschränkt möglich. Dabei darf der Stifter selbst und seine Familie
keine Mittel erhalten. Deshalb sollte sich der Stifter, der zu Lebzeiten stiftet, gut überlegen, ob er sein gesamtes Vermögen investiert oder doch einen Teil zurück hält, um seine eigene Versorgung und die der Familie zu gewährleisten, denn eine Stiftungsauflösung ist nicht möglich.

Eine große Herausforderung stellt die Erwirtschaftung von Erträgen und Einnahmen in Niedrigzinsphasen dar. Bei den momentanen Zinslagen ist es für jede Stiftung sehr schwierig, überhaupt so viel Ertrag zu erwirtschaften, dass nach Verwaltungskosten noch etwas übrig bleibt. Aus diesem Grund kommen sie in diesen Zeiten auch in die Situation, dass sie Tätigkeiten zurück schrauben oder sogar Mitarbeiten entlassen müssen. Viele Stiftungen versuchen aber das Problem auch anders zu lösen, betreiben Fundraising oder sammeln Spenden, um ihr Budget so auf andere Weise zu erhalten. Stiftungen sind steuerbegünstigt, sie zahlen keine Ertrags- oder Erbschaftssteuern, sie sind aber umsatzsteuerpflichtig. Jede Stiftung wird sowohl durch die Stiftungsaufsichtsbehörde, die es in jedem Bundesland gibt, sowie wie das Finanzamt, beaufsichtigt und kontrolliert.

Stiftungsorganisation
Stiftungen sind ganz unterschiedlich aufgebaut. Meist jedoch gibt es ein Kuratorium oder Stiftungsrat, einen oder mehrere Vorstände und Mitarbeiter. Wenn der Stifter noch lebt nimmt er oder sie meist die Rolle des Kuratoriumsvorsitzenden ein. Unterscheiden kann man auch zwischen fördernden und operativen Stiftungen. Fördernde Stiftungen leisten meist rein finanzielle Unterstützung für Projekten von gemeinnützigen oder staatlichen Einrichtungen (Vereine, Hochschulen und Gemeinden…). Eine rein fördernde Stiftung ist beispielsweise die Volkswagen Stiftung. Operative Stiftungen setzen meist nur eigene Projekte um, wie Veranstaltungen, Vergabe von Preisen und Stipendien. Eine große meist operativ arbeitende Stiftung ist zum Beispiel die Bertelsmann Stiftung.

Natürlich gibt es auch Stiftungen, die sowohl operativ als auch fördernd tätig sind, so zum Beispiel die Hans Sauer Stiftung, die mit relaio ein großes operatives Stiftungsprojekt innehält, aber auch Projekte fördert wie zum Beispiel die freie Lernplattform serlo.

Warum werden denn nun Stiftungen gegründet? Natürlich steht für viele wohlhabende Menschen der Wunsch im Vordergrund, ihr Vermögen für die Ewigkeit einer guten Sache zur Verfügung zu stellen. Oft kommt aber auch hinzu, dass es schlichtweg keine Erben gibt oder niemanden, dem man sein Vermögen vererben möchte. Die Stiftung fungiert deshalb in den meisten Fällen als Erbin – nicht zu letzte auch weil keine Erbschaftssteuer, die bis zum 50 Prozent betragen können, anfallen und so das Geld einer sinnvollen Sache zu Gute kommt und nicht an den Staat fällt. Praxis ist zudem oft, dass Stiftungen zu Lebzeiten durch die Stifter gegründet werden und dann automatisch als Erbe des Vermögens fungieren, wenn der Stifter stirbt.

Beispiele für Stiftung, die im Bereich der Nachhaltigkeit agieren: 

1.) Hans Sauer Stiftung
Sitz: München
Art: fördernd und operativ
Zweck: Die Hans Sauer Stiftung hat es sich zu Aufgabe gemacht, gezielt technische und soziale Innovationen zu fördern, bei denen der gesellschaftliche Nutzen im Vordergrund steht; ethische, ökologische und interkulturelle Fragestellungen in den Innovationsprozess zu integrieren und die Entwicklung von Kompetenzen für verantwortungsbewusstes Denken und Handeln zu fördern
Website: www.hanssauerstiftung.de

2.) Deutsche Bundesstiftung Umwelt
Sitz: Osnabrück
Art: fördernd und operativ
Auftrag: Die DBU fördern innovative, modellhafte Vorhaben zum Schutz der Umwelt. Dabei leitet sie ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte im Sinne der nachhaltigen Entwicklung. Die mittelständische Wirtschaft ist für die BDU eine besonders wichtige Zielgruppe.
Website: https://www.dbu.de/

3.) Stiftung Mercator
Sitz: Essen
Art: fördernd und operativ
Ziele: Die Stiftung Mercator will keine Effekte, sondern Resultate erzielen. Deshalb steht bei der Auswahl Ihrer Themen und der Identifikation Ihrer Ziele nicht die Machbarkeit von Projekten im Vordergrund, sondern die Erreichbarkeit von gesetzten Zielen. In ihren vier Clusterthemen
verfolgen sie folgende Ziele: Europa: Die Stärkung des Zusammenhalts und der Handlungsfähigkeit Europas. Integration: Die chancengleiche Bildung für Menschen mit Migrationshintergrund. Klimawandel: Die Reduzierung von Treibhausgasemissionen zur Begrenzung eines
gefährlichen Klimawandels. Kulturelle Bildung: Die Verankerung Kultureller Bildung in der schulischen Bildung.
Website: https://www.stiftung-mercator.de/

4.) Schweisfurth Stiftung
Sitz: München
Art: operativ
Ziele/Zweck: Die Förderung der Wissenschaft, insbesondere der Erforschung und Entwicklung von gesunder, naturgemäßer Ernährung, naturgemäßer und umweltfreundlicher Methoden des Landbaus und der natur- und artgemäßen Haltung von Tieren unter Berücksichtigung eines nachhaltigeren Umgangs mit den natürlichen Ressourcen, einschließlich der intelligenten Nutzung von Energie und einer den Menschen und der Natur gemäßen Bauweise sowie einer Arbeit, die Mensch und Natur achtet. Die Förderung der Bildung. Die Förderung von Kunst und Kultur als Beitrag für einen kreativen und behutsamen Umgang mit der natürlichen und sozialen Mitwelt. Die Förderung der Jugend- und Altenhilfe. Die Förderung der Entwicklungshilfe.
Website: http://www.schweisfurth-stiftung.de/

Mehr Informationen rund um das Thema Stiftungen findet man beim Bundesverband Deutscher Stiftungen. 

Gründen? Unbedingt! – Der Social Start-Up Guide

8. März 2019 By

Wer Gründen will, muss risikobereit sein und nimmt viel Mühen auf sich. Das kann sich lohnen, vor allem dann, wenn man weiß, wo es Hilfe gibt.

Einfach mal sein eigenes Ding durchziehen – ein Wunsch, den immer mehr Menschen haben, vor allem dann, wenn es um den eigenen beruflichen Werdegang geht. Ganz konkret nimmt so ein eigenes Ding dann ganz unterschiedliche Formen an. Die meisten etwa als Start-Up. So weit so gut, aber auch ziemlich schwierig. So sinkt laut dem deutschen Startup Monitor 2018  die Zahl der Start-Up-Neugründungen seit einigen Jahren stetig. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ausschlaggebend dabei ist die gesamtmarktwirtschaftliche Situation. So führt die gegenwärtig positive konjunkturelle Entwicklung dazu, dass Notgründungen als Alternative zur Joblosigkeit rückgängig sind, da gleichzeitig eine bestehende Vielzahl von Beschäftigungsmöglichkeiten lukrativer sind als die finanziellen Perspektiven, bei einer eigenen Gründung. Aber auch ein anderer Trend lässt sich beobachten. So stieg, nach dem KfW-Gründungsmonitor 2018 zu Folge, der Anteil der „Chancengründer“ am Gesamtanteil aller Entrepreneure in Deutschland auf 60 Prozent. Immer mehr Unternehmer und Unternehmerinnen ergreifen also nicht bloß aus pragmatischen Gründen die Initiative, sondern handeln aus voller Überzeugung zur Notwendigkeit ihrer Idee heraus. Ein großer Teil dieser Ideen wiederum ist nachhaltig geprägt und verfolgt das Ziel einen positiven Beitrag zu gesellschaftlichen Entwicklung zu leisten. So ordnen sich 32 Prozent der im Startup Monitor befragten Entrepreneure dem Bereich der Green Economy oder des Social-Entrepreneurships zu.

Herausforderungen für Start-Ups gibt es viele, dafür aber auch genügend Unterstützung. (c) Deutscher Startup Monitor 2018

Gründen ist also nicht nur ökonomisch wertvoll, sondern auch aus ökologischer und sozialer Hinsicht von großer Bedeutung. So hat etwa das Start-Up RECUP den Nerv der Zeit getroffen, indem es mit einem smarten Pfandsystem einen nicht unwesentlichen Beitrag zum alltäglichen Umweltschutz leistet. Andere – darunter auch Vereine und Non-Profit Organisationen – wie die soziale Initiative Brot am Haken e.V.,stellen etwa Kunden einer Bäckerei eine Plattform zur Verfügung, um Nahrungsmittel an Andere zu spenden. Sicher, ob sozialer Verein oder Social-Start-Up – gründen bedeutet oft viel Arbeit bei nur wenig Sicherheit. Aber es gibt Unterstützung in jeder Phase der Verwirklichung des eigenen Projekts. relaio hat nachgesehen wer, wie, wann und wo die richtige Hilfe anbietet. Die wichtigsten Unterstützer haben wir in unserem Start-Up-Guide für Social-Entrepreneure festgehalten.

Auf die Idee kommt es an

In der ersten Phase der Gründung steht ganz klar die eigene Idee im Mittelpunkt. Sie auszuarbeiten und in ein ausgearbeitetes Konzept zu gießen, erfordert einige Anstrengung.  Aber das ist kein Grund in Panik zu geraten. Gründungswettbewerbe bieten beispielsweise eine geeignete Möglichkeit die eigene Idee einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen, bei der am Ende vielleicht sogar ein Preisgeld oder Mentoring-Programm wartet.

 

Fotostrecke – Die wichtigsten Wettbewerbe für Social Entrepreneure:

  • Der Hans Sauer Preis ist ein Forschungs-, Technik- und Praxispreis: Die Stiftung zeichnet herausragende Forschungsarbeiten, zukunftsweisende technische Erfindungen oder aber vorbildliche Praxis („Best Practices“) in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft aus. Das Wettbewerbsthema wird jedes Jahr neu gewählt.

  • Mit ihrem Wettbewerb sucht das Team von Yooweedoo Changemaker Innovative Ideen, die eine aktiven Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung in unserer Gesellschaft leisten. Auch hier warten auf die Gewinner verschiedene Preisgelder.

  • Bei den Green Tec Awards handelt es sich um einen der größten und wichtigsten Ideenwettbewerbe zum Thema Nachhaltigkeit. Ausgezeichnet werden etwa die Kategorien: "Innovation of the Year", "Rising Star of the Year", "Start-up of the Year" and "Game Changer of the Year".

  • Wer es erstmal national angehen will und noch in den Anfängen steckt, sollte seine Idee beim GENERATION-D Wettbewerb einreichen. Mit einem Preisgeld werden studentische Projekte gefördert, die sich durch Umsetzbarkeit, nachhaltige Wirksamkeit und Innovation auszeichnen.

  • Auch startsocial ist ein bundesweiter Wettbewerb, mit dessen Hilfe ehrenamtliches und soziales Engagement gefördert werden sollen. Der Wettbewerb steht unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Zu gewinnen gibt es regelmäßig viermonatige Beratungsstipendien.

  • Ziel des 2014 ins Leben gerufenen Green Alley Awards ist es, den Weg von einer linearen hin zu einer Kreislaufwirtschaft zu fördern und gleichzeitig die Abfall- und Recyclingindustrie, wie wir sie heute kennen, zu verändern.

  • Das Magazin ZEIT WISSEN, die Initiative "Mut zur Nachhaltigkeit", sowie die Aurubis AG verleihen jährlich den ZEIT WISSEN-Preis Mut zur Nachhaltigkeit. Gewinnchancen haben vor allem die, die eine herausragenden Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten.

  • Der Next Economy Award prämiert Startups, die auf Nachhaltigkeit und die Green Economy setzen. Er soll grünen Gründern Rückenwind verschaffen und Startups fördern, deren innovative Geschäftsmodelle soziale und ökologische Verbesserungen anstreben.

 

Gründen, aber gemeinsam

Ist die Idee ausgereift, müssen Taten folgen: Website, Insta-Channel, Name und Logo wollen erstellt werden. Nebenbei gibt es dann noch eine ganze Menge weiterer Aufgaben zu erledigen. So sollte zudem noch der passende Businessplan erstellt werden. Ganz schön viel los also. Daher gilt: Egal wie gut die eigene Idee auch ist, niemand schafft das allein oder besser gesagt, niemand muss alleine gründen. Genau deshalb hat sich in den letzten Jahren ein großes und starkes Netzwerk von Gründern und Experten aus Wirtschaft, Hochschulen und Politik gebildet. Die Unterstützung, die sich aus so einer Community ergibt, kann ganz verschieden ausfallen. Hilfe bieten etwa sogenannte Acceleratoren (von engl. Accelerate= beschleunigen), die – wir der Name bereits verrät – die Entwicklung und Umsetzung des eigenen Projektes beschleunigen, in dem Projekte eine feststehendes Entwicklungsprogramm durchlaufen und dabei intensiv von Experten betreut werden. Auch Inkubatoren sollten GründerInnen auf der Suche nach einer helfenden Hand nicht außer Acht lassen. In solchen „Brutkästen“ können Mentoring-Programme mitsamt einer professionellen Infrastruktur genutzt werden. Meist ist die Beziehung zwischen Gründern und Experten dort nochmals intensiver und beginnt meist schon bei der Ideenentwicklung. Nicht zuletzt bieten Stiftungen gezielte Unterstützung indem sie Geld, Räumlichkeiten und Expertise bereitstellen. Online-Plattformen bieten letztlich den nötigen Raum zum Austausch im Gründungsnetzwerk selbst.

 

Fotostrecke – Die wichtigsten Förderer und Netzwerke:

  • Social Impact ist Experte für Gründungsberatung. Social Start-Ups erhalten Stipendien, die bis zu acht Monate professionelle Beratung, Coaching, Workshops und Coworking Arbeitsplätze umfassen. Ebenso bietet Social Impact zahlreiche Inclusive Entrepreneurship Programme an.

  • Impact HUBs im deutschsprachigen Raum wie in München oder Berlin sind Teil eines globalen Netzwerks mit über 100 Locations und 16.000 Mitgliedern. Gegen einen finanziellen Beitrag gibt es Zugang zu Co-Working Areas und anderen Veranstaltungen, wie etwa Workshops, zum Thema Gründen.

  • Die Social Entrepreneurship Akademie wurde als Kooperation und Netzwerkorganisation vier Münchner Hochschulen gegründet. Die Akademie, kurz SEA, bietet eine Vielzahl von Qualifizierungsprogrammen im akademischen Umfeld an.

  • Ashoka fördert Social-Entrepreneure durch ein umfangreiches Angebot an Dienstleistungen und Finanzierungsformen, sowie durch Vermittlungsprogramme. Zudem können soziale Unternehmen finanzielle Unterstützung in der Gründungsphase bekommen.

  • Project Together bietet ein individuelles Coaching für Menschen, die Ideen haben und Hilfe bei der Umsetzung brauchen. Dabei ist es egal, ob es ein einmaliges, kleines Projekt oder ein Social-Business ist. Mit nur wenigen Klicks kann man sich auf ihrer Website bewerben.

  • youvo bringt Kreative mit sozialen Organisationen zusammen, die Unterstützung bei der Digitalisierung oder Öffentlichkeitsarbeit benötigen. Studierende und Professionals aus dem Design-, Kommunikations- und Digitalbereich bekommen damit die Möglichkeit, sich mit ihren Fähigkeiten für soziale Projekte einzusetzen.

  • Als Initiative der Hans-Sauer-Stiftung ist socialdesign.de nicht an der gewinnorientierten Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen interessiert, sondern macht sich vielmehr zum Anwalt sozialer Anliegen. Nutzer, Experten und Stakeholder sollen dabei in alle Phasen der Gestaltung einbezogen werden. Social-Entrepreneure finden hier ein Angebot, das Wissen zu diesem Thema bündelt und Projekte sowie Tools zur Umsetzung vorstellt.

  • Das Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland e.V. (SEND) will die Anliegen von SozialunternehmerInnen stärken und soziale Innovationen vorantreiben. Mit Hilfe des Vereins können eigene Erfahrungen ausgetauscht werden, während dieser wiederum die politischen Forderungen sozialer Unternehmer vertritt.

  • Eine weitere wichtige Anlaufstelle der Gründungshilfe bilden die zahlreichen Gründerzentren an Fachhochschulen und Universitäten. Ein Beispiel dafür ist etwa das Strascheg Center for Entrepreneurship der Hochschule München. Angeboten werden dort etwa Vorlesungen zum Thema Entrepreneurship, Co-Working-Spaces sowie Mentoring-Programme.

  • Eine Anlaufstelle auf europäischer Ebene ist der One-Stop-Shop der Europäischen Kommission. Dort gibt es alle möglichen Neuigkeiten und Infos zu aktuellen Ausschreibungen, Wettbewerben und Summits zum Thema Gründen. Außerdem finden Entrepreneure hier eine umfassende Auflistung weiterer Netzwerke und Unterstützer in Europa.

  • Das europäische Netzwerk der Social Innovation Community hat die wichtigsten Ergebnisse und Tools ihrer Arbeit in einem sogenannten Silearning Repository zusammengestellt. Soziale Projekte können mit dessen Hilfe frei auf Workshop-Module zugreifen, um so ihre Fähigkeiten bei der Gestaltung sozialer Innovation zu verbessern.

 

Wer wachsen will, muss zahlen

Der grundlegenden Gründungsetappen sind absolviert. Die Initiative ist etabliert und das eigene Start-Up hat den Markteintritt gewagt. Dann heißt es ab jetzt: skalieren, investieren und kontrollieren. Eine helfende Hand kann dabei sicher nicht schaden. Vor allem deshalb nicht, da der richtige Umgang und die Planung mit Finanzierungsmitteln oftmals Expertenwissen benötigt. Das bedeutet aber keineswegs, dass einem in Sachen Finanzierung die Hände gebunden sind, ganz im Gegenteil: So erfreuen sich etwa Crowdfunding-Plattformen immer größerer Beliebtheit. Dort kann man in Eigenregie von der eigenen Idee überzeugen und damit eine Finanzierung mit Unterstützung der Crowd auf die Beine stellen. Jetzt ist es nur noch wichtig zu wissen wo:

Fotostrecke – Die wichtigsten Finanzierungsquellen für Gründer und Gründerinnen: 

 

Welche Unterstützung die richtige ist, hängt natürlich immer von den individuellen Bedürfnissen des eigenen Vorhabens ab und erfordert eine stetige Reflexion der eigenen Ziele und derer Umsetzbarkeit. Dabei darf man jedoch nie vergessen: Hilfe gibt es genug, man muss sie sich nur holen.  

Compliance im Unternehmen

20. Dezember 2018 By

Good Cop, bad cop – wie Compliance helfen kann dein Unternehmen intern gerechter zu machen.

Stell dir vor, du arbeitest bei einem Unternehmen im Einkauf. Heute bist du mit einigen Kollegen bei einem Lieferanten in Italien. Nach den Gesprächen am Vormittag, will euch der Lieferant zum Essen einladen. Klar, denken die meisten Kollegen, umsonst ist immer gut und suchen sich das teuerste von der Speisekarte aus. Doch euer Unternehmen hat Compliance-Richtlinien, das heißt alle Einladungen über 20 Euro müsst ihr angeben – und das bedeutet eine Menge Papierkram. Sagst du nein? Das könnte unhöflich wirken. Achtest du auf den Preis? Weist du deine Kollegen darauf hin und giltst dann vielleicht als kleinkariert? Oder ist nicht eigentlich ok, wegen ein paar Euro, die Richtlinien nicht ganz ernst zu nehmen?

Auch wenn das nur eine kleine Situation im Alltag eines Unternehmens ist, so zeigt sie doch, wie unklar teilweise der Umgang mit Compliance-Vorschriften ist. Doch was genau versteht man denn unter dem Begriff? Im Wirtschaftsduden wird Compliance als „alle organisatorischen Maßnahmen, um Gesetzesverstöße (z. B. Bestechung zur Erlangung von Aufträgen) zu verhindern und unternehmensinterne Regeln zu befolgen und damit verschärften Antikorruptionsgesetzen und Haftungsrisiken Rechnung zu tragen“ definiert – kurz gesagt integeres Verhalten à la ehrenwerter Kaufmann.

„Kein Gold besticht ein empörtes Gewissen“

Heinrich von Kleist 

Etwas, was den Deutschen maßgeblich nachgesagt wird. Fälle wie der Korruptionsskandal um Siemens oder Volkswagen Mitte der 2000er Jahre beweisen aber das Gegenteil. Früher war es sogar legal mit Bestechungsgelder Aufträge an Land zu ziehen. Denn bis 1997 konnten deutsche Unternehmen diese Schmiergelder als Betriebskosten absetzen und somit auch von der Steuer. Nach vielen Skandalen haben sich nun die meisten großen Unternehmen Compliance auf die Fahne geschrieben – auch Siemens, Volkswagen und Co. Doch ist die Umsetzung nicht so einfach, gerade wenn die Strukturen veraltet und die Einstellungen verkrustet sind.

Auf was muss ich also achten, wenn ich ein Compliance-Management-System aufbauen will?

Klar ist, dass es einen Unterschied macht, ob es sich um ein nationales oder internationales Unternehmen handelt, dass versucht ein Compliance-System bei sich zu etablieren. Ein gutes Compliance-Management kann allgemein aber in vier Grundbausteine aufgeteilt werden:

  • Identifizierung und Analyse von rechtlichen Risiken im eigenen Unternehmen und Wissen über die rechtlichen Rahmenbedingungen
  • Kenntnisse über den Wissenstand im Unternehmen zum Thema Compliance und dementsprechende Einschätzung, wie groß der Schulungsbedarf ist und die Entwicklung und/oder Verbesserung der Richtlinien
  • Entwicklung von Verfahren, extern und intern, für die Kommunikation von Verstößen und Richtlinien für den Kontakt mit den Behörden
  • Einstellung und Schulung eines Compliance-Verantwortlichen und die Entwicklung von Kontrollverfahren und -abläufen

Wie man sich vorstellen kann, ist der Compliance-Beauftragte in vielen Unternehmen nicht gerade der beliebteste Kollege. Daher braucht so eine Person auch eine Vielzahl von Kompetenzen. Nicht nur, um die Verstöße zu entdecken, sondern auch, um die anderen Mitarbeiter aufzuklären, die Wichtigkeit von Compliance zu vermitteln und auch mit negativer Resonanz richtig umzugehen. Daraus hat sich ein eigener Berufszweig entwickelt, der mittlerweile auch sehr gefragt ist. Compliance-Beauftrage arbeiten an den Schnittstellen des Unternehmens und oft eng mit der Geschäftsführung zusammen – das erfordert kommunikatives Geschick und gerade bei globalen Unternehmen eine gewisse interkulturelle Kompetenz. Außerdem müssen sich Compliance-Beauftragte mit juristischen und wirtschaftlichen Themen auskennen und auch ein fundiertes Wissen über die Branche in der sie arbeiten haben. Sonst kann es sein, dass sie von den einzelnen Fachabteilungen auch nicht ernst genommen werden. Und zu alledem sollte er noch einen hohen Grad an Fingerspitzengefühl mitbringen, um gerade bei den heiklen Themen den richtigen Ton zu treffen. Mittlerweile gibt es für den Compliance-Manager verschiedene Angebote, von berufsbegleitenden Mastern bis zu Qualifizierungskursen.

Aber das betrifft doch nur die großen Unternehmen?

Oft ist aber das Problem bei Start-Ups, Vereinen, Non-Profit-Unternehmen und gGmbHs, dass sie eher kleine Unternehmen sind oder es bisher keine unmittelbaren Vorfälle in diesen Bereichen gab. Viele GründerInnen haben sich daher noch nicht mit dem Thema auseinandergesetzt, ganz im Gegensatz zu den Bereichen Risikomanagement und Corporate Governance. Trotzdem sollten sie sich damit beschäftigen und es in ihrer Unternehmenskultur nachhaltig etablieren, bevor sie wachsen und es dann immer schwieriger wird. Und gerade Start-Ups und kleinere Unternehmen sind auf ein positives Außenbild angewiesen. Ein Vorfall von Schmiergeldern oder ähnliches reicht aus und das Ansehen ist dahin. Und selten reicht  das Geld, um sich von dem Imageschaden zu erholen. PR- und Marketingmaßnahmen zur Imagepflege sind nämlich nicht nur teuer, sondern vor allem auch viel Zeit, bis sie ihre Wirkung entfalten. Wichtige Rechtsgebiete, die daher auf jeden Fall auch für Compliance beachtet werden sollten, sind:

  • Arbeitsrecht
  • Arbeitssicherheit
  • Sozialversicherungsrecht
  • Arbeitsschutz
  • Gemeinnützigkeitsrecht
  • Betriebsverfassungsgesetz
  • Branchenspezifische Gesetze

Essenziel ist es auch sich in kleinen Betrieben die Fragen zu stellen: Was kann alles schief gehen? Wo gibt es Nischen, die nicht richtig definiert sind? Gerade die  Verwendung von zweckgebundenen Spenden,  „unechter“ Spenden (Steuerhinterziehung) oder steuerpflichtige Wirtschaftsbetriebe, die fälschlicherweise als gemeinnützig angesehen werden, sind eine Gefahrenquelle.

Um das zu vermeiden kann man sich, vor allem wenn es recht wenige Mitarbeiter sind, auch einige Stunden zusammensetzen, mögliche Gefahrenherde und Risiken erörtern, diskutieren und dokumentieren. Die Dokumentation dient dann dazu, dass in regelmäßigen Abständen das Besprochene überprüft werden kann. Das gemeinsame Erarbeiten ist aber auch wichtig, um ein Bewusstsein für die Thematik zu schaffen und wirklich bei jedem Einzelnen zu implementieren.  Je mehr diese Denk- und Handelsweise von Anfang an dazu gehört, desto weniger Probleme gibt es, wenn kleine Unternehmensstrukturen wachsen.

Gute Beispiele? Schwer zu finden

Natürlich gibt es viele Unternehmen, die sich groß Compliance auf die Fahne schreiben, doch schwingt noch immer ein bisschen Misstrauen mit und eine leise Stimme im Kopf flüstert: „Green Washing“. Gerade weil einige Unternehmen erst nach großen Skandalen für mehr Compliance gesorgt haben. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Siemens-Konzern, der 2006 mit einem milliardenschweren System schwarzer Kassen Schlagzeilen machte. Danach gab es nicht nur viele Entlassungen, sondern auch mehr als zwei Milliarden Euro Bußgelder zu zahlen.  Klickt man nun  auf die Compliance-Seite von Siemens, so scheint das Unternehmen einiges getan zu haben, dass so etwas nicht mehr vor fällt. Ähnlich sehen die Seiten von Volkswagen, Rewe-Group und BMW aus.

Für die Bio-Supermarkt-Kette Alnatura steht das Thema Nachhaltigkeit ganz oben auf der Liste der Unternehmensgrundsätze. Dazu gehören nicht nur die Themen biologischer Anbau und Transparenz bei den Lieferketten, sondern auch die soziale Nachhaltigkeit und langfristige Partnerschaften mit ihren Herstellern. Alnatura hat eigene Policy Sozialstandards, welche vor allem die Standards in der Lieferkette sicher stellen sollen. Gerade bei Geschäften mit Ländern, die laut der Business Social Compliance Initiative, ein Risiko bei der Einhaltung von sozialen Standards darstellen.

Für mehr Transparenz wirbt auch der Deutsche Spendenrat. Mit der Initiative „Transparenz-leicht-gemacht“ wird gemeinnützige Organisationen und Vereine mit einem breiten Serviceangebot unter die Arme gegriffen — denn gerade in diesem Bereich gibt es selten „Fachleute“ im Team. Sie werden kostenlos von Wirtschaftsprüfern in Einzelberatung oder in bundesweiten Schulungen über die Themen Steuerrecht und Rechnungslegung informiert und geschult.

Die SWOT-Analyse

15. Dezember 2018 By

Eine Methode um richtig die eigenen Stärken und Schwächen gegen äußere Risiken und Chancen abzuwägen.

Was ist die SWOT-Analyse und wofür brauche ich sie?

Die SWOT-Analyse steht für die objektive Betrachtung der Strenghts (Stärken), Weaknesses (Schwächen), Opportunities (Chancen) und Threats (Risiken) eines Unternehmens und ist ein wesentlicher Bestandteil eines guten Businessplans.  Die Methode ermöglicht es, die Stärken und Schwächen eines Projekts aufzuzeigen und diese den Chancen und Risiken gegenüberzustellen, die sich aus dem Markt ergeben. So ist sie auch für bereits bestehende Unternehmen ein hilfreiches Tool für die Erstellung eines internen Stärken-Schwächen-Profils sowie einer externen Umfeld-Analyse. Gleichermaßen hilft die Analyse-Methode bei der Positionierung der eigenen Aktivitäten gegenüber dem Wettbewerb. Startups und jungen Gründern kann sie einen Überblick über die potentiellen Einflussfaktoren auf den Erfolg der Gründung geben. Wichtig ist hierbei zu wissen, dass Stärken und Schwächen als interne Einflussfaktoren aktiv beeinflusst werden können, während Social-Entrepreneure auf externe Faktoren wie Chancen und Risiken vielmehr nur reagieren können. Kurzum: Neben Vorteilen kann die Durchführung einer SWOT-Analyse auch Nachteile beinhalten. Bevor es also losgeht mit der eigenen Projektanalyse, sollte man genau die Pros und Kontras der für die eigenen Zielsetzungen abwägen.

Vor- und Nachteile der SWOT-Analyse

Die führe ich eine SWOT-Analyse durch?

Die Gegenüberstellung der internen und externen Analyse von Einflussfaktoren erfolgt mit Hilfe  der sogenannten SWOT-Matrix. Sie zeigt auf, ob ein bestimmter Trend hinsichtlich der Stärken und Schwächen des jeweiligen Unternehmens eine Chance oder ein Risiko darstellt. Basierend auf der Matrix können Gründer dann einen Plan erstellen, wie von den drei bis vier wichtigsten Chancen profitiert werden kann und auf die drei bis vier größten Risiken reagiert werden soll. Im besten Fall wird die Analyse von einem kleinen Team gemeinsam durchgeführt. So können verschiedene Sichtweisen in die Betrachtung einfließen. Im Detail läuft die Erstellung der Matrix wie folgt ab:

Schritt 1: Die Ermittlung interner Stärken und Schwächen

Im ersten Schritt ermittelt das SWOT-Team die vorhandenen Stärken und Schwächen. Dafür können die folgenden Fragen behilflich sein:

Voraussetzung einer erfolgreichen SWOT-Analyse ist die Ermittlung der eigenen Stärken und Schwächen.

Schritt 2: Die Ermittlung externer Chancen und Risiken

Nach der internen Betrachtung folgt dann der etwas schwierigere Teil: die Umfeld-Analyse. Sie erfordert gute Kenntnisse über den eigenen Markt mitsamt seinen Trends. Prinzipiell geht es in dem Schritt darum, Trends und Veränderungen zu erkennen, die für das eigene Start-Up relevant sind. Dabei ist es als Entrepreneur hilfreich zu überlegen, welche stattgefundenen oder erwartbare Entwicklungen das eigene Projekt positiv oder negativ beeinflussen können. Diese Chancen und Risiken können dabei ganz unterschiedlicher Art sein. Wie etwa:

  • Politisch durch geänderte gesetzliche Regelungen (Zölle, Einfuhrbestimmungen, Umweltstandard, Währungsveränderungen)
  • Marktbezogen durch den Austritt oder Eintritt von Wettbewerbern, der Veränderung der Marktgröße, der Weltmarktpreise oder der Kaufkraft
  • Ökologisch durch Naturkatastrophen wie Dürre oder Überschwemmungen
  • Sozial durch veränderte Bedürfnisse der Kunden, gesellschaftliche Entwicklungen, oder durch demographischen Wandel.
  • Technologisch durch neue technische Standards oder neue Herstellungsprozesse

Das Analyse-Team kann die nun erkannten Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken etwa in einer einfachen Tabelle festhalten.

Schritt 3: Das Zusammenführen der Markt- und Unternehmensbetrachtung

Im nächsten Schritt geht es um die Verbindung der internen und externen Analyse. Dabei sollte nun an erster Stelle stehen einen Weg zu finden, sowohl den Nutzen aus Stärken und Chancen zu maximieren als auch den Verlust aus Schwächen und Gefahren zu minimieren. Die Frage muss also lauten: Wie kann man mit den gegebenen Ressourcen auf Veränderungen reagieren? Um diese Frage zu beantworten, werden die jeweiligen Felder miteinander kombiniert und es entstehen vier mögliche Strategien.

Bei der Entwicklung der jeweiligen Strategie geht es grundsätzlich um die Überlegung, mit welchen Maßnahmen ein Unternehmer plant, Risiken zu begegnen und Chancen zu nutzen. Dabei ist es wichtig, Worst- und Best-Case-Szenarien aufzustellen. Im Einzelnen sehen die vier Handlungsoptionen folgendermaßen aus:

  1. SO-Strategie // Strenghts + Opportunities: Stärken einsetzen, um Chancen wahrzunehmen
    In der sogenannten SO-Strategie, dem Idealfall, identifiziert das Analyse-Team Chancen, die zu den Stärken des Unternehmens passen. So lässt sich zum Beispiel vorhandenes Wissen im Bereich umweltfreundlicher Produktion (Stärke) optimal dem Trend zu einem höheren Umweltbewusstsein (Chance) zuordnen.

  2. WO-Strategie // Weaknesses + Opportunities: Schwächen abbauen, um Chancen zu nutzen
    Der Gedanke hierbei ist, wie Chancen trotz interner Schwächen realisiert werden können. In dieser Strategie muss sich das Gründerteam überlegen, welche Schwächen wie abgebaut werden müssen, um von externen Chancen profitieren zu können. So ist in einem schnell wachsenden, innovativen Markt (Chance) ist eine lange Markteinführungszeit (Schwäche) eher hinderlich, kann aber durch das Eingehen von Kooperationen verkürzt werden.

  3. ST-Strategie // Strengths + Threats: Stärken anwenden, um Risiken abzuwenden
    Eine weitere Strategie besteht darin, die vorhandenen Stärken zu nutzen, um externen Risiken zu begegnen. Beispielsweise können stabile und partnerschaftliche Lieferantenbeziehungen (Stärke) von Vorteil sein, um potentielle neue Wettbewerber (Risiko) auszubremsen oder vom Markteintritt abzuhalten.

  4. WT-Strategie // Weaknesses + Threats: Schwächen abbauen, um Risiken zu reduzieren
    In der ungünstigsten Kategorie geht es um die Frage, welche Gefahren das Unternehmen unbedingt vermeiden muss, da die entsprechenden Stärken fehlen. Die Strategie lautet in dem Fall: Schwächen reduzieren, um Risiken abzumildern. Wenn ein Unternehmen seine Produkte etwa bereits zu einem überhöhten Preis anbietet (Schwäche) aber Produktionskosten aufgrund bestimmter Ereignisse vermutlich weiter steigen werden (Risiko), sollten Überlegungen gemacht werden, wie der Preis anderweitig auf dem gleichen Niveau gehalten werden kann oder ob das Produkt vom Markt genommen werden sollte.

Die SWOT-Matrix

Die richtige Analyse nicht nur fürs eigene Projekt: Das Beispiel „Urban Gardening“

Die SWOT-Analyse eignet sich nicht nur zur Erstellung eines Stärken-Schwächen-Profils und der Umfeld-Analyse einzelner Unternehmen, sondern kann sie genauso auf ein gesamtes Handlungsgebiet Anwendung finden, wie zum Beispiel im Urban Gardening. Die Analyse verläuft dann etwas genereller und nicht in Bezug auf Konkurrenten. 
Unter Urban Gardening versteht man die Nutzung städtischen Gebiets für den Anbau von Nutzpflanzen, Kräutern, Obst und Gemüse. Neben dem ökologischen und klimaneutralen Anbau von Lebensmitteln tragen die Gärten zur Stadtentwicklung und sozialen Teilhabe bei. Einige Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken, die sich ergeben können, sind in der Abbildung gesammelt.

Aus diesen Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken könnten beispielhaft folgende Strategien abgeleitet werden.

SO-Strategie: Verknüpfung von Stärken und Chancen

  • Urbane Gärten sind Orte des sozialen Zusammentreffens und Austauschs (Stärke). In Workshops können neue Teilnehmer, wie zum Beispiel Migranten, ihr Wissen über Naturheilkräuter und alternative Anbaumethoden weitergeben. Dadurch kann wertvolles, neues Wissen generiert werden (Chance).
  • Das positive Image von urbanen Gärten in der Gesellschaft (Stärke) kann dazu beitragen, ungenutzte Flachdächer oder Grünflächen von Unternehmen, die sich lokal engagieren wollen, zur Verfügung gestellt zu bekommen (Chance). 

WO-Strategie: Verknüpfung von Schwächen und Chancen

  • Gründer von urbanen Gärten haben oft wenig Zeit, da sie für ihre Existenzsicherung ein zweites Standbein brauchen (Schwäche). Die Chance, Förderungen zum Beispiel durch Kommunen zu bekommen, ist jedoch meist mit hohen persönlichen Aufwand verbunden. Da Förderungen jedoch auch dazu beitragen, diese Schwäche abzubauen, müssen Gründer versuchen, Zeit für solche Aufgaben freizuschaufeln.

ST-Strategie: Verknüpfung von Stärken und Risiken

  • Der „nomadische Anbau“ der Pflanzen in alten Kisten, Reissäcken oder selbstgebauten Hochbeeten trägt zur Mobilität von urbanen Gärten bei (Stärke). Indem explizit darauf geachtet wird, dass der Garten schnell ab- und wiederaufbaubar ist, kann der Garten im Fall von Bauvorhaben (Risiko) an einem anderen Ort fortgeführt werden.

WT-Strategie: Verknüpfung von Schwächen und Risiken

  • Eine Schwäche von urbanen Gärten ist der Bedarf an kontinuierlicher Pflege. Witterungs- und standortabhängig können Frost, Dürre oder Stürme die Ernte zerstören (Risiko). Da die beständige Pflege und Vorbereitung auf Jahreszeiten Einfluss darauf haben, ob ein Garten überlebt, ist es notwendig, diese Schwäche abzubauen, z.B. indem Zuständigkeitspläne erstellt werden oder unabhängige Bewässerungssysteme angelegt werden.

Ob für das eigene Unternehmen oder für die Umsetzung gesellschaftlicher Interessen – die eigenen Stärken und Schwächen zu kennen und zu wissen wie sie sich am besten einsetzen lassen, ist immer das Fundament erfolgreichen Handelns. Jedenfalls dann, wenn das eigene Projekt nicht nur eine gute Idee bleiben, sondern sich langfristig und erfolgreich behaupten soll. Essentiell dafür ist es, den Weg zur optimalen Strategie zu finden. Die richtigen Schritte dorthin stehen schon mal fest.


(c) Titelbild: Pixabay

Wie wir wohnen wollen

8. Oktober 2019 By

Integration, Inklusion und Kollaboration im Wohnen bieten das Potential, gesamtgesellschaftliche Herausforderungen anzugehen. Hier werden unterschiedliche Ansätze vorgestellt.

Im Wohnen kann man Heimat finden – gerade für benachteiligte Gruppen in unserer Gesellschaft Geflüchtete, Migrant*innen oder körperlich und geistig behinderte Menschen kann dabei die Wohnung als persönlicher Rückzugsraum, aber auch als Tor zu einer fürsorgenden Gemeinschaft enormen Halt geben. Im besten Fall wird dabei Wohnraum nicht nur bewohnt, sondern es wird darin gelebt.

Der Bedarf an würdigen, verfügbaren Wohnraum geht immer einher mit den gegenwärtigen Herausforderungen einer Region, Stadt oder Gesellschaft. Es gilt dabei, die Waage zwischen Kriterien wie Bezahlbarkeit, Verfügbarkeit und dem Anspruch, lebenswerten und ermöglichenden Wohnraum zu halten. Fragen, wie lebenswertes Wohnen zu gestalten ist und welche Kriterien uns für unsere Lebensqualität wichtig sind, müssen dabei immer wieder neu ausgehandelt werden.

Formen urbanen Lebens befinden sich in kontinuierlichem Wandel und bieten dabei das Potential, neue Angebote des Übergangs und der Inklusion zu machen: Angebote, die im Kontext der Zerteilung und Individualisierung in modernen Gesellschaften als neue Begegnungsorte des Übergangs fungieren können.

Ankommen und Verwurzeln – das ist auch für Wohnverhältnisse, die nur temporär bestehen sollen, von hoher Bedeutung. Für lebenswerten Wohnraum spielen Aspekte wie die Verteilung des Einkommens in Häusern und Vierteln, Bildungschancen und eine integrierte, zugängliche und erlebbare Umwelt eine entscheidende Rolle. Die Wohnung beeinflusst den Alltag der Bewohner*innen, deren individuelle Entfaltungsmöglichkeiten und die Chance auf Sozialisation, Gesundheit und Wohlbefinden. Die Wohnung ist auch Ort und Medium von Selbstdarstellung und Selbstwertgefühl. Ob das erreicht wird, hängt unter anderem davon ab, in welchem Maße Intimität und Privatsphäre gewahrt werden können.

Die Umgebung der Wohnräume prägt die Möglichkeiten deren Bewohner*innen. (c) Tim Trad

Gegenwärtige, gesamtgesellschaftliche Herausforderungen wie Integration, Inklusion, soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit müssen auch im Bereich Wohnen berücksichtigt werden. Ein Zuhause will mehr als bloße Unterkunft und Behälter sein – es ist der Ausgangspunkt zu gesellschaftlicher Teilhabe. Dabei kann man neben der eigenen Wohnung oder dem privaten Zimmer auch in weiteren Räumen wohnen oder zuhause sein, so zum Beispiel in Gemeinschaftsräumen im Haus. Fördern kann das eine Anbindung und Einbindung der Wohnräume an die Umgebung und gute Anschlussmöglichkeiten. Um Inklusion und Integration schaffen zu können, muss Raum für flexible Nutzungstransformationen und sich ändernde Lebensentwürfe geschaffen werden. Dieser Bedarf kann Treiber von Innovationen in einem Prozess sein, der neue Fragen und Antworten finden muss.

Für funktionierende soziale Durchmischung muss Wohnraum in die Umgebung integriert werden

Bei der Studie „Wie brüchig ist unsere soziale Architektur?“ des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung wurde in den untersuchten Jahren von 2005-2014 ein Anstieg von Armutssegregation mit dem Bau von Sozialwohnungen festgestellt. Dies liegt daran, dass Sozialwohnungen hauptsächlich in Vierteln gebaut werden, in denen es schon viele Sozialwohnungen gibt – damit entstehen hohe Unterschiede in Einkommen, Lebensstil und Zugang zu Einrichtungen zwischen unterschiedlichen Vierteln. Für eine soziale Mischung und das Teilen von Ressourcen wäre es demnach sinnvoll, vermehrt Sozialwohnungen in Quartieren zu bauen, in denen man bis jetzt noch keine findet.

Soziale Durchmischung kann für viele, besonders für marginalisierte Gruppen, als Sozialkapital fungieren. Zum Beispiel kann der Austausch mit Nachbar*innen Informationen über einen vakanten Arbeitsplatz, über Know-How im Umgang mit Vermietern und Behörden liefern oder kann in verbesserten Artikulationsmöglichkeiten zum Ausdruck kommen. Für eine gelebte soziale Durchmischung reicht aber nicht nur die räumliche Nähe von unterschiedlichen Bewohner*innen einer Stadt. Dafür braucht es Situationen, die Kontakt ermöglichen und dazu ermuntern: Geteilte Einrichtungen wie Werkstätten, Kindergärten, Schulen und Projekte eröffnen gemeinsamen Raum.

Dafür muss der Raum erstmal gefunden werden, aber: Auch in dichten Städten gibt es Leerstand – warum nicht einfach bereits bestehenden Raum zum Wohnen nutzen und mit eigenen Ressourcen füllen? In dem gemeinschaftlichen Projekt Traudi/HAWI der Caritas Wien, der TU Wien, der TU Berlin und der Hans-Sauer-Stiftung wurde ein ehemaliges Bürogebäude nach mehrjährigem Leerstand in einem kollaborativen Prozess in ein gemischtes Wohnheim für Geflüchtete und Studierende transformiert. Die Bewohner*innen haben sich ganz nach dem Motto „Trau Di!“ getraut und bauten Schlaf- und Gemeinschaftsräume in Zusammenarbeit mit Architekt*innen selber, was mit jedem zusätzlich angebrachten Brett Identifikation und Ankommen an dem neuen Ort erleichterten. Grundgedanke war dabei, dass sowohl Geflüchtete als auch Studierende, die neu in der Stadt Wien waren, Schwierigkeiten hatten, eine bezahlbare Wohnmöglichkeit und Anschluss in der Stadt zu finden. Das Wohnprojekt Traudi/ HAWI fungiert so als gebauter Vorschlag, wie durch Architektur gesellschaftspolitische Impulse gesetzt werden können.

Durch die als zweite Etage angebrachten Betten steht in den Zimmern des Wohnprojekts HAWI/ Traudi unten ausreichend Raum zum Lernen, Lesen und Entspannen zur Verfügung. (c) Hans Sauer Stiftung, Petra Panna Nagy

Freiräume lassen sich finden

In Deutschland entstehen immer noch neue Wohnungsbaugenossenschaften – eine Wohnform mit einer mehr als 100-jährigen Tradition. Damit entkoppeln die Bewohner*innen die Gebäude aus dem Immobilienmarkt und schaffen so Wohnraum mit stabilen Mietpreisen. Außerdem können die Bewohner bei allem, was das Zusammenleben und die eigene Wohnung betrifft, direkt mitentscheiden. Teure, aber nachhaltige Anschaffungen können gemeinsam finanziert und genutzt werden und durch das Teilen einiger Räumlichkeiten wie Werkstätten oder Küchen vergrößert sich für jeden einzelnen der Wohnraum. Dieses gemeinsame Nutzen eröffnet Austausch unter Generationen, Kulturen und Lebensstilen und kann Menschen dabei helfen, sich als mündiger Teil einer Gesellschaft zu fühlen. . Damit entkoppeln die Vereine Häuser und damit Wohnraum aus dem allgemeinen Profitdruck. Einer profitorientieren Ausrichtung von Stadt, die sich nicht mit den Bedürfnissen deren Bewohner*innen deckt, wird so etwas entgegensetzt.

München, Glockenbachviertel: Tagescafés, Luxuswohnungen, ehemaliger Hotspot der Münchner Schwulen- und Lesbenszene. Mitten in der Stadt zwischen Bowl-Bars und schicken Fassaden hat eine Sozialgenossenschaft das Bellevue di Monaco als Unterbringungs- und Kulturzentrum für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge und interessierte Münchner gegründet. Die Organisationsform der offiziell eingetragenen Genossenschaft ermöglichte die Renovierung und das für den Umbau nötige Grundkapital durch Mitgliedereinlagen. Der Umbau des renovierungsbedürftigen Gebäude wurde dabei öffentlichkeitswirksam inszeniert und zu einem großen Teil von Ehrenamtlichen und Künstler*innen getragen. Gerade dadurch wurde Aufmerksamkeit auf die vormals leerstehenden Gebäude, die zentral in der Stadt liegen, gelenkt. Damit wurden die Bauten für alle zugänglich und ein wichtiger Ort für Diskussion, Information und kulturelles Angebot. Bürgerinitiative hat hier gewirkt – daraus ist staatlich subventionierte und alternative Stadtentwicklung geworden. Die lokale Bürgerbewegung konnte so den gesamten Gebäudekomplex vor dem Abriss und Verkauf an höchst-bietende Privatinvestoren retten und langfristig zur Nutzung für soziale Zwecke zur Verfügung stellen.

Inklusion und Integration im Wohnen kann gesellschaftliche Mitbestimmung fördern

Werte- und Identitätskonflikte bestimmen Diskurse in unserer Gesellschaft und dennoch wird die Welt vor unseren Augen größer und dichter. Wohnraum gemeinsam gestalten hat das Potential, uns aktiv in unser Umfeld einzubringen, gegenwärtige Herausforderungen anzugehen und einander solidarisch und hilfsbereit zu begegnen und somit aus einer Tätigkeit, die wir alle in unterschiedlichsten Formen teilen – dem Wohnen – den Weg hin zu einer aufmerksamen, fairen Gesellschaft ebnen.

Gemeinschaftlich genutzte Räume können je nach Nutzungsbedürfnissen ausgestattet werden.

Inklusion im Wohnen kann dabei ganz unterschiedliche Grade und Formen von Benachteiligung wie Behinderung, Herkunft und Armut berücksichtigen. Auch Menschen mit diesen Benachteiligungen haben das Recht, darüber mitzubestimmen, wo, wie und mit wem sie wohnen – das wird ihnen aber oft abgesprochen, indem man sie lediglich unterbringt. Andererseits ergeben sich aus den unterschiedlichen Graden von Benachteiligungen auch unterschiedliche Bedarfe, denen gerecht werden muss. Dabei gibt es schon eine Vielzahl inklusiver WGs, die gleichzeitig neue, eigenständigere Betreuungs- und Wohnmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung und gleichzeitig bezahlbaren Wohnraum für Menschen ohne Behinderung schaffen. Das Wiener Wohnprojekt VinziRast-mittendrin bietet ebenso Raum für unterschiedliche Bedarfsgruppen: Dort leben Student*innen und ehemalige Obdachlose in günstigen Wohngemeinschaften zusammen. Entstanden ist das Projekt aus einem Studierendenprotest im Wiener Audimax 2009, bei denen sich auch Obdachlose anschlossen. So entstand ein Miteinander, das einige der Student*innen weitertragen wollten – und die Initiative für ein gemeinsames Wohnprojekt starteten. Die gemeinnützige Vinzenzgemeinschaft stellt den Hausbewohner*innen zusätzlich bei Konflikten eine geschulte Ansprechperson zur Seite.

Das Zusammenleben verschiedener sozialer Gruppen bringt sozial-kulturelle Dynamik und Austausch. Trotz aller dieser Vorteile und der Schönheit von Begegnungen, die aufzeigen, dass neben der eigenen Lebenswelt unzählige andere existieren – Wohnraum teilen bietet Konfliktpotential und ist oft unglaublich anstrengend. Außerdem ist immer darauf zu achten, dass gerade innovative Wohnprojekte auch nach außen wirken und mit ihrer Umgebung interagieren – sonst werden auch diese schnell zu Gated Communities, die wiederum Isolierung und Ausgrenzung befeuern können. Diese Konflikte auszutragen und versuchen, damit zu arbeiten, kann längerfristig zu einer positiven Debattenkultur und einer offeneren, experimentierfreudigen Gesellschaft beitragen. Denn indem wir immer wieder überlegen, wie wir leben wollen, können gesellschaftliche und soziale Hierarchien und manifestierte Ungerechtigkeiten aufgebrochen werden.

 

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