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relaio.de

Die Plattform für nachhaltiges Unternehmertum

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Mach´s gut, relaio!

10. November 2020 By

relaio, die Plattform für gesellschaftlichen Wandel stellt den Betrieb ein. Aber auf anderen Websites der Hans Sauer Stiftung geht es weiter… 

Wie soll eine Gesellschaft aussehen, die ein gutes und gerechtes Leben für alle schafft und dabei die Belastungsgrenzen unseres Planeten achtet? Welche Werte, Praktiken und Technologien müssen sich ändern, damit wir die Welt und die Gesellschaft in der wir leben, nachhaltig gestalten können? Und wer sind diejenigen, die dazu beitragen können?  

Mit diesen Fragen beschäftigte sich relaio zuletzt. Und hat versucht Antworten darauf finden: relaio hat Wissen geliefert, wie gesellschaftlicher Wandel funktionieren kann und dabei Hintergründe und Konzepte zu aktuellen Themen aus Forschung und Gesellschaft beleuchtet. Wie sich Innovationen in der Gesellschaft verbreiten wurde dabei ebenso thematisiert, wie die Probleme der kapitalistischen Produktionsweise oder die Unzulänglichkeiten einer Circular Economy. relaio hat aber auch Lösungsansätze vorgestellt und Vorbilder interviewt, die demonstrieren, wie gesellschaftlicher Wandel gelingen kann. Sowohl Nischenakteur*innen wie das „Penthaus à la Parasit“ als auch renommierte Wissenschaftler wie Volker Quaschning kamen hier zu Wort. relaio wollte so auch seine Leser*innen dazu ermutigt, sich selbst als Gestalter*innen des Wandels miteinzubringen. 

Menschen dazu zu bewegen, sich einzusetzen und ihnen das hierfür nötige Wissen mitzugeben, war seit jeher das Ziel dieses operativen Projekts der Hans Sauer Stiftung. Es steht damit in der gedanklichen Tradition des Erfinders, Unternehmers und Stifters Hans Sauer, der bereits 1987 das „DABEI-Handbuch für Erfinder und Unternehmer“ erarbeitet hat, um Menschen einen Leitfaden für die Umsetzung von Innovationen an die Hand zu geben. Der Stifter beschäftigte sich daraufhin in den 1990er Jahren mit dem Thema der erfinderischen Kreativität und deren Beitrag zu einer funktionierenden „Ko-Evolution“ von Mensch und Natur. Seine Tochter Monika Sachtleben veröffentlichte 1999, drei Jahre nach dem Tod des Stifters, zu diesem Thema das Buch „Kooperation mit der Evolution“. Diese Veröffentlichungen lieferten die Wertedimension, die die Arbeit von relaio prägten: Die Förderung von technischen und sozialen Innovationen, bei denen der gesellschaftliche Nutzen im Vordergrund steht.  Eine digital erneuerte Version des „DABEI-Handbuch“ entstand 2009, die sich noch stark am Aufbau des ursprünglichen Handbuchs orientierte. Zeitweise wurde das Projekt dann am LMU Entrepreneurship Center in München weiterbearbeitet, wobei vor allem der aktuelle Wissensstand rund um das Thema „Nachhaltig Wirtschaften“ erarbeitet wurde. 2012 wurde dann das DABEI-Handbuch „digitalisiert“ und thematisch grundlegend ergänzt und für eine breitere Zielgruppe zugänglich gemacht.  Dies legte den Grundstein für das Projekt relaio, das als „Ideengarage“ gestartet wurde und dann 2015 als Plattform für nachhaltiges Unternehmertum online ging.  

Im Laufe der Zeit gewannen dabei aktuelle Themen der Stiftungsarbeit wie Social Design, Stadtentwicklung und Cirular Society immer mehr an Bedeutung. Diese Themen sind aktuell die Schwerpunkte der Stiftungsarbeit geworden und werden nun auch redaktionell auf- und beabeitet. Wer die Stiftungsarbeit also weiterhin verfolgen möchte, ist herzlich eingeladen dies auf www.socialdesign.de zu tun.  Die Seite relaio.de wird daher nicht weiter aktualisiert, bleibt aber in ihrer aktuellen Form erhalten. Die Plattform hat viele angehende Sozialunternehmer*innen und Pioniere des Wandels begleitet, ihnen Wissen zur Verfügung gestellt und versucht, ihnen neue Richtungen aufzuzeigen, die hierfür erarbeiteten Inhalte sollen daher auch anderen noch zur Verfügung stehen.  
An dieser Stelle möchte sich relaio zudem bei allen Leser*innen, Interviewpartner*innen und ehemaligen Mitarbeiter*innen bedanken – ohne euch wäre diese Plattform nicht so bunt, vielseitig und spannend geworden.  

Für uns heißt es jetzt aber Abschied nehmen, mach´s  gut relaio! 

 

Circular Cities

13. Mai 2020 By

Um gegen Ressourcenverschwendung vorzugehen, nehmen sich viele Städte eine Circular Economy zum Vorbild. Doch damit daraus eine vielversprechende Nachhaltigkeitsstrategie werden kann, muss auch die gesellschaftliche Komponente integriert werden.

Die Zukunft der Menschheit wird in Städten liegen: Im Jahr 2008 lebten weltweit zum ersten Mal mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Und dieser Trend setzt sich fort – die Stadtbevölkerung wird sich Prognosen der UN zufolge bis 2050 weltweit von heute knapp 4 Milliarden auf zukünftige 6,5 Milliarden vergrößern. Mehr als  zwei Drittel der Menschheit wird dann in Städten wohnen. Am dynamischsten wird diese Verstädterung dabei in den Schwellen- und Entwicklungsländern Afrikas und Asiens verlaufen. In vielen Ländern erfolgt das rasante Wachstum der Städte dabei durch den Zuzug der Landbevölkerung, wobei häufig informelle Siedlungen entstehen und bestehende Slums wachsen. Mit der Einwohnerzahl wächst dadurch auch die soziale Ungleichheit ungehindert.

Städte als Zentren der Take-Make-Waste Ökonomie

Doch bereits heutzutage sind Städte nicht nur Orte sozialer Ungleichheiten, sondern sie tragen auch zu massiven Umweltbelastungen bei und sind mitverantwortlich für das Voranschreiten des Klimawandels. Denn als global beherrschende räumliche Form menschlichen Zusammenlebens sind Städte auch Zentren der Produktion und des Konsums, was sie zu Kristallisationspunkten für die Probleme des linearen kapitalistischen Wirtschaftsmodells macht. Aktuellen Schätzungen zufolge werden in Städten 60 bis 80 Prozent der abgebauten natürlichen Ressourcen verbraucht, 50 Prozent des globalen Müllaufkommens produziert und zwischen 60 und 75 Prozent der weltweiten Treibhausgase ausgestoßen. Städte sind verantwortlich für die Versiegelung großer Flächen, den Verlust von biologischer Diversität und die Anreicherung von langlebigen, menschengemachten Schadstoffen in der Natur, wie zum Beispiel Quecksilber und Plastikrückständen.

Hinzu kommen Verschmutzungen der Atemluft und die Übernutzung und Verunreinigung von Wasserressourcen. Während Städte weltweit weniger als 3 Prozent der Landfläche der Erde bedecken, betreffen diese Effekte weitreichende Regionen. Städte externalisieren dabei bereits seit Jahrhunderten die Deckung ihres Ressourcenbedarfs und die Folgen ihrer Abfallproduktion, indem sie diese an entfernte Orte verlagern. Doch das „ökologische Hinterland“ der Städte umfasst mittlerweile den gesamten Planeten und die Aneignung von Ressourcen und die Verlagerung von Belastungen geschieht global.

Dabei sind Städte keineswegs nur Verursacher von Belastungen, sondern oft auch die Hauptleidtragenden von diesen. Fast 90 Prozent aller Stadtflächen befinden sich in Küstenregionen und sind damit besonders gefährdet für einen Meeresspiegelanstieg und andere durch den Klimawandel ausgelöste oder verstärkte Extremwettereignisse wie Wirbelstürme und Starkregenereignisse. Aber auch Dürren und Hitzewellen treffen Städte besonders hart, da in Städten oft kühlende Grünflächen fehlen und sich Beton und Asphalt ungehindert aufheizt. Die Temperatur in Städten liegt damit oft um mehrere Grad Celsius höher als im Umland und kann bei heißem Wetter zu nicht zu unterschätzenden gesundheitlichen Auswirkungen für die Bevölkerung führen. Immer mehr Städte stellen daher diese Situation angesichts der drohenden Klimarisiken, Umweltverschmutzungen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Versorgungsrisiken zunehmend in Frage.

Das Konzept der Circular Economy

In den letzten Jahren hat das Konzept der „Circular Economy” große Popularität in der Wirtschaftswelt erfahren und dadurch auch Beachtung bei Kommunen gefunden, die versuchen, resiliente Infrastrukturen auf- und internationale, nationale und regionale Abhängigkeiten abzubauen. Die Circular Economy ist dabei ein Entwurf für ein Wirtschaftsmodell, bei dem versucht wird, Produktion und Konsum in Kreisläufe zu überführen und so von Ressourcenverbrauch und Umweltbelastungen zu entkoppeln. Sie steht damit im Gegensatz zur gegenwärtigen linearen oder „Take-Make-Waste“ Ökonomie, bei der die wirtschaftliche Aktivität auf Kosten der Umwelt geht. Der Grundgedanke einer in geschlossenen Kreisläufen arbeitenden Wirtschaft ist dabei bereits in den 1960er und 1970er Jahren aufgekommen und wurde in den folgenden Jahrzehnten in Ansätzen in Form einer Recyclingwirtschaft in der deutschen und japanischen Wirtschaft umgesetzt. Eine weitere Entwicklung und Verbreitung der Idee einer Kreislaufwirtschaft geschah aber vor allem angesichts der wachsenden Umweltprobleme und Ressourcenknappheit in den 2010er Jahren.

In einer zirkulären Wirtschaft werden Rohstoffe dauerhaft werterhaltend in Kreisläufen gehalten, Abfälle werden so vermieden.

So wird eine Kreislaufwirtschaft mittlerweile in Schriften des Weltwirtschaftsforums und der EU diskutiert, von Beratungsunternehmen wie McKinsey beworben und international von Politiker*Innen wahrgenommen. Die wirtschaftsnahe Ellen Mac Arthur Foundation hat dabei mit dem RESOLVE-Ansatz einen wesentlichen Beitrag zur weiteren Ausarbeitung dieses Wirtschaftsmodells geleistet. Dieser basiert auf drei Prinzipien: Der Bewahrung und Wiederherstellung des natürlichen Kapitals, die Optimierung der Ressourcennutzung durch eine hochwertige Kreislaufnutzung und das Ausschalten und Wegdesignen von negativen Externalitäten. Die Umsetzung dieser Prinzipien soll durch sechs konkrete Strategien erfolgen:

  • Regenerate: Umstellung auf erneuerbare Energie und Materialien; Regeneration der Ökosysteme und Rückführung der wiedergewonnenen biologischen Ressourcen in die Biosphäre.
  • Share: Verlängerung und Intensivierung der Nutzung von Produkten im Kreislauf durch den gemeinsamen Gebrauch durch verschiedene Benutzer.
  • Optimise: Erhöhung der Leistung und Effizienz eines Produkts; Beseitigung von Verschwendung in der Produktion und Lieferkette; Nutzung von Big Data
  • Loop: Design auf Langlebigkeit und Wiederverwendbarkeit nach Ende der Nutzung, Halten von Komponenten und Materialien in geschlossenen Kreisläufen (Wiederverwendung, Recycling, Rückgewinnung, Wiederaufarbeitung).
  • Virtualise: Dematerialisierung der Ressourcennutzung durch virtuelle Bereitstellung.
  • Exchange: Ersetzung von Produkten und Dienstleistungen durch ressourcenschonendere Optionen.

Auf diese Weise soll die Circular Economy dazu beitragen, durch effektive und regenerative Rückführung Ressourcen zu schonen und Abfall zu vermeiden. Verlängerte Nutzungs- und Lebensdauern sowie neue Serviceangebote tragen dazu bei, Produktion und Konsum zu „entschleunigen“.

Die Circular Economy in der Stadt?

Der Resolve Ansatz ist dabei allerdings stark auf die Produktion von Gütern ausgelegt. Dies ist nicht verwunderlich, da insbesondere international agierende Großkonzerne wie Google, Phillips, Renault, Danone, H&M und Unilever zu den Partnern der Ellen Mac Arthur Foundation gehören. Doch kann ein Ansatz dieser Art auch in Städten Anwendung finden? Kann er auch hier dazu beitragen, Müll und Verschmutzungen wegzudesignen, Materialien werterhaltend im Umlauf zu halten und natürliche Systeme in und um Städte herum zu regenerieren? Mehrere Kommunen in Europa versuchen bereits, zirkuläre Prozesse in ihren Städten aufzubauen und so zu einer „Circular City“ zu werden. So werden in Amsterdam Materialflüsse in der Stadt analysiert und Möglichkeiten gesucht, diese hochwertig zu schließen. Reparieren, Wiederverwendung und Sharingkonzepte werden dabei bevorzugt, es liegt jedoch auch ein Fokus auf innovativen Recyclingmethoden: So werden zum Beispiel Nährstoffe aus Lebensmittelabfällen zurückgeführt, Roh- und Mineralstoffe wie Phosphat, Zellulose, Nitrat und Proteine aus Klärschlamm wiedergewonnen und zum Teil die Bausubstanz von abgerissenen Häusern wiederverwendet. Die recycelten Ressourcen werden dabei auf städtischem und regionalem Niveau in Kreisläufe integriert. Auch die Stadt Glasgow geht ähnliche Wege und plant, aus überschüssiger Hitzeenergie aus Bäckereien Strom zurückzugewinnen, nährstoffreiches Abwasser aus Aquakulturen als Dünger für die Landwirtschaft zu verwenden und weggeworfenes Brot zu Bier zu fermentieren. Diese Beispiele verdeutlichen, dass Städte durch ihre Nahräumlichkeit und Dichte gute Voraussetzungen bieten, um technische und biologische Kreisläufen lokal zu schließen.

Biologische und technische Kreisläufe ermöglichen eine langanhaltende Nutzung von Rohstoff und Materialflüssen.

Bei der Integration einer Kreislaufwirtschaft in Städten ist es aber darüber hinaus wichtig zu betrachten, dass Städte nicht nur Orte der Produktion, sondern vor allem auch des Konsums sind. Und wenn eine Stadt wirklich eine „Circular City“ werden will, muss auch mitgedacht werden, wie städtische Infrastrukturen, urbane Mobilität, Energiesysteme und die gebaute Umwelt in zirkuläre Muster überführt werden können. Während diese Bereiche in für die Stadt optimierten Circular Economy Frameworks Beachtung finden, gibt es eine Ressource, die bisher in diesen außen vor gelassen wird: Land.

Kritik an der Circular Economy

Der Grund und Boden ist in vielen hochbevölkerten und dichtbebauten Städten gleichzeitig das wichtigste und knappste Gut. Dabei spielt es nicht nur eine Rolle, wie etwa durch Kontaminierung oder durch Leerstand ungenutzte Flächen wieder aufbereitet und einer Verwendung zugeführt werden können, sondern es adressiert auch das Thema Bodenbesitz. 

Auf welche Weise kann Land in Kreisläufe integriert werden, so dass sie für ökologische Ausgleichsflächen oder für dringend benötigten Wohnraum für ökonomisch schlechter Gestellte zur Verfügung stehen?

Diese Frage bleibt bei gegenwärtigen Konzeptualisierungen einer Circular City und einer Circular Economy unbeantwortet. Dies wirft aber Licht auf einen zentralen Kritikpunkt an diesen Strategien: Als unverändert markt- und rein wirtschaftsorientiertes Modell gibt eine Circular Economy keine Lösungen für tiefgreifende soziale Probleme. Vielmehr stellt eine Circular Economy eine ökologisierte, technologische Lösung für das Versagen des globalen Kapitalismus in Bezug auf die Bewahrung natürlicher Ressourcen dar. Um aber zu echter Nachhaltigkeit beizutragen, müssten Aspekte wie Teilhabe, soziale Gerechtigkeit und Lebensqualität integriert werden. Dies trifft auch auf die bisherigen Versuche von Kommunen zu, Kreisläufe in Städten als Kreislaufwirtschaft zu schließen. So reproduzieren die verbreiteten Circular City-Konzepte oft den technisch-wirtschaftlichen Ansatz aus der Circular Economy und sind als von der Politik und Verwaltung entwickelte Strategiebilder meist als top-down angelegte Prozesse konzipiert, die wenig Raum für Anliegen und Mitsprache der Bürger*Innen einer Stadt lassen.

Transformatives Potential einer Urban Circular Society

Ein Problem in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist eine zirkuläre Wirtschaft und Gesellschaft, weit mehr als das lineare System, auf Kooperation, Zugänglichkeit und Solidarität angewiesen. Denn das Schließen von Kreisläufen birgt auch die Gefahr einer weitergehenden Machtkonzentration bei einigen wenigen, die dann neben Produktionsmechanismen auch die weitere Verwertung und Wiederverwendung von Ressourcen kontrollieren könnten. Das Schließen von Kreisläufen kann dadurch auch das Ausschließen von Teilen der Gesellschaft mit sich bringen. Dies ist umso mehr von Bedeutung, da zum anderen in vielen Regionen der Welt das Wachstum von Städten ohnehin mit einer steigenden Ungleichheit einhergeht.

Um das Potential von Zirkularität in vollem Umfang nutzen und um den notwendigen soziokulturellen Wandel verstehen und angehen zu können, ist es daher erforderlich, das wirtschaftliche Grundgerüst der Circular Economy um eine gesellschaftliche Dimension zu erweitern. Dafür eignen sich Städte als Transformationsfeld ideal, denn diese können selbst Orte sozialer und technischer Innovationen und Triebfeder gesellschaftlicher Umbrüche und Wandlungsprozesse sein. Sie haben „transformatives Potential“, um neue Wege in Richtung Nachhaltigkeit zu erproben und zu implementieren. Denn Städte sind Zentren zivilgesellschaftlicher Initiativen und Orte, an denen eine diverse Stadtgesellschaft Möglichkeitsräume suchen und finden kann, um neues Wissen und neue Praktiken zu entwickeln und zu erproben.

Aber wie kann dieses Potential genutzt werden und die Stadtbevölkerung an der Entwicklung zirkulärer Zukunftsszenarien beteiligt werden?

Zentral hierfür ist eine Integration und Beteiligung von Bürger*Innen in partizipativen Gestaltungsprozessen und die Ergänzung oder Ersetzung von kommunalen Top-Down Strategien durch Bottom-Up Initiativen und Grassroots Bewegungen. Hierfür ist es allerdings wichtig, die Bürger*Innen zu unterstützen und insbesondere subalterne und marginalisierte Gruppen zu empowern. Eine Strategie dabei ist es, diesen Akteur*Innen aus der Praxis Gewicht und Teilhabe bei der Wissensproduktion für Nachhaltigkeitsherausforderungen zusprechen. Experimentelle Ansätze wie Reallabore und partizipative Formen der Forschung wie eine „Citizen Science“ können dabei nicht nur die Expertise von tagtäglich mit diesen Herausforderungen konfrontierten Menschen adressieren, sondern bergen auch das Potential, die oftmals dominante Lücke zwischen Wissen und Handlung zu schließen.

In einer Circular Society wird eine Circular Economy um soziale Aspekte erweitert.

Auch die Bereitstellung einer adaptiven Infrastruktur zur Förderung neuer Formen der Organisation und Zusammenarbeit kann Bürger*Innen dazu befähigen, an der Entwicklung zirkulärer Praktiken teilzuhaben. Dies muss begleitet werden von einer Kultur der Transparenz und der Kooperation, die veränderte Denkweisen zulässt und wirkmächtig werden lässt. Dann nämlich haben Städte das Potential, nicht nur durch eine Circular Economy die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Umwelt zu minimieren, sondern auch im Sinne einer „Urban Circular Society“ die Gesellschaft in diesen Prozess mit einzubetten. Dafür kann es hilfreich sein, Städte nicht nur als Ort von Produktion und Konsum zu verstehen, sondern vielmehr als einen „urbanen Metabolismus“ zu begreifen. So kann die wirtschaftliche Perspektive vom Schließen von Stoff- und Ressourcenkreisläufen erweitert werden auf Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und Wirtschaft, zwischen Stadt und Umland und Technik und Umwelt.


(c) Alle Abildungen: Hans Sauer Stiftung

Der Klimawandel aus lokaler Perspektive

29. April 2020 By

Mitforschen bei KlimNet – Stadt und Land im Fluss

Es ist erst Ende April, doch die Warnsignale sind bereits deutlich: Beinahe flächendeckend herrscht in Deutschland derzeit eine mehr oder minder schwere Dürre. Von Mitte März bis Mitte April fielen vielerorts weniger als zehn Liter Regen pro Quadratmeter, Wärme und Wind haben die oberen Bodenregionen ausgetrocknet. Dadurch wächst die Waldbrandgefahr, in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen kam es bereits zu großen Einsätzen. Extreme Wetterereignisse sind auch in Deutschland längst keine Randphänomen mehr.

In Anbetracht dessen stellen sich auch Deutschland immer mehr Menschen die Frage: Wie können wir dem Klimawandel in unserer Stadt und unserer Region trotzen? Dazu haben die Ruhr-Universität Bochum (RUB), die Universität Bonn und der Wissenschaftsladen Bonn e.V. gemeinsam das Projekt KlimNet initiiert: Darin werden gemeinsam mit Bürger*innen Ideen und Strategien entwickelt, die Menschen zeigen, was sie tun können, um ihre Stadt an den Klimawandel anzupassen, bevor Jahrhunderthochwasser, Starkregen, langanhaltende Trockenheit oder Hitze bedrohlich werden.

Waldbrände treten auch in Deutschland immer häufiger auf. (c) Matt Howard

Prof. Dr. Andreas Rienow von der Ruhr-Universität Bochum schildert den Vorgang der Versiegelung: „Die Versiegelung in NRW nimmt weiterhin zu, auch wenn sie in den letzten Jahren ein wenig abgeschwächt wurde. Besonders stark ist das zu sehen, wenn wir uns anschauen, wie viel in Innenstädten gebaut wird, also die Verdichtung bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von Flächen nach außen. Es ist ein großes Problem, in einer Zeit zu leben, in der eben die Folgen des Klimawandels immer stärker zu spüren sind: Wir hatten dieses Jahr wieder keinen richtigen Winter, wir hatten in den letzten zwei, drei Jahren extreme Hitzeereignisse hier in Deutschland. Entsprechend sind die Folgen zu spüren. Das ereignet sich in verschiedenen Städten, unterscheidet sich aber oft innerhalb verschiedener Stadtteile: Dabei gibt es im wahrsten Sinne des Wortes Hotspots in den Städten, in denen wir tropische Nächte beobachten, die zunehmen, aber natürlich auch Starkregenereignisse, die den Keller volllaufen lassen.“

Gemeinsame Handlungsleitlinien für die Klimaanpassung entwickeln

Das beschäftigt Menschen in ihrem Alltag und in der Wissenschaft. Deshalb hat das bürgerwissenschaftliche Projekt KlimNet das Ziel, Wissen und Engagement aus unterschiedlichen Bereichen, also sowohl aus der Gesellschaft als auch der Wissenschaft, in Bezug auf Klimawandelanpassung zu mobilisieren. Damit können Bürger*innen aus diversen Zielgruppen über Facetten des Klimawandels in der eigenen Heimat informiert und sensibilisiert werden. Die Teilnehmenden generieren daraus Handlungsoptionen zur Klimaanpassung. Das gelingt durch drei verschiedene Teilprojekte: Die Bereitstellung von Informationen über den Klimawandel in der Region, die Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten mit dem Ziel einer klimaresilienten Stadt und die Umsetzung erster praxisorientierter Maßnahmen.

Teilnehmende identifizieren und kategorisieren Orte in ihrer Umgebung. (c) KlimNet

KlimNet wird aktuell in den Pilotstädten Bonn und Gelsenkirchen mit der Option auf Erweiterung durchgeführt. Durch die wissenschaftliche Basis verbunden mit praktischen Erfahrungen der Akteur*innen vor Ort können die Maßnahmen auf andere Städte übertragen werden.

Zur Bereitstellung der Informationen wurden Satellitendaten von 1985 bis heute hinsichtlich diverser Aspekte wie Bodenbedeckung, Dichtheit, Versiegelung und Nutzung analysiert, um Veränderungen der städtischen Gebiete zu beobachten und zu quantifizieren. Daraus ist ein webbasiertes interaktives geographisches Informationssystem (GIS) hervorgegangen. Anhand von aus Satellitenbildern abgeleiteten Daten zur Flächenversiegelung aus den Jahren 1985 bis 2017 können Nutzer*innen in ganz Nordrhein-Westfalen die Landnutzungen vergleichen. Durch das interaktive Web-Geoinformationssystem (WebGIS) mit zahlreichen Funktionen können die Bürger*innen selbst lokal Orte in der Stadt identifizieren und markieren, die entweder Handlungsbedarf aufweisen oder als gute Beispiele vorangehen. Außerdem werden darauf basierend gemeinsam Ideen entwickelt, wie mit den spürbaren Auswirkungen des Klimawandels umgegangen werden kann.

Ziel ist dabei auch, Handlungsleitlinien zu entwickeln, die das Projekt überdauern. Der daraus hervorgegangene Aktionsplan spricht unterschiedliche, wichtige Akteur*innen der Stadtgestaltung an: Für einige Leitlinien brauchte es ein Votum der Politik und die Kompetenz der Stadtverwaltung, für andere engagierte Unternehmer*innen und Verbandsvertreter*innen. Für wiederum andere ist nur die Lust, etwas im eigenen Umfeld zu verändern, notwendig. Deshalb ist im Projekt KlimNet die Zusammenarbeit zwischen Bürger*innen, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft notwendige Voraussetzung. Langfristig werden dabei alle Teilnehmenden auch für den Klimawandel an sich sensibilisiert, was neben der lokalen Klimawandelanpassung auch ein stärkeres Engagement für den Klimaschutz hervorbringt.

Bürger*innen als Forschende

Besonders am Projekt KlimNet ist die Einbindung von Bürger*innen als Forschende. Im Allgemeinen wird in Citizen-Science-Projekten Forschung unter Mithilfe oder komplett von interessierten Amateur*innen, teilweise auch professionellen Amateur*innen, durchgeführt. Die Bürgerforscher*innen formulieren dabei Forschungsfragen, melden Beobachtungen, führen Messungen durch, werten Daten aus und/oder verfassen Publikationen. Dabei ist die Einhaltung wissenschaftlicher Kriterien Voraussetzung. Bürgerwissenschaftliche Projekte binden Laien in wissenschaftliche Prozesse ein, was einerseits zur Produktion wissenschaftlich valider Daten und Analysen beiträgt.

Etwa 46 Prozent der Siedlungs- und Verkehrsflächen sind laut dem Umweltbundesamt versiegelt, das heißt bebaut, betoniert, asphaltiert, gepflastert oder anderweitig befestigt. Damit gehen wichtige Bodenfunktionen, vor allem die Wasserdurchlässigkeit und die Bodenfruchtbarkeit, verloren. (c) KlimNet

Andererseits wird der Bürgerwissenschaft aber vermehrt das Potential zugesprochen, das gesellschaftliche Verständnis für Wissenschaft und Forschung zu erhöhen und damit gesellschaftliche Herausforderungen aus Bürger*innensicht und aus der Perspektive der Wissenschaft neu bewerten zu können. Zudem wird von der Bürgerwissenschaft erwartet, dass sie einen positiven Einfluss auf die wissenschaftliche Bildung von Laien hat. Dies ermöglicht einerseits neue Erkenntnisse durch neue Kontexte, die Bürgerforscher*innen aus ihren Lebenswelten bringen, aber bei höherem Grad der Partizipation in bürgerwissenschaftlichen Projekten auch wissenschaftliche Projekte mit Fragestellungen, die gerade in regionalen oder lokalen Kontexten durch die Bedarfsgruppen selber ermittelt werden können.

Eine wissenschaftsoffene Haltung aus der Gesellschaft kann zu verstärktem Austausch und Wissensdiffusion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft führen, was Wissen in beiden Bereichen erweitern und damit Handlungsspielräume in demokratischen Diskursen verbessern kann.

Die eigene Umgebung neu entdecken

Genau um dieses Zusammenspiel geht es bei KlimNet, das die unterschiedlichen Erfahrungs- und Wertungsbereiche von Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Verwaltung mit einbezieht und damit Raum für gemeinsame, allgemein akzeptierte Lösungsvorschläge schafft.

Dafür ist auch ein hohes Maß an Eigeninitiative und Engagement seitens der Bürger*innen notwendig. Einer der Projektleiter erklärt, welche Menschen dabei mitmachen: „Einerseits sind das Bundesfreiwillige, die die Workshops als Seminarangebot wählen könnten. Diese waren besonders an den Geomethoden interessiert. Das Tolle daran ist, etwas so Pragmatisches mit einem idealistischen Thema, was die Klimaanapassung ist, zu koppeln und die jungen Menschen für Themen der Nachhaltigkeit zu begeistern. Eine andere Gruppe ist über Aufrufe des Wissenschaftsladen Bonn und der Stadt Gelsenkirchen gekommen: Jugendliche, die einfach Interesse an der Thematik haben, die teilweise auch aus „Problemvierteln“ kommen. Deren Interesse an Klimaanapassung war besonders beeindruckend, weil die ja wirklich oft auch noch ganz andere Probleme bis hin zu Existenzängsten haben. Weiter kommen natürlich auch immer Leute, die generell an Nachhaltigkeit, Umwelt und Entwicklungsthemen interessiert sind. Also generell sind das Menschen, die ihre Nachbarschaft nochmal mit anderen Augen entdecken wollen.“

Brachfällen stellen ein enormes Flächenpotential dar. (c) KlimNet

Für die Bürgerwissenschaftler*innen sieht Rienow zusätzlich den Anreiz, dass sie durch die intensive Beschäftigung mit den Entwicklungen auch in Diskussionen besser auf Grundlage von Fakten argumentieren können. Außerdem tragen die Projekte zur Gemeinschaftsbildung bei und oft lernen sich durch die Vernetzung Akteur*innen kennen, die diese Kontakte noch längerfristig nutzen können. Für die Wissenschaftler*innen bietet die Zusammenarbeit wiederum die Möglichkeit, die Öffentlichkeit aktiv in die wissenschaftliche Entwicklung einzubinden und damit Verständnis und Akzeptanz zu fördern, sowie, ganz praktisch, mehr Datenmaterial zu generieren und damit größere Flächen zu beobachten.

Andreas Rienow unterstreicht besonders das Alltagswissen, das für das Projekt unverzichtbar ist: „Aus räumlicher Perspektive gesprochen, kennen die Menschen einfach ihre eigene Nachbarschaft am besten und wissen, wie es noch vor zehn Jahren aussah, wo vielleicht Ecken sind, an denen sich immer Pfützen bilden, wo eben eine grüne Fläche auf einmal versiegelt wurde und ein Spielplatz entstanden ist, der die einen stört, die anderen aber begeistert, aber auch, wo man die Möglichkeit hätte, doch eine Fläche zu nutzen, die eigentlich nur brachliegt. Dieses räumliche Wissen ist enorm hilfreich und das können wir als Geographen optimal nutzen.“

Das Projekt KlimNet findet noch bis Juni 2020 statt – eine Verlängerung wird aktuell beantragt.


Titelbild: Beispielfoto Luftansicht Standsted, London. (c) Nik Ramzi Nik Hassan

Die Große Transformation

26. März 2020 By

Wie sich die Wirtschaft im Kapitalismus gegenüber seinen natürlichen und gesellschaftlichen Grundlagen verselbstständigt

Die Brände in Australien zum Jahreswechsel von 2019 zu 2020 waren eine ökologische und gesellschaftliche Katastrophe. Milliarden Lebewesen sind den Flammen zum Opfer gefallen und die Natur hat immense Schäden genommen. Die Angst, dass die dortigen Ökosysteme dauerhaft aus dem Gleichgewicht geraten, scheint berechtigt. Und zu der Dürre, die die Brände begünstigt hat, kamen gleichzeitig noch weitere, durch den Klimawandel ausgelöste Extremwetterereignisse wie Starkregenfälle und Überschwemmungen hinzu. Australien gehört damit zu den Industrieländern, die bereits jetzt am stärksten vom Klimawandel betroffen sind. Paradoxerweise gehört das Land auch zu den größten Verursachern des Klimawandels. Australien ist der zweitgrößte Exporteur von Steinkohle weltweit. Wenn die Verschmutzung durch diese Exporte berücksichtigt werden, ist das Land laut einer Studie der Australian Conservation Foundation mit seinen nur 25 Millionen Einwohnern für fünf Prozent der globalen Emissionen verantwortlich. Der Abbau von fossilen Brennstoffen geht dabei keineswegs zurück, sondern werden weitere Investments in den Abbau getätigt, darunter auch von deutschen Konzernen. Sowohl Wirtschaftsunternehmen als auch die Politik in Canberra weigern sich aber diesen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, der hier so nah wie selten zusammentrifft, anzuerkennen und zu bekämpfen. Stattdessen blockiert die australische Regierung zusammen mit den USA und Brasilien internationale Klimaübereinkommen, wie zuletzt in Madrid 2019. Und mit dem Ende der Feuerstürme fand bisher kein Umdenken statt.

Zwangsläufig stellt sich hier die Frage, wie die Politik und die Wirtschaft in Australien und in den anderen Industrieländern angesichts dieser Zerstörungen wie gewohnt weitermachen können. Denn der Raubbau an der Natur kommt einer gesellschaftlichen und ökologischen Selbstzerstörung gleich.  Um eine Antwort darauf zu finden, warum dies so ist,  wird in den vergangenen Jahren oft ein Klassiker der Wirtschaftssoziologie herangezogen, der aber nichts von seiner Aktualität verloren hat: Der österreich-ungarische Wirtschaftshistoriker und Soziologe Karl Polanyi lieferte bereits 1944 in seinem Hauptwerk „Die Große Transformation“ einen Erklärungsversuch für diesen selbstzerstörerischen Mechanismus. Er konstatiert hier, dass sich die Wirtschaftsordnung im kapitalistischen System in einem Langzeitprozess gegenüber seinen natürlichen und gesellschaftlichen Grundlagen verselbstständigt und sozialen Kontrollmechanismen entzogen hat. Zu dieser „Entbettung“ der Wirtschaft kam es während der Industriellen Revolution durch langfristige und tiefgreifende Eingriffe der politischen Eliten, so dass am Ende der großen Transformation nicht mehr die Gesellschaft die Ökonomie, sondern umgekehrt die Ökonomie die Gesellschaft bestimme.

Gesellschaftliche Einbettung der Wirtschaft

Doch wie sah es zuvor aus? In allen vormodernen Gesellschaftsordnung war die Wirtschaftsordnung durch soziale Beziehungen und Institutionen geordnet. So gab es laut Polanyi weder bei den frühen Hochkulturen der Antike, noch im feudalen Mittelalter oder dem Merkantilismus der frühen Neuzeit die Idee eines Marktes, der von Politik oder Gesellschaft unabhängig war. Stattdessen waren die Wirtschaftssysteme dieser Zeit stets Produkte der sozialen Strukturen, was er als „Einbettung“ der Wirtschaft in die Gesellschaft bezeichnet. Polanyi unterscheidet hier zwischen drei Wirtschaftsformen, die oft nebeneinander und nicht immer klar zu unterscheiden in Gesellschaften auftraten:

  • In redistributiven Systemen werden Produktion und Handel von einer zentralen Einheit wie einem Stammesführer, einem Feudalherrn oder einer Zunft gesteuert. Diese verteilen dann die Erträge an die Mitglieder ihrer Gesellschaft, wodurch die eigene Stellung legitimiert wird.
  • In einem reziproken System basiert der Austausch von Gütern auf dem wechselseitigen Austausch von Gaben und Geschenken zwischen sozialen Einheiten. Der gegenseitige, oft ritualisierte Austausch verfestigt die sozialen Beziehungen und hält diese aufrecht. Das Verhältnis zwischen den einzelnen sozialen Einheiten ist dabei nicht notwendigerweise egalitär, sondern durch komplexe Hierarchien und gegenseitige Abhängigkeit von mehr als zwei Gruppen gekennzeichnet. Dabei sind auch Fälle bekannt, in denen es zur Herausbildung von zirkulären Wirtschaftssystemen in Form von Tauschringen kam.
  • Als Haushaltssysteme werden Wirtschaftsformen bezeichnet, in denen die Produktion auf einzelne mehr oder weniger autarke Haushalte konzentriert ist. Familieneinheiten produzieren die Nahrungsmittel und Güter für ihren eigenen Gebrauch und Konsum, allerdings existiert dies oft als Mischform im Zusammenhang mit den beiden obigen Systemen

Gesellschaftliche Hierarchien schlagen sich in der Wirtschaft nieder und werden so verfestigt und reproduziert. Politik und Wirtschaft sind damit untrennbar miteinander verbunden. Das wird deutlich am Beispiel der mittelalterlichen, feudalen Gesellschaftsordnung, in der adelige Grundherren den Zugang über Land und Ressourcen beherrschten und über die Arbeitskraft ihrer Untertanen und Pächter verfügten. Aus dieser allumfassenden Ordnung gab es kein Emporarbeiten. Den ständischen Kollektiven ging es um den Machterhalt, den einfachen Landbevölkerung um den bloßen Lebensunterhalt. In ihrem wirtschaftlichen Handeln waren die einfachen Landbewohner damit unfrei, genauso wie in ihren gesellschaftlichen Positionen.

Neben diesen, die Wirtschaft ordnenden Prinzipen gab es aber auch immer Handel nach Marktmechanismen, also der Preisbildung durch Angebot und Nachfrage. Dies trifft insbesondere zu, wenn Waren mit Menschen außerhalb der eigenen Gesellschaft gehandelt wurden, die nicht selbst produziert werden konnten, was insbesondere auf den Fernhandel zutrifft.

Die Entbettung der Wirtschaft und Verselbstständigung gegenüber der Gesellschaft

Während alle vorherigen Gesellschaften auf der Welt in diese drei Wirtschaftsordnungen eingeordnet werden konnten, verortet Polanyi den Beginn des modernen Wirtschaftssystems nach dem Marktprinzip im Großbritannien zur Zeit der industriellen Revolution. Hier kommt es im 17. und 18. Jahrhunderts zu einem Umbruch, der zunächst einmal ein politischer ist. Das englische Parlament, in dem immer mehr niederer Adel vertreten war, entriss der Krone zunehmend die Macht, so dass die feudale Gesellschaftsordnung zu bröckeln begann und im Zuge der Aufklärung das Individuum gegenüber der ständischen Gesellschaft hervortrat. Wurde zuvor die ständische Ordnung als gottgegeben betrachtet, stand nun die Suche nach Naturgesetzen im Vordergrund, die auf die menschlichen Gesellschaften übertragen wurden.

Das englische Parlament erlaubte es den Grundherren zunehmend, das vorher von der Landbevölkerung gemeinschaftlich bewirtschaftete Land, die Allmende, einzuhegen und den Pächtern und abhängigen Bauern ihr Land wegzunehmen. Gleichzeitig wurde die Landbevölkerung aus ihrer Abhängigkeit befreit und die Freizügigkeit beschlossen – allerdings bei alternativloser Streichung der Armenfürsorge.

Hunger, Armut und Verelendung trieben weite Teile der Bevölkerung in die Lohnarbeit.

Für die wohlhabenden Landbesitzer fiel damit die Verpflichtung weg, für die Untertanen zu sorgen und aus den vielen verpachteten Kleinbetrieben wurden landwirtschaftliche Großbetriebe. In diesen wurde dann die weitaus profitablere Viehhaltung betrieben, wodurch aber die Kleinbauern zum Stillen ihres Lebensunterhaltes keinen Ackerbau mehr betreiben konnten. Dies wurde im Rückblick als eine „Revolution der Reichen gegen die Armen“ bezeichnet, weil die Landbevölkerung die Mittel verlor, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Hunger, Armut und Verelendung trieben dann weite Teile der Bevölkerung in die wachsenden Städte der beginnenden Industrialisierung sowie in die Lohnarbeit. Diese Einführung eines freien Arbeitsmarktes kommt in erster Linie durch den Zwang zur Lohnarbeit infolge der fehlenden Möglichkeiten zur Selbstversorgung zustande. Vor diesem Hintergrund kommt es nun zu drei bedeutenden Veränderungen:

  • Die Herausbildung einer scheinbaren Trennung zwischen einer Sphäre der Wirtschaft und einer der Politik. Die Marktwirtschaft wird dabei als ein sich selbst regulierender, freier Mechanismus betrachtet, der festen Gesetzmäßigkeiten folgt. Eine politische Einmischung in diese freie Entfaltung des Marktes wird als Störung betrachtet. Dabei wird allerdings außen vorgelassen, dass diese Trennung zwischen Politik und Wirtschaft selbst das Ergebnis eines politischen Prozesses ist. Nur durch einen erstarkenden Nationalstaat und heftige Einschnitte in die sozialen Strukturen war es möglich, die feudale und merkantile Ordnung niederzureißen und eine scheinbar freie Marktwirtschaft zu kreieren und aufrechtzuerhalten.
  • Mit der Vorstellung eines den Naturgesetzen folgenden Marktes kommt es nach Polanyi auch zu einem „emotionalen Glauben an die Spontaneität“ des Marktes und der Veränderung der ökonomischen Mentalität der Menschen hin zu einem scheinbar rationalen, Nutzen maximierenden Kalkül. Dies führt auch zur wirkmächtigen Entstehung des Mythos des Homo Oeconimicus, der arbeitet, um seinen Nutzen zu maximieren und nicht mehr, um sich in die soziale Ordnung einzufügen.
  • Arbeit, Boden und Geld wurden in zunehmenden Maße kommodifiziert, also zu Waren gemacht, die nach Angebot und Nachfrage am Markt gehandelt werden. Im Gegensatz zu anderen Waren, die durch menschliche Arbeit für den Verkauf hergestellt werden, nehmen diese drei Dinge aber eine Sonderrolle ein: Sie bilden vielmehr die Vorstufe jeder wirtschaftlichen Aktivität. Polanyi nennt diese deswegen „fiktive Waren“. Aber insbesondere Arbeit und Boden sind noch viel mehr: „Arbeitskraft und Boden bedeutet nichts anderes, als die Menschen selber, aus denen jede Gesellschaft besteht, und die natürliche Umgebung, in der sie existiert“ – sie stellen damit die Grundlage einer jeder Gesellschaft dar. Werden sie in den Marktmechanismus mit einbezogen, heißt das, dass die Substanz der Gesellschaft den Gesetzen des Marktes selbst untergeordnet wird.

Diese drei Veränderungen sorgten laut Polanyi dafür, dass sich die Gesellschaft, ausgehend von Großbritannien, in der titelgebenden „großen Transformation“ in eine Marktgesellschaft, verwandelt hat. In dieser bestimmt nicht mehr die Soziale Ordnung die Wirtschaft, sondern der Marktmechanismus die Gesellschaftsordnung. Diese verselbstständigte und entbettete Wirtschaft ist gemäß Polanyi der Grund, warum sich der moderne Kapitalismus in einen Mensch und Umwelt zerstörenden Modus begeben hat:

„Wenn man den Marktmechanismus als ausschließlichen Lenker des Schicksals der Menschen und ihrer natürlichen Umwelt […] zuließe, dann würde das zur Zerstörung der Gesellschaft führen.“

Was bringt uns dieses Wissen?

Karl Polanyis „Große Transformation“ ist eine historische Analyse, anhand der sich nachvollziehen lässt, wie es zur Herausbildung der modernen Marktgesellschaft kam. Wichtig dabei ist, dass Polanyi den Marktmechanismus, also die Preisbildung nach Angebot und Nachfrage, nicht per se kritisiert, sondern die Entbettung der Wirtschaft und den Verlust der politischen und sozialen Kontrolle. Um also den gegenwärtigen, umwelt- und gesellschaftszerstörenden Mechanismus der globalen Marktwirtschaft zu beenden, ist es daher nötig, die politische und soziale Kontrolle über die Wirtschaft wieder herzustellen. Zentral dabei ist es, besonders den Zugang zu den von Polanyi als fiktive Waren bezeichneten Grundlagen der Gesellschaft anders zu gestalten und in besonderen Märkten neu zu organisieren, um sie wieder zum Wohle der Gesellschaft in den Dienst zu nehmen. Dies trifft insbesondere auf das Gut Boden zu, womit die ganze Umwelt gemeint ist und das vor allem auch die Rechte zur Extraktion und Gewinnung von Ressourcen aus der Natur betrifft.

In der gegenwärtigen Diskussion um Nachhaltigkeit wird regelmäßig wieder auf Polanyi verwiesen. So steht etwa das Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) von 2011 unter dem Namen „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“. Darin wird die Notwendigkeit einer post-fossilen Wirtschaftsweise betont und Möglichkeiten hin zu einer Wende zur Nachhaltigkeit aufgezeigt. Dieses Gutachten ist ein zentraler Referenzpunkt für die deutschsprachige Nachhaltigkeitsdebatte und lehnt sich mit ihrem Transformationsverständnis in zentraler Stelle an Polanyi an. Doch das Gutachten ist in seinem Transformationsverständnis weitaus weniger radikal – es schweigt dazu, wie sich der gegenwärtige Kapitalismus gegenüber dessen gesellschaftlichen und natürlichen Grundlagen verselbstständigt hat. Doch für eine Überwindung des selbstzerstörerischen Zustands des Wirtschaftssystems wäre die Anerkennung dieses Zusammenhangs elementar.


(c) Alle Bilder: Wikimedia Commons. Beitragsbild: Coalbrookdale at night. Ölgemälde von Philipp Jakob Loutherbourg d. J.

Was kosten eigentlich Produkte?

11. März 2020 By

Im Wertschöpfungsverständnis der kapitalistischen Produktionsweise werden die Schäden, die dabei entstehen, nicht im Preis mit abgebildet. Wie kann das sein?

Was kosten eigentlich neue Produkte? Eine scheinbar leicht zu beantwortende Frage, denn die Kosten, die Konsument*innen dafür bezahlen müssen, sind meist offensichtlich auf dem Preisschild ausgezeichnet. Wenn das Unternehmen, welches das Produkt anbietet, wettbewerbsfähig arbeiten möchte, werden mit diesem Preis alle Kostenpunkte, die dem Unternehmen im Herstellungs- und Distributionsprozess anfallen, an die Konsument*innen weitergegeben. Und hinzukommt noch die Marge, mit der sich ein Gewinn durch den Verkauf des Produktes erzielen lässt. In dieser Logik schafft das Unternehmen durch die Weiterverarbeitung von Rohmaterialien, die Herstellung von Produkten und deren Verkauf einen Wert. Das Zusammenspiel all dieser Prozesse, die zusätzlich auch die Kosten für das Personalwesen, die Entwicklung neuer Technologien und die Unternehmensinfrastruktur beinhalten, wird als Wertschöpfungskette bezeichnet. Die Wertschöpfung an einem Produkt durch den Hersteller endet in den meisten Fällen mit dem Verkauf des Produktes an den Konsumenten. In manchen Fällen gibt es aber auch noch ein Aftersales-Geschäft, bei denen die Produzenten den Konsumenten weitere Dienstleistungen für die weiterführende Nutzung und Instandhaltung eines Produktes anbieten. Aber meist nimmt auch der Verdienst der Hersteller hier schnell ab.

Die Werschöpfungskette. (Eigene Illustration)

In dieser linearen Wertschöpfung entsteht Wert dadurch, dass zuvor scheinbar wertlose Natur durch menschliche Arbeit abgebaut, in physische Artefakte umgewandelt, veräußert und schlussendlich wieder entsorgt wird. Diese Form der Wertschöpfung wird auch als „Take, Make, Waste-Ökonomie“ bezeichnet, da die Ressourcen hierbei nicht wieder in die natürlichen Kreisläufe zurückgeführt werden.

Externe Kosten und Effekte

Hier fallen aber auch Kosten an, die nicht in der Preisbildung in der Wertschöpfungskette berücksichtigt werden und folglich nicht direkt vom Konsumierenden getragen werden. Wird zum Beispiel von einer Konsument*In in einem Café ein Coffee-to-go in einem Einwegbecher erworben, so sind in dem Preis, der dafür bezahlt wird, anteilig unter anderem die Kosten für den Anbau und die Ernte der Kaffeebohnen, deren Transport und Weiterverarbeitung, die Gewinnmarge des Kaffeeproduzenten, die Personalkosten des Cafés, die Miete für dessen Räumlichkeiten und die Anschaffung- und Instandhaltungskosten für die Kaffeemaschine enthalten. Wenn aber der Einwegbecher nach dem Konsum im Mülleimer oder auf der Straße landet, fallen auch Kosten für die öffentliche Müllentsorgung oder die Straßenreinigung an. Diese Kosten werden als externe Effekte bezeichnet, da sie nicht in der Kosten-Nutzen-Rechnung des Herstellers berücksichtigt werden. Aber trotzdem muss jemand dafür bezahlen: In dem Fall wird die Kosten für die Müllentsorgung und Straßenreinigung von den Steuerzahler*innen getragen und die externen Kosten so kompensiert. Die Beteiligten in der Wertschöpfungskette und die Konsumierenden profitieren dadurch, da sie nicht für die von Ihnen verursachten Kosten bezahlen müssen, wohingegen die Allgemeinheit für einen Schaden aufkommen muss, den sie nicht verursacht hat. Aber so einfach wie im Beispiel der Müllbeseitigung ist es meist nicht, denn die externen Effekte sind zahlreich und oft unüberschaubar. So fallen in der Wertschöpfungskette des Coffee-to-go eine kaum zu überblickende Menge von Kosten an: So finden zwar die Kosten für eine Rodung einer Anbaufläche für Kaffee Eingang in den Preis, nicht aber die Schäden am Ökosystem Regenwald, die dadurch entstehen. Und der Anteil für den Treibstoff, mit dem die gerösteten Kaffeebohnen über den Ozean verschifft werden, wird berücksichtigt, nicht aber die vom Containerschiff verursachte Luftverschmutzung. Im Prozess der Wertschöpfung entstehen so eine Vielzahl von Schäden, die nicht im Preis beinhaltet sind und für die der Endverbraucher auch nicht bezahlt.

Kritiker*innen des linearen Wirtschaftssystems sind sich dabei sicher: Die Schäden, die durch das wirtschaftliche Handeln entstehen, sind weitaus größer, als der produzierte Wert. Und während die geschaffenen Werte kurzfristig bestehen, sind die Schäden an Ökosystem und Gesellschaften oft langfristig und irreversibel.

Die Schäden, die im linearen Wirtschaftssytem entstehen, sind weitaus größer, als der produzierte Wert. (Eigene Illustration in Anlehnung an Jaeger Erben et al. 2019)

Externalisierung

Doch wie kann es sein, dass mehr Kosten und Schäden entstehen als Wert und Nutzen? Ein solcher Zusammenhang müsste doch klar als selbstzerstörerisch zu erkennen sein und würde unweigerlich zu einem Umdenken führen. Wie kann also ein Wirtschaftssystem funktionieren, das die realen Kosten der Produktion und des Konsums nicht mit abbildet sowie Schad- und Wertschöpfung nicht zusammen betrachtet?

Beim Versuch, diese Fragen zu beantworten, wird schnell klar, dass ein Zusammenhang oft nicht so klar zu erkennen ist, wie das bei einem Produkt, dass nur auf einmalige Benutzung ausgerichtet und dem Anfallen von mehr Müll der Fall ist. So ist zum Beispiel eine Häufung von Atemwegserkrankungen, für die das Gesundheitssystem aufkommen muss und unter denen Menschen leiden, auf den Schadstoffausstoß von Automobilen mit Verbrennungsmotoren zurückzuführen. Aber auch Emissionen aus der industriellen Produktion und der Energieerzeugung sorgen für Gesundheitsbelastungen, genau wie Alkoholkonsum, starkes Rauchen und auch Viren, Bakterien und Pilze. Entstehende Schäden sind somit nicht eindeutig auf eine Ursache zurückzuführen und es ist nicht einfach möglich, die Verantwortung für die Schäden einem Urheber zuzuschreiben.

In vielen Fällen treten aber Wert- und Schadschöpfung gar nicht erst gemeinsam auf. Dies wird deutlich, wenn besonders komplexe Wertschöpfungsketten betrachtet werden, wie zum Beispiel die Entwicklung, Produktion und Nutzung von Smartphones. Diese sind Hochtechnologieträger, in denen immens viel Forschungs-, Entwicklungs- und Designleistung steckt. An den Standorten der IT- und HightechIndustrie weltweit findet hier durch die Entwicklungsarbeit und anschließend in den Industrieländern durch Distribution und Verkauf eine immense Wertschöpfung statt. Aber in Smartphones stecken auch eine Menge aufwendig zu fördernder Rohstoffe und eine arbeitsintensiver Weiterverarbeitungs- und Produktionsprozess. Hier kommt es zu einer ganzen Reihe von Schadschöpfungen:

  • Beim Abbau von Mineralien und seltenen Erden kommt es zu Umweltschäden durch den Bergbau. Durch die Nutzung von Säuren zum Auswaschen des Gesteins fallen Giftschlämme als Abfallprodukt an, die langfristig Mensch und Umwelt toxisch belasten. Der Abbau der Rohstoffe findet dabei insbesondere in Schwellen- und Entwicklungsländern statt
  • Die Arbeitsbedingungen in den Abbaustätten sind oft gefährlich und es existieren wenige Sicherheitsvorkehrungen. Arbeitsunfälle und prekäre Arbeitsverhältnisse wie Kinderarbeit gehören zum Alltag
  • Die Förderung der Rohstoffe findet darüber hinaus oft in Krisengebieten statt. Die Gewinne aus der Förderung werden oft für Waffenkäufe verwendet und führen zur Fortführung der bewaffneten Konflikte
  • Beim Transport der Rohmaterialien hin zu den Produktionsstandorten fallen Co2 Emissionen und andere Umweltbelastungen an
  • An den Produktionsstandorten, die häufig in asiatischen Schwellenländern liegen, herrschen meist geringe Gesundheits- und Sozialstandards
  • Es kommt zu Umwelt- und Gesundheitsbelastungen durch die Nutzung von fossilen Energieträger zur Energieerzeugung bei der Herstellung
  • Weitere Emissionen durch Transport und Distribution
  • Energieverbrauch von Servern durch Internet Nutzung auf dem Smartphone
  • Ablenkung durch Smartphone Nutzung als häufigste Ursache für Verkehrsunfälle
  • Entwicklungsstörungen bei Jugendlichen und Stressbelastung bei Erwachsenen durch ständige Erreichbarkeit
  • Umwelt- und Gesundheitsschäden durch unsachgemäßes Recycling auf Elektromülldeponien in Entwicklungs- und Schwellenländern

Bei der der Betrachtung der Schadschöpfungskette wird deutlich, dass der größte Teil dieser Schäden in den Ländern anfallen, in denen Rohstoffgewinnung, Produktion und Entsorgung stattfinden. Bei diesen Ländern handelt es sich oft um Entwicklungs- oder Schwellenländer.

Dieser Zusammenhang ist dabei grundlegend für das Funktionieren eines globalisierten Wirtschaftssystems, das mehr Schäden produziert als Wert: Während die Wertschöpfung in den westlichen Industrienationen passiert und die Gewinne hierhin transferiert werden, wird die Schadschöpfung in die Länder der globalen Peripherie ausgelagert. Die Wertschöpfung erfolgt damit auf Kosten der Umwelt- und der Bevölkerung an anderen Orten und ermöglicht das angenehme Leben in den kapitalistischen Zentren. Dieser Zusammenhang wird in den Sozialwissenschaften als Externalisierungsprozess bezeichnet. Er stellt sich als ein globalisierter Ausbeutungsprozess dar, der aufgrund der weltweiten Machtasymmetrien zwischen den reichen Industrieländern und der globalen Peripherie möglich ist. Diese Ungleichheit wird dabei nicht nur ausgenutzt, sondern durch die entstehenden Schäden, durch die die Entwicklung in den Schwellen- und Entwicklungsländern gehemmt wird, auch noch verstärkt.

Die Ausblendung der tatsächlichen Kosten

Die Tatsache, dass andere hier und jetzt den Preis für das angenehme Leben in den kapitalistischen Zentren zahlen, wird aber in diesen weitestgehend ausgeblendet. Man sieht es einem Produkt nicht an, zu welchen Bedingungen es produziert wurde und welche Schäden dabei entstanden sind. Und oft genug versuchen die Hersteller*innen bewusst die Herkunft der Produkte oder deren Entstehungsumstände zu verschleiern. Doch auch diese Verdunklungsstrategien dürften eigentlich Konsument*innen nicht darüber hinwegtäuschen, dass andere Menschen an anderen Orten die vollen Kosten und Schäden für Produkte zu Dumpingpreisen tragen müssen. Doch laut dem Soziologen Stephan Lessenich ist es uns Menschen in den Industrienationen bereits so in Fleisch und Blut übergegangen, auf Kosten anderer zu leben, dass dies vorbewusst als gegeben wahrgenommen wird. Denn die Externalisierungsprozesse sind tief in der Wirtschaft, der Politik und der Mentalität der Menschen verwurzelt. Es wird auf Kosten anderer gelebt, weil man es kann – und weil man nicht anders kann. Denn es ist nicht so einfach, so zu konsumieren, wie man möchte und nicht jeder kann sich frei entscheiden, ethischen Konsum zu betreiben. Daher werden die Folgen ausgeblendet oder sogar durch eine Schuldumkehr legitimiert. So werden zum Beispiel die bewaffneten Konflikte in den östlichen Provinzen der demokratischen Republik Kongo in den westlichen Medien oft auf Spannungen zwischen ethnischen Gruppen zurückgeführt. Dass diese Konflikte wesentlich um den Zugang zu für die Elektronikindustrie wichtige Mineralienvorkommen geführt und aus den Einnahmen durch deren Abbau finanziert werden, wird hingegen oft ausgeblendet.

Ein ähnliche Schuldumkehr findet statt, wenn auf die hohen Emissionswerte von China aufmerksam gemacht wird – China belegt unter allen Ländern weltweit den Spitzenplatz für den höchsten Co2 Ausstoß. Aber 50% dieser Emissionen fällt bei der Herstellung von Konsumgütern an, die für ausländische Märkte produziert werden. Diese Emissionen stellen damit „outgesourcte“ Schadstoffausstöße aus, die eigentlich dem Land zur Last gelegt werden müssten, in denen sie konsumiert werden.

Wege aus der Krise

Das kapitalistische Wirtschaftssystem, das auf dem Internalisieren von Gewinnen und dem Externalisieren von Schäden beruht hat über Jahrzehnte in den Zentren für einen nie dagewesenen Wohlstand gesorgt. Doch es basiert auf einem Außen, das Quelle günstiger Rohstoffe, billiger Arbeitskräfte und bequemer Entsorgungsmöglichkeiten ist. Dieses Außen schwindet jedoch. So fungieren Schwellenländer wie China oder Indien zwar noch als Produktionsstätten der Weltwirtschaft – doch die dortigen wirtschaftlichen Eliten praktizieren mittlerweile einen vergleichbaren Lebensstil und auch der Wohlstand und Konsum der Mittelschicht wächst. Diese Länder treten damit in Konkurrenz um das Außen. Und auch die jahrzehntelange Schadschöpfung in den Entwicklungsländern fällt auf die kapitalistischen Zentren zurück. Umweltzerstörungen und durch Klimawandel hervorgerufene Extremwetterereignisse erschweren das Leben in diesen Ländern und immer weniger Menschen sind bereit, die Kosten für das Leben der anderen zu tragen, was sich unter anderem in Fluchtbewegungen nach Europa niederschlägt.

Der Erfolg der kapitalistischen Produktionsweise kommt also an seine Grenzen. Doch welche Wege könnten aus der Krise führen?

Preise müssen alle entstehenden Kosten abbilden, auch die Schäden, die in anderen Weltgegenden anfallen. Solange das nicht geschieht, wird Wertschöpfung immer auf den Schäden anderer basieren. Doch damit ergeben sich andere Probleme, unter anderem durch die Monetisierung der Schäden. Wie sind die Kosten für die Zerstörung einer Regenwaldfläche zu bewerten? Was kostet das Aussterben einer Art, was kann der monetäre Ausgleich für eine Stunde Fabrikarbeit und den widrigsten Bedingungen sein? Während die Bewertung dieser Schäden eine Herausforderung ist, würde die Einpreisung dieser Schäden in ein lineares Wirtschaftssystem zwangsläufig dafür sorgen, dass es sich nicht mehr „lohnt“. Langfristig kann also nur die Schließung von wirtschaftlichen und natürlichen Kreisläufen am Ende dieser Entwicklung stehen.


(c) Alle Bilder: Sebastian Preiß

Das Jahr der Nachhaltigkeit?! – Die wichtigsten Veränderungen 2020

15. Januar 2020 By

Klimaschutz, Mobilität, soziale Gerechtigkeit – 2020 ist das Jahr nachhaltiger Veränderung. Wir stellen wichtige Ereignisse und Themen vor. 

Ach wie schön! Das neue Jahr 2020 gewährt gleich zu Beginn seiner Tage ein bisschen Potential zu mehr Nachhaltigkeit. Jedenfalls dann, wenn man Teil einer Personengruppe ist, die eher zu den Aufheber*innen als zu den Wegwerfer*innen gehört. Zugegeben: Mag dem auch so sein, benötigt es zudem noch einer gewissen Verortung im extremen Flügel der ersten Gattung Mensch. Denn zur Entfaltung dieser Potentiale bedarf es einen Kalender aus keinem geringeren Jahr als 1992. Diese – und das ist nun die gute Nachricht – sind in ihrer Abfolge nämlich exakt identisch mit aktuellen Fabrikaten. Ehrlich gesagt, muss man aber zugegeben, dass es hinsichtlich der aktuellen Herausforderungen, in Sachen Umwelt, Soziales oder Mobilität schon etwas mehr bedarf, als bloß den alten Kalender wiederzuverwenden und ein zweites Mal aufzuhängen.

Kleines Erbe, große Herausforderung

Das neue Jahr und die Menschen, die es gestalten, dürften es dabei nicht leicht haben, dieses gewisse „mehr“ auch zu erreichen. Denn es gibt einiges aufzuholen, was in 2019 versäumt wurde. So haben es etwa die Teilnehmer*innen der letzten UN-Klimakonferenz in Madrid versäumt, klare und verbindliche Verpflichtungen für starken und vor allem mehr Klimaschutz auf den Weg zu bringen. Stattdessen wurde – frei übersetzt – „bekräftigt“, effektive und langfristige Klimaschutzziele und -pläne auf den Weg zu bringen. Symbolpolitik also, während gleichzeitig das Eis der Antarktis sechs Mal schneller schmilzt als noch vor 40 Jahren und die US-amerikanische Regierung den Ausstieg aus dem Pariser Abkommen besiegelt hat. Ebenso katastrophal waren und sind die antisemitischen und rechtsradikalen Terroranschläge, die nun untrennbar mit den Ortsnamen Christchurch und Halle an der Saale verbunden sind. 2020 wird daher zweifelsohne das Jahr, das sich genau damit auseinandersetzen muss; dass aufklären, vereinen und regeln muss.

Der Klimawandel bleibt auch in diesem Jahr eine wichtiges Thema. (c) Grafik/Bild: relaio/Markus Spiske, Datenquelle: ZDF-Politbarometer August, 2019

Klimaschutz auch weiterhin enorm wichtig

Klimaschutz dürfte dabei, wie auch schon 2019, weiterhin von der Allgemeinheit als wichtigstes Problem begriffen werden. Das nicht zuletzt angesichts des verheerenden Ausmaßes der australischen Buschbrände, die maßgeblich die ersten Schlagzeilen des Jahres 2020 geprägt haben. Auch politisch soll 2020 ein Jahr des Klimaschutzes werden. So beschloss die Bundesregierung im vergangenen Jahr einen Haushaltsplan für 2020, in dem das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit insgesamt mit Ausgaben von 2,97 Milliarden Euro planen kann, was eine Erhöhung um 30 Prozent der geplanten Vorjahresausgaben beträgt. Die gestiegenen Aufwendungen sollen unter anderem einen „signifikanten Mehraufwand“ für das Bundesministerium im Zuge der diesjährig anstehenden EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands bilden. Gleichzeitig sieht man darin eine „einzigartige Chance“, umweltpolitische Ziele „im Rahmen laufender Prozesse auf EU-Ebene voranzutreiben und eigene Prioritäten auf die EU-Agenda zu setzen.“ Weiter fallen verstärkt Ausgaben zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Ressourceneffizienz an. Neben diesen und weiteren Haushaltspunkten stehen auch ganz konkret spürbare Veränderungen an.

Deutsche Konsumenten verbrauchen immer weniger Plastiktüten. (c) Grafik: relaio / bag by S. Salinas from the Noun Project, Datenquelle: Gesellschaft für Verpackungsmarktforschung / kunststofftragetasche.info

So soll noch in diesem Jahr ein Gesetzentwurf ein Verbot von Plastiktüten an der Ladentheke durchsetzen. Im Klartext soll es ab diesem Jahr ein Verbot geben über das „Inverkehrbringen von leichten Kunststofftaschen“, die vor allem „dafür konzipiert und bestimmt sind, in der Verkaufsstelle gefüllt zu werden“. Gemeint sind damit Plastiktüten mit einer Wandstärke zwischen 15 und 50 Mikrometern, die meist schon nach einfacher Benutzung im Hausmüll landen. Die Bundesumweltministerin, Svenja Schulze, verspricht sich davon eine Reduzierung von rund 1,6 Milliarden Plastiktüten im Jahr.

Weniger ist mehr

Eine weitere, konkrete Veränderung sind die seit dem 01. Januar 2020, basierend auf einer neuen Verordnung der Europäischen Union, in Kraft getretenen, niedrigeren Grenzwerte für Neuwagen. Diese sinken nun auf 95 Gramm pro Kilometer sowie für kleinere Nutzfahrzeuge auf 145 Gramm CO2 pro Kilometer. Laut EU-Verordnung wird damit der Schadstoff-Ausstoß im Autoverkehr auf ein Level reduziert, mit dem nun „die im Übereinkommen von Paris verankerten Zielsetzungen“ verwirklicht werden.“ Ob das wirklich funktioniert, ist abzuwarten, denn letztlich handelt es sich hier nicht um die tatsächlich maximal erlaubte Emissions-Höchstwerte pro PKW und Nutzfahrzeug, sondern um einen „CO2-Emissionsdurchschnitt“. Konkret bedeutet das, dass ein neu zugelassenes Fahrzeug die angegeben Grenz-Durchschnittwerte durchaus überschreiten darf, solange diese von einem anderen Fahrzeug der sogenannten „EU-Flotte“ eines Automobilherstellers ausgeglichen werden. Buchstäblich gibt es aber trotzdem Grund zum Aufatmen.  Denn mehr als 120 Gramm CO2 darf kein PKW pro Kilometer erreichen, wenn dieser innerhalb der EU eine Neuzulassung erhalten will. Damit das auch wirklich passiert, gibt es ab diesem Jahr neue Messbedingungen für Neuzulassungen. Konkret dürfen die Grenzmesswerte an Stickoxiden unter realen Bedingungen nur das 1,5-Fache der Laborwerte betragen.

Bis 2030 sollen die Abgaswerte von KFZ-Neuzulassungen stark reduziert werden. (c) Grafik/Bild: relaio/Markus Spiske, Datenquelle: Europäische Union    

Verkehr soll aber insgesamt nicht nur umweltfreundlicher, sondern auch günstiger werden. Wer mit der Bahn unterwegs ist, kann sich deshalb seit dem 01. Januar über gesunkene Ticketpreise freuen. Günstiger wird der Preis pro Bahnfahrt aufgrund eines niedrigeren Mehrwertsteuersatzes von nun sieben anstatt 19 Prozent. Hier gibt es jedoch eine Einschränkung. Denn der steuerlich reduzierte Fahrpreis gilt nur für Bahnfahrten mit einer Mindestlänge von 51 Kilometern. Wer beim Pendeln darunter liegt, zahlt also auch weiterhin den gewohnten Preis. Sparen lässt sich dann aber dennoch. Denn auch die Bahncard 25 und 50 werden ab dem 01. Februar rund 10 Prozent günstiger. Eine Bahncard 25 etwa kostest dann anstatt 62 Euro nur noch 55,70 Euro. Günstiger werden zudem die Preise für Streckenzeitkarten, zur Mitnahme von Fahrrädern sowie für die Sitzplatzreservierungen. Die Preissenkungen sind eine direkte Folge des 2019 vorgestellten Klimaschutzpaketes der Bundesregierung, in dem eine Senkung der Fahrpreise auf einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz vorgeschlagen wurde.

Abgase und Rücksichtslosigkeit werden teurer

Gar nicht günstiger, sondern teurer soll hingegen das Reisen mit dem Flugzeug werden. So erhöht sich ab dem ersten April 2020 pro Flugticket die sogenannte Luftverkehrssteuer. Konkret bedeutet dies, dass innereuropäische Flüge zukünftig mit 13,03 Euro besteuert werden, was einer Erhöhung von 5,53 Euro entspricht. Für Flüge mit einer mittleren Distanz bis zu 6.000 Kilometern ist eine Erhöhung um 9,58 Euro auf 33,01 Euro geplant. Wer einen Langstreckenflug in Anspruch nehmen will, muss zukünftig sogar 17,25 Euro mehr Steuern entrichten, was einer Summe von 59,43 Euro entspricht. Mit der Steuererhöhung will die Bundesregierung einen weiteren Eckpunkt ihres Klimaschutzprogramms verwirklichen und mehr Anreize dafür schaffen, auf klimafreundliche Fortbewegungsmittel umzusteigen.

Wer sich nachhaltig fortbewegen will, sollte lieber Bahn fahren. (c) Grafik/Bild: relaio/ Deniz Altin, Datenquelle: Umweltbundesamt

Teurer wird es auch für diejenigen, die auf andere Verkehrsteilnehmer bisher eher weniger Rücksicht genommen haben. Laut einer Gesetzes-Novelle des Bundesverkehrsministeriums soll für das verbotswidrige Zuparken eines Rad- oder Gehwegs in Zukunft anstelle eines Bußgeldes von 20 Euro mindestens 55 Euro fällig werden und in Fällen mit verbundener Behinderung anderer oder Sachbeschädigung zahlt man sogar bis zu 100 Euro und kassiert einen Punkt in Flensburg. Tiefer in die Tasche greifen muss auch, wer keine Rettungsgasse bildet oder mit schweren Kraftfahrzeugen an Kreuzungen schneller als in Schrittgeschwindigkeit abbiegt.

Mehr Zugang bitte

Eine Sache sollte bei all diesen Bestrebungen nicht vergessen werden: Mobilität wird nicht nur besser, indem sie sauberer und sicherer wird, sondern auch indem sie zugänglicher, das heißt, offenerer ist für alle. Das ist bisher leider noch keineswegs der Fall. Nichts anderes lässt sich jedenfalls vermuten, wenn man in Betracht zieht, dass die Preise für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehr, laut dem Statistischen Bundesamt, ab dem Jahr 2000 bis 2018 um ganze 79 Prozent gestiegen sind, während sich die durchschnittlichen Erwerbs- und Unterhaltungskosten für PKW im gleichen Zeitraum lediglich um 36 Prozent erhöhten. Wer in München etwa vom Stadtrand in die Innenstadt pendeln muss, der zahlt, ohne Ermäßigung, für eine Monatskarte mindestens 55,20 Euro pro Monat – nicht selten aber auch mehr. Das ist gefährlich, denn teure Mobilität kommt auch einer Gesellschaft teuer zu stehen. Wer nicht mobil ist, kann weniger an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen – (denn) sie oder er kommt einfach nicht hin.

Seit dem Jahr 2000 haben sich die Kosten zur Nutzung des ÖPNV fast doppelt so stark verteuert, wie die Nutzungskosten für den Individualverkehr. (c) Grafik/Bild: relaio/Peter-Paul Moschik, Datenquelle: Statistisches Bundesamt

Dass Mobilität kein Luxusgut sein darf und eben auch für denjenigen mit schmalen Geldbeutel zugänglich sein sollte, haben jedoch bereits andere erkannt und nun in ersten, konkreten Maßnahmen umgesetzt. In Augsburg etwa können seit dem 01. Januar 2020 Fahrgäste in der sogenannten „City-Zone“ kostenfrei mit Bus und Straßenbahn fahren. In anderen Gegenden Europas wird die Gratisnutzung von Bus, Tram und Co sogar bald zur Ländersache. So kann man ab dem 01. März in ganz Luxemburg alle nationalen, öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, ohne dafür ein Ticket besitzen zu müssen.

Ein maximales Minimum

Gerechter werden soll aber nicht nur der Zugang zu Mobilität, sondern auch die Bezahlung für die eigens erbrachte Arbeit. Man muss nicht Marx gelesen haben, um zu wissen, dass nicht alle eine gerechte Entlohnung ihrer Arbeit erhalten und nicht zuletzt aufgrund von Lohndumping unter prekären Lebensbedingungen ihren Alltag bestreiten müssen (und nicht selten als Folge an eben diesem scheitern) . Um dem einen Riegel vorzuschieben wurde 2014 mit dem „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie“ ein Mindestlohn gesetzlich verankert. Dieser startete 2015 in einer Höhe von 8,50 Euro brutto pro geleisteter Zeitstunde. Nach mehreren Anpassungen wurde dieser ab dem 01. Januar 2020 nun auf 9,35 Euro angehoben. Neu ist ab diesem Jahr auch ein Mindestlohn für Auszubildende: So bekommen diese seit dem 01. Januar mindestens 515 Euro pro Monat im ersten Lehrjahr ausgezahlt.

Erstmals gibt es ab diesem Jahr auch für Auszubildende eine gesetzlichen Mindestlohn. (c) Grafik/Bild: relaio/Imelda, Datenquelle: §1 MiloG

Dass diese Anpassungen notwendig sind dürfte kaum zu bestreiten sein, ob sie hingegen ausreichen, steht auf einen anderen Blatt. In Angesicht der bundesweit stark steigenden Mietpreise, dürften hier berechtigte Zweifel bestehen. Die Folge: Für immer mehr Menschen geht der Großteil ihrer Einkünfte für die eigene Miete drauf, was bei durchschnittlichen Mietpreisen von bald schon 20 Euro pro Quadratmeter in Städten wie München kaum verwundern dürfte. Um das Leben in beliebten Ballungszentren trotz solcher Entwicklungen auch für Menschen ohne hohen Einkommen zu ermöglichen, greift seit dem 01. Januar die von der Bundesregierung initiierte Wohngeldreform. Nach dieser besitzen nun 180.000 Haushalte erstmals oder erneut Anspruch auf ein erhöhtes Wohngeld. Ob diese Anpassungen tatsächlich Gentrifizierung, Armut oder den Klimawandel aufhalten können, wird zu diskutieren sein. In 2020 gibt es dazu zum Glück noch genügend Zeit.


(c) Titelbild: Jon Tyson

Einsteigen, bitte: Wie können Bahn und Bus alle mitnehmen?

8. Januar 2020 By

Bessere Zugangsmöglichkeiten zu klimafreundlicher Mobilität beinhalten das Potential, soziale Ungerechtigkeiten ein Stück weit aufzubrechen

In München wurde der öffentliche Nahverkehr seit Mitte Dezember umgestellt – die Zeichen stehen auf einfacher Bedienung für die Nutzer*innen und pendlerfreundliche Bedingungen. Das ist ein wichtiges Signal für diejenigen, die sich auch nach jahrelangem S-Bahn-Haltestelle-Frieren und Entschuldigungen wegen wiederholten Zu-Spät-Kommens – weil die S-Bahn mal wieder 30 Minuten auf sich warten ließ – nicht für die Nutzung eines eigenen PKWs entschieden haben. Die Tarifumstellung verspricht günstigere Preise und bessere Verbindungen, insbesondere für Vielfahrer und damit noch mehr Anreize, das Auto stehen zu lassen oder gar nicht erst zu kaufen. Das ist ein guter Anlass, um sich zu fragen: Wie ungleich gestaltet sich der Zugang zum öffentlichen Nah- und Fernverkehr eigentlich bezüglich dem eigenem Einkommen?

Mobilität ist Voraussetzung für soziale Teilhabe: Ausflüge, Arbeit, Gesundheit, Kultur – das alles findet nicht direkt vor der eigenen Wohnungstür statt, sondern erfordert meist die Nutzung irgendeines Verkehrsmittels, sei es das Fahrrad, ein eigenes oder mit anderen geteiltes Fahrzeug oder der öffentliche Nahverkehr. Dabei birgt ein verlässlicher, für alle leistbarer ÖPNV die Chance, das Mittel der Wahl für alle Menschen unabhängig von Einkommen, sozialem Hintergrund und Lebensstil zu sein – ganz im Zeichen der Effizienz bringt ein Fahrzeug zu festgelegten Zeiten bei jedem Wetter maximal viele Menschen pünktlich zum Ort ihrer Wahl.

Unfair verteilte Gesundheitsrisiken belasten besonders mobilitätsarme Menschen

Die Emissionen aus dem PKW-Verkehr belasten Gesundheit und Klima. Besonders betroffen sind von den Konsequenzen oft Menschen, die durch geringes Einkommen vergleichsweise wenig zu den Emissionen beitragen. Ein Beispiel: Geringverdienende leben durch hohe Mietpreise oft an Stadträndern ( durch hohe Mobilitätskosten bleiben sie dort oft auch.) Dort sind sie den Lärm- und Abgasbelastungen durch Hauptverkehrsrouten an den Pforten der Stadt überproportional ausgesetzt. Somit sind diejenigen, die besonders wenig Zugang zu Mobilität haben, überproportional Schädigungen durch die Mobilität anderer ausgesetzt. Das belegen Zahlen einer repräsentativen Befragung zum Umweltbewusstsein des Umweltbundesamt und des Bundesumweltministeriums: 40 Prozent der Befragten mit niedrigem Einkommen fühlen sich demnach durch Lärm besonders belastet, aber nur 27 Prozent der Befragten mit hohen Einkommen. Auch von Luftverschmutzung fühlen sich Befragte mit niedrigem Einkommen (45 Prozent) deutlich stärker belastet als Menschen mit hohem Einkommen (28 Prozent).

Menschen mit geringerem Einkommen leben oft an den Rändern von Städten. (c) Pavel Nekoranec

Menschen mit geringen Einkommen wohnen also in Deutschland häufig dort, wo es laut, dreckig und wenig grün ist. Mögliche Langzeitfolgen von dauerhafter Lärm- und Abgasbelastung sind beispielsweise Gehörschäden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und Herzinfarkte.In der Verkehrsökologie nennt man dies „externe Effekte“ – das heißt, Kosten einer individuellen Handlung werden auf die Allgemeinheit, andere Räume oder Zeiten abgewälzt. Von einer Verkehrswende und damit weniger PKW-Verkehr könnten Bewohner*innen an den Stadträndern also direkt gesundheitlich profitieren, indem Lärm und Luftverschmutzung unter ihren Fenstern deutlich reduziert würden.

Auch Belastungen durch Klimaschädigungen treffen global und lokal, derzeit und in Zukunft als erstes diejenigen, die weniger auf ökonomische Resilienz zurückgreifen können: Sie sind es, die Wasserknappheit, Schädigungen durch Unwetter oder Preissteigerungen am stärksten und meist unmittelbar ausgesetzt sind.

Zwang zur Mobilität

Sozialpolitische Maßnahmen wie der Arbeitszwang bei Sozialhilfempfänger*innen verschärfen den Druck zur Mobilität und zwingenteilweise zu kriminalisiertem Verhalten – Schwarzfahren: Von den Hartz-VI-Empfänger*innen wird maximale Flexibilität bei der Arbeitssuche und -aufnahme verlangt, während der finanzielle Preis dafür teilweise schwer zu stemmen ist und mögliche Ausgaben in anderen Bereichen kürzt. Damit erfolgt weitere Ausgrenzung.

Das Münchner Sozialticket ist mit 30 Euro pro Monat eines der günstigeren in Deutschland: Trotzdem lässt die Differenz zur geplanten Hartz-VI-Ausgabe für Mobilität mit 34,95 Euro keine weiteren Ausflüge zu. In Hamburg kostet ein solches ermäßigtes Ticket 66,10 Euro. Dort könnte sich ein Hartz-IV-Empfänger dieses Monatsticket also gar nicht leisten, ohne in anderen Lebensbereichen (noch exzessiver) zu sparen. Um am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, sind bezahlbare, klimafreundliche Optionen für alle nötig.

In vielen ländlichen Regionen gibt es nur werktags Busverbindungen. (c) Jan Huber

Besonders im ländlichen Raum gestaltet sich Fortbewegung über weitere Strecken ohne eigenen PKW problematisch, meist unmöglich. Dadurch sind viele Menschen quasi „zwangsmobil“, denn eine Alternative zur Fortbewegung mit dem eigenen Auto ist eine Busverbindung am Tag nicht wirklich, wenn die Bushaltestelle zehn Kilometer entfernt ist.

Aber eine Bereitschaft zum Umdenken ist wohl da: 91 Prozent der Befragten in einer Studie zum Umweltbewusstsein sagen aus, dass das Leben besser werde, wenn der oder die Einzelne nicht mehr auf ein Auto angewiesen ist. Das Auto ist laut Studie nach wie vor das wichtigste Verkehrsmittel in Deutschland. 70 Prozent der Befragten nutzen es mehrmals in der Woche. Je nach Größe des Wohnorts – und damit je nach infrastrukturellen Möglichkeiten – können sich zudem zwischen 46 und 61 Prozent der Autofahrer vorstellen, auf Busse und Bahnen umzusteigen.

Die Frage der Finanzierung

Der öffentliche Verkehr ist teuer und nicht immer zuverlässig – bei einer Befragung des ARD-Deutschlandtrends wünschte sich die Hälfte der Deutschen den Ausbau von Bus- und Bahnlinien, um die Verkehrsprobleme in Deutschland in den Griff zu bekommen. Dafür muss selbstverständlich ein tragfähiges Konzept zur Finanzierung her, das die unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnisse und -belastungen miteinbezieht.

Dabei könnte miteinberechnet werden, wie viel das Autofahren die Allgemeinheit kostet. 180 Euro betragen die Schäden, die bei jeder Tonne ausgestoßenem Kohlendioxid entstehen. Damit verursachte der Kohlendioxidausstoß im Jahr 2016 164 Milliarden Euro Schaden in Deutschland. Umgerechnet würde damit ein Liter Benzin mit CO2-Emissionen von 2,37 kg 0,43 Euro mehr kosten – somit könnte die finanziell aufzubringende Leistung für das Autofahren durch diese Miteinberechnung immens steigen.

Studien des Umweltbundesamtes zeigen, dass Besserverdienende größere Autos besitzen, weitere Strecken fahren und häufiger Fernreisen via Flugzeug antreten. Es besteht also ein direkter Zusammenhang zwischen der Höhe des Einkommens und einem klimaschädlichen Verhalten. Eine Finanzierungsmöglichkeit könnte eine höhere CO2-Steuer im Verkehr sein. Das würde dazu führen, dass Personen, die viel mit dem eigenen PKW fahren oder oft das Flugzeug nutzen, dementsprechend mehr zahlen. Dieses Geld könnte wiederum für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs genutzt werden. Dabei ist aber darauf zu achten, dass diese Steuer nicht Geringverdienende oder wenig verdienende Mittelständler empfindlich trifft – ein Ausblick auf mögliche Auswirkungen ist die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich.

Ausbau des Nahverkehrs

Eine Sorge bei dem Vorstoß, öffentlichen Nahverkehr kostenlos anzubieten, ist eine massive Überlastung des Nahverkehrs. Die Sorge der Überbelastung ist hingegen aber auf vielen Straßen sowohl auf der Stadt als auf dem Land schon lange Realität (Staus, Abgas- und Lärmbelastung für Anwohner*innen, Belastung der Natur) und führt trotzdem ständig zu deren Ausbau. Ganz abgesehen von riesigen Parkplätzen und Straßen, die Quartiere und Landstriche durchtrennen und dadurch massiv einschränken und dem Umbau von öffentlichen Plätzen als Straßen, die Fußgänger und Radfahrer an den Rand drängen.

Realität auf vielen Straßen zur Rush Hour (c) Alexander Popov

In Deutschland gilt in der Verkehrspolitik die Parallelfinanzierung: Wenn der öffentliche Nahverkehr ausgebaut wird, wird gleichzeitig in den Ausbau von Möglichkeiten des Individualverkehrs mit dem Pkw investiert. Um aber den öffentlichen Verkehr tatsächlich als attraktivere Option gegenüber dem Individualverkehrs zu etablieren, müssten verkehrspolitische Entscheidungen für den öffentlichen Nahverkehr und gegen den Automobilverkehr getroffen werden. Beispielweise könnten milliardenschwere steuerliche Anreize für die Fahrt mit dem eigenen PKW wie die Pendlerpauschale, das Dienstwagenprivileg und die Dieselbesteuerung dem privaten Autoverkehr entzogen und dem öffentlichen Verkehr übertragen werden.

Einer aktuellen Studie des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen zufolge wurden seit der Bahnreform 1994 rund 150-mal mehr Straßenkilometer als Schienenkilometer gebaut. Wenn Prioritäten dahingehend anders gefällt werden, könnte das einer klimafreundlichen und sozial gerechteren Mobilität zugute kommen.

Mobilität für alle?

Eine Verkehrswende über Nacht ist wegen derzeitig nicht ausreichender Infrastruktur des öffentlichen Nahverkehrs noch nicht möglich. Die Mobilitätsforscherin Sophie Becker etwa schlägt als Übergangslösung eine einkommensabhängige Entfernungspauschale vor. Sie könnte für Geringverdiener, denen die Alternative zum Auto fehlt, auf 40 Cent pro Kilometer steigen, für Haushalte mit hohem Einkommen aber auf 15 Cent pro Kilometer sinken. Das könnte dazu führen, dass diejenigen, die sich das auch unmittelbar leisten könnten, das Auto durch diesen attraktiven Anreiz öfter stehen lassen. Fair wäre das insofern, da Besserverdienende in der Regel häufiger und in größeren Fahrzeugen unterwegs sind und somit durch das Nutzen vom eigenen Pkw dem Klima und der allgemeinen Gesundheit bisher stärker schaden als Geringverdienende. 

In Luxemburg wird kostenloser Nahverkehr ab März 2020 Realität: Einerseits, um die Städte leiser, schöner und sicherer zu machen, aber auch, um Mobilität für wirklich alle zu ermöglichen. Dafür sollen Bus oder Bahn zuverlässig und bequem fahren und dabei viel, viel billiger werden, als ins Auto zu steigen. Städte mit besten Verbindungen können somit wiederum mit gutem Gewissen viel Geld fürs Parken oder eine Innenstadt-Maut nehmen. In der estnischen Hauptstadt Tallinn können gemeldete Einwohner*innen schon seit 2013 kostenlos mit Bahn, Bus und Tram fahren. Auch in deutschen Städten wurde Vorstöße in diese Richtung zaghaft angegangen: In Hannover fuhren am ersten Adventssamstag alle kostenlos mit Bus und Bahn. Seit Dezember 2018 sind in Aschaffenburg für einen Zeitraum von zwei Jahren Busse und die Tram an jedem Samstag gratis. In Tübingen ist das gleiche seit Februar 2019 der Fall.              

Es ist lohnenswert und dringend notwendig, in öffentlichen Nah- und Fernverkehr zu investieren und damit tatsächlich klimafreundliche und sozial gerechte Politik zu betreiben. Denn: Zugang zu Mobilität darf nicht vom Wohnort, Autobesitz, Gesundheitszustand oder Geldbeutel abhängen. Leistbare und klimafreundliche Mobilität kann mehr Menschen mitnehmen und somit zu einer Verringerung des Umfangs der Schere zwischen Arm und Reich beitragen.

Von der Plastiktüte und dem Meer

11. Dezember 2019 By

Plastikmüll führt ohne Zweifel zu globalen Umweltschäden. Wer sinnvoll etwas dagegen unternehmen will, sollte mehr betreiben als reine Symbolpolitik.

Mit Plastik ist das so eine Sache. So bestechend die Vorteile von diesem Netz aus Polymeren auch sind, genauso verpönt ist mittlerweile dessen Verwendung geworden. Aber der Reihe nach: Zunächst einmal scheinen die positiven Eigenschaften von Kunststoffen zu bestechen. So sind sie sich für kaum eine Form zu schade und der Energieverbrauch während ihrer Herstellung ist nicht selten weniger hoch als so manche, vermeintlich nachhaltigere Alternative. Verkörpert werden diese scheinbaren Vorteile nicht selten etwa von der allbekannten Plastiktüte.

Aber ihre niedrigen Herstellungskosten, ihre leichte Verarbeitungsweise und ihre relative Langlebigkeit macht sie gleichzeitig zu einem Problem. Denn die Plastiktüte scheint fast schon ein bisschen zu beständig zu sein. Denn so ein Trageutensil braucht Jahrzehnte, bis es sich zu zersetzen beginnt und nicht selten landet es dort, wo es nicht hingehört: in der Natur. So wurde bereits 2010 in einer Studie der University of Georgia geschätzt, dass jährlich circa 4,8 bis 12,7 Millionen Tonnen an Kunststoffen in die Weltmeere gelangen und diese sich, im Falle eines weiterhin nachlässigen Umgangs mit Abfällen, bis 2025 auf insgesamt rund 250 Millionen Tonnen anhäufen werden. Die Studie besagt aber auch, dass sich dieser monströse und schwimmende Müllteppich um viele Millionen Tonnen reduzieren lässt.

Die Langlebigkeit von Kunststoffen bietet keineswegs nur Vorteile.  Grafik: PLASTIKATLAS | Plastikatlas 2019 / Nature, CC BY 4.0

So ließe sich die Größe dieses Müllbergs um 41 Prozent reduzieren, wenn die Top-20 der Länder mit dem größten Anteil ins Meer fehlgeleiteter Kunststoffe diese um 50 Prozent senken würden. Aber was hat das nun alles mit der Plastiktüte zu tun? Eine ganze Menge! Denn die wichtigste Erkenntnis der Studie besteht wohl darin, dass Plastik keineswegs ein nebensächliches Problem der Weltgemeinschaft ist, aber auch darin, dass in Plastikmüll ein Problem besteht, das sich eindämmen lässt, indem man nachhaltige Strategien zur Müllverwertung, samt passender Infrastruktur etabliert und noch viel besser: gar nicht mehr derart viel davon hinterlässt.

Ein guter Trend

Gerade bei Letzteren will die Bundesregierung nun etwas unternehmen und hat dafür einen neuen Gesetzesentwurf für weniger Plastikmüll und mehr Umweltschutz auf den Weg gebracht. Genauer sieht der Gesetzesentwurf vor, ein „Verbot des Inverkehrbringens von leichten Kunststofftaschen“ durchzusetzen, die vor allem „dafür konzipiert und bestimmt sind, in der Verkaufsstelle gefüllt zu werden“. Gemeint sind damit Plastiktüten mit einer Wandstärke von weniger als 50 Mikrometern, die meist nur einfach genutzt werden und nicht allzu selten nach dem Einkauf, zusammen mit dem anderen Verpackungsabfall, direkt in der Mülltonne landen. Immerhin benutzt laut Bundesumweltministerium jede*r Deutsche*r noch rund 20 solcher Tüten pro Jahr, was laut der Bundesumweltministerin Svenja Schulze eine jährliche Gesamtsumme von 1,6 Milliarden Plastiktüten ausmacht. Plastiktüten sind, laut Schulze, deshalb „der Inbegriff der Ressourcenverschwendung“ deren Aufkommen sie nun mit einem Verbot auf Null runterfahren will.

Deutsche Konsumenten verbrauchen immer weniger Plastiktüten. Grafik: relaio / bag by S. Salinas from the Noun Project, Datenquelle: Gesellschaft für Verpackungsmarktforschung / kunststofftragetasche.info

Das klingt ziemlich gut. Genauso gut wie der sich abzeichnende Trend eines geringeren Verbrauchs von Plastiktüten pro Kopf und Jahr. Waren es 2015 noch etwa 68 Stück, belief sich dieser 2018 nur noch auf 24 Stück – ein Rückgang von knapp 65 Prozent. Diese Rückläufigkeit ist vermutlich das Ergebnis der „Vereinbarung zur Verringerung des Verbrauchs von Kunststofftragetaschen“ zwischen Umweltministerium und dem Handelsverband Deutschland, die 2016 initiiert wurde und nun mit einem gesetzlichen Verbot weiter vorangebracht werden soll. Vereinbart wurde dabei etwa, dass Plastiktüten nicht mehr kostenlos über die Ladentheke gehen dürfen.

Umweltschutz ist keine Frage der Relevanz

Aber reicht das, was gut klingt, auch wirklich aus, um die Probleme mit dem Plastikmüll nachhaltig zu bekämpfen? Anders gefragt: Kann ein Verbot von Plastiktüten überhaupt etwas bewirken, um die schwimmenden Müllberge in den Weltmeeren zu reduzieren? Manche sind der Meinung, man müsse sich diese Frage erst gar nicht stellen. So ist der AfD-Bundestagsabgeordnete und Mitglied im Umweltausschuss, Andreas Bleck der Meinung: „Plastikabfälle, die eingesammelt und verwertet werden, stellen kaum oder keine Probleme für die Meere dar“. Dass der ganze Plastikmüll überhaupt ein Problem für die Weltmeere sei, liege „vornehmlich an afrikanischen und asiatischen Staaten, die weltweit zu den größten Verursachern gehören.“ Letztendlich hätte eine „fehlende Sensibilisierung der dortigen Bevölkerungen für die Umwelt“, dazu geführt, das Müll unachtsam in die dortigen Flüsse geworfen werde, somit in die Meere gelange und letztlich zu einem globalen und deshalb auch zu einem Problem hierzulande werden würde.

Deutschland gehört zu größten Produzenten von Kunststoffabfällen. Grafik: PLASTIKATLAS | Plastikatlas 2019 / Greenpeace, CC BY 4.0

Solche Behauptungen wollen nur allzu gerne die Verantwortung für die Zerstörung der eigenen Umwelt an das andere Ende der Welt schieben. Ihnen liegt der Denkfehler zu Grunde, dass man selbst keine Schuld an der Misere hat. Denn vergessen wird dabei, dass der Plastikmüll in Asien laut dem Plastikatlas 2019, der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) zu großen Teilen hierzulande verursacht wurde. So ist laut Studie Deutschland der drittgrößte Exporteur von Plastikmüll nach Asien – direkt hinter den USA und Japan. Genau genommen, verbrachte Deutschland allein 2018 etwa eine Millionen Tonnen Plastikabfälle ins Ausland. Hierzulande könnte das Bewusstsein im Umgang mit Plastikmüll demzufolge auch besser sein. Letztlich fielen laut Eurostat in Deutschland allein im Jahr 2017 pro Person etwa 38,36 Kilogramm Verpackungsmüll an. Insgesamt lag im gleichen Jahr die Summe aller Kunststoffabfälle, die in Deutschland nach Gebrauch im gewerblichen und haushaltsnahe Bereichen anfielen, bei rund 5,2 Millionen Tonnen. Laut dem Plastikatlas 2019 wurden davon gerade einmal 810.000 Tonnen wiederverwertet, was lediglich einem Anteil von 15,6 Prozent des genannten Gesamtmüllaufkommens ausmacht. Der Großteil weiterer Kunststoffabfälle wurde verbrannt – ganze 3,15 Millionen Tonnen.

Zuviel Plastikabfälle werden verbrannt oder verschifft. Grafik: PLASTIKATLAS | Plastikatlas 2019 / CONVERSIO, CC BY 4.0

Das Bewusstsein ist entscheidend

Ob ein Verbot der Plastiktüte solche Summen reduzieren kann scheint zunächst fraglich zu sein. So verweist das Bundesumweltamt auf die Zahlen einer weiteren Studie, nach denen der Plastiktütenanteil am Gesamtvolumen des jährlichen Kunststoffmülls nicht einmal ein Prozent ausmacht. Selbst wenn nur der Kunststoffmüll aus Folienprodukten betrachtet wird, ist der Anteil an Plastiktüten, genauer genommen an Polyethylen (PE) – das für die Herstellung von Plastiktüten oftmals Verwendung findet – kaum höher als sechs Prozent. Erschwerend kommt hinzu, dass sich das gesetzliche Verbot der Tragetaschen nur auf solche mit einer Folienstärke von 15 bis 50 Mikrometern bezieht. Im Klartext heißt das: Die deutlich dünneren Obst- und Gemüsetüten sowie die deutlichen dickeren Mehrwegtaschen, dürfen auch weiterhin in den Verkehr gebracht werden. Wenn man diese verbieten würde, so Umweltministerin Schulze, dann würden etwa „Birnen wieder in kleineren Gebinden verpackt werden“ und das „würde zu mehr Verpackungsabfall führen.“ Auch bei den dickeren Kunststoffmehrwegtüten, sieht man keine Notwendigkeit zum Verbot, denn „die Zukunft ist eindeutig Mehrweg“, so Schulze. Nicht zuletzt weil recycelte Kunststoffe so nicht im Müll landen, sondern einer sinnvollen Wiederverwendung zugeführt werden.

Das mag zwar plausibel erscheinen, dennoch schafft es der Gesetzesentwurf aber kaum über das Wesen von Symbolpolitik hinaus. Denn ist ein Verbot zwar gut gemeint, bleibt es inkonsequent. Nicht nur weil Deutschland trotz dessen auch weiterhin einen Spitzenplatz in der Plastikmüllerzeugung einnimmt, sondern auch, da die beworbenen Alternativen oftmals gar keine sind. So muss die nun vielerorts angebotene Papiertüte im Vergleich zu einer einmaligen Nutzung der bald verbotenen Plastiktüte vier Mal so häufig verwendet werden, damit sie eine bessere Ökobilanz als diese besitzt.

Kunststoffe sind ein wesentlicher Bestandteil des an Meeresküsten angespülten Mülls. Grafik: PLASTIKATLAS | Plastikatlas 2019 / EC, CC BY 4.0

Das schafft sie aber aufgrund ihrer mangelnden Strapazierfähigkeit meist gar nicht.Das spricht jedoch keineswegs für die Plastiktüte, sondern für einen anderen Umgang mit vorhanden Ressourcen und somit für ein stärkeres Umweltbewusstsein. Eines bei dem, soweit wie es geht, auf Kunststoffe aller Art verzichtet wird und vielleicht wieder eine Stofftüte zum täglichen Einkauf ganz selbstverständlich dazu gehört. Ganz sicher aber wird es dem Meer gut tun. So gibt es zwar keine genauen Zahlen darüber, wieviel Plastiktüten tatsächlich in die Weltmeere gelangen, jedoch ergeben wissenschaftliche Beobachtungen, dass Kunststoffe den größten Anteil des an Küsten angeschwemmten Mülls ausmachen – nicht zuletzt aufgrund der dabei gefundenen Tragetaschen. Zeit also, Abschied zu nehmen.

Shoppen für eine bessere Welt

15. November 2019 By

Das Fairtrade-Siegel: Kann man den Ansprüchen an wirtschaftliches Wachstum, Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit im landwirtschaftlichen Anbau genügen?

Nachhaltiger Konsum liegt im Trend – auch auf Instagram muss man sich mit den entsprechenden Follower*innen schnell mal für den Avocado-Konsum rechtfertigen. Während zunehmend viele Konsument*innen Aspekte wie Regionalität, Saisonalität und den Einsatz von Pestiziden im Blick haben, wird die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit im Anbau nicht mehr ganz so oft gestellt. Weltläden wirken heutzutage etwas folkloristisch und passen damit nicht ganz zum hip-minimalistischen Zeitgeist.

Dabei werden Fairtrade-Produkte, die man inzwischen außer in den Weltläden auch in unterschiedlichsten Supermärkten findet, noch immer stark befürwortet: In einer Studie des Magazins Utopia gaben 81 Prozent der Befragten an, dem Fairtrade-Siegel zu vertrauen. Laut dem Netzwerk Forum Fairer Handel stammt heute jede zwanzigste Tasse Kaffee in Deutschland aus fairem Handel und 14 Prozent der in Deutschland verkauften Bananen sind schon Fair-Trade-Produkte. Zu Fairtrade-zertifizierten Produkten zählen im Bereich der Lebensmittel Kaffee, Bananen oder Kakao – also Produkte, die aus dem außereuropäischen Ausland bezogen werden können, aber auch Gewürze, Milch oder Schnittblumen.

Durchschnittlich 12 Kilo Bananen isst jede*r Deutsche* im Jahr.

Was steckt hinter der Zertifizierung?

Kleinbäuer*innen in Entwicklungsländern sind aufgrund mangelnder Infrastruktur, geringen Absatzmengen und fehlendem Zugang zu Informationen über das Marktgeschehen größtenteils vom Welthandel ausgeschlossen. Um die Produkte überhaupt verkaufen zu können, müssen sie sich oft in ein Abhängigkeitsverhältnis von Zwischenhändler*innen, die mitunter die einzige Informationsquelle über beispielsweise den Marktpreis sind, begeben.

Die Grundidee beim Fairen Handel ist also die Etablierung von Produzent*innen als gleichberechtigte Akteur*innen im Welthandel. Die Importorganisationen sind somit für die Einhaltung der Standards sowie die Organisation vom Import in die Konsumentenländer verantwortlich

Das Konzept des fairen Handels orientiert sich am Modell der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit: Ökologie – demErhalt von Natur beziehungsweise Ökosystemen für nachfolgende Generationen, Ökonomie – dem verantwortungsvollen Umgang mit wirtschaftlichen Ressourcen mit dem Ziel der Wohlstandsmehrung und Soziales – der Entwicklung einer Gesellschaft, in der alle Mitglieder gleichermaßen partizipieren. Um die Erfüllung dieser Prinzipien zu garantieren, gibt es bestimmte Richtlinien wie beispielsweise die Festsetzung eines Mindestpreises für die Produkte oder das Einhalten von festgelegten Umweltstandards. An diese Richtlinien müssen sich Produzent*innen und Vertreiber*innen, also die Importorganisationen, halten, um das Fair-Trade-Siegel erhalten zu können.

Der Zusammenschluss von Kleinbäuer*innen in Kooperativen führt zu mehr Selbstbestimmung und einer erleichterten Organisation ihrer Arbeit. Somit können die Handelsbeziehungen mit den Importorganisationen in den Kooperativen, an denen alle Produzenten mit beteiligt sind, organisiert werden. Der höhere Erlös durch faire Löhne, die den Lebenshaltungskosten der Produzenten entsprechen sollen, wird etwain den Bau von Schulen investiert. Damit kann ein Mehrwert für die ganze Gesellschaft, in der die Produzenten leben, geschaffen werden. Außerdem fördert der Zusammenschluss in Kooperativen die Solidarität innerhalb der Gesellschaft. Wichtig ist hierbei, dass die fairen Arbeitsbedingungen und Löhne nicht nur für die Produzent*innen, etwa für den oder die Betreiber*in einer Plantage, sondern auch für dessen Arbeiter*innen geltend gemacht werden müssen. „Faire“ Arbeitsbedingungen begründen sich allgemein auf die international festgelegten Menschenrechte der Vereinten Nationen und die Kernarbeitsnormen nach den ILO-Standards. Damit ist beispielsweise Kinderarbeit und Zwangsarbeit ausgeschlossen.

Mehr als eine Milliarden Menschen – vor allem Kleinbauernfamilien in den Schwellen- und Entwicklungsländern – bestreiten ihr Einkommen hauptsächlich oder ausschließlich vom Reisanbau. (c) Guille Álvarez

Wie stehts mit der ökologischen Nachhaltigkeit?

Die Fairtrade-Produktion stellt die Bedürfnisse der Produzent*innen zuerst über ökologische Grundsätze. Trotzdem wird besonders in der jüngsten Entwicklung die Rolle von nachhaltiger Entwicklung immer wieder betont: Diese kann nur aus fairen Arbeitsbedingungen für die Produzent*innen entstehen, die dann dementsprechend nachhaltig mit dem Kapital Umwelt umgehen. Eine weitere Argumentation ist dabei, dass Menschen, die einen gesicherten Lebensunterhalt haben,  das Recht auf einelebenswerte Umwelt verteidigen, um diese zu erhalten.

Für die Fairtrade-Zertifizierung müssen Produzent*innen bestimmte Auflagen erfüllen, dabei sind auch ökologische Standards festgelegt. Die Bewahrung von Biodiversität und der Schutz von Ökosystemen soll unter anderem durch die Reduktion des Einsatzes von Pestiziden und durch Maßnahmen zum Schutze der Fruchtbarkeit der Böden sichergestellt werden. Dafür gibt es von Fairtrade International auch Empfehlungen, etwa zur Kompostierung oder zum Zwischenfruchtbau. Ein entscheidender Aspekt für die Verbesserung umweltgerechter Anbaumethoden ist nach einer Untersuchung zum Kaffeeanbau in Ruanda dabei der Zusammenschluss in Kooperativen.

Bei einer Untersuchung von Anbaupraktiken von Kaffeebäuer*innen in Ruanda war exemplarisch festzustellen, dass nahezu alle Farmer*innen unabhängig davon, ob sie eigenständig, in einer Kooperative und/oder Fairtrade-zertifiziert anbauen, Pestizide verwenden. Dies ist in dem Fall aber auf die Subventionierungen der Regierung auf Pestizide zurückzuführen. Auch chemische Düngemittel wurden aus denselben Gründen vom Großteil der Befragten verwendet. Eine der Fairtrade-Kooperativen hatte dabei aber als einzige die Menge von chemischen Düngemittel bereits deutlich reduziert, um auf biologische Produktion umzusteigen. Eine positive Auswirkung von Fairtrade-zertifizierten Kooperativen ist hingegen auf den Waldfeldbau, also die Kombination von Kaffeepflanzen und Bäumen, zu bemerken. Durch das Angebot von Bildungsmöglichkeiten wie Workshops und Trainings konnte die Anzahl von Kleinbäuer*innen, die Waldfeldbau für die Verbesserung der Fruchtbarkeit von Böden verwenden, deutlich erhöht werden.

Etwa 70 Kaffeebohnen werden für eine Tasse Kaffee benötigt. (c) Rodrigo Flores

Es ist also grundsätzlich gut, dass Fairtrade-Produkte fast überall zu finden sind, oder?

Um eine stetige Absatzmenge beizubehalten, wurde nach 1980 die Etablierung eines Fairtrade-Labels nach Vorbild des Biosiegels angestrebt, um den Verkauf im konventionellen Handel zu erleichtern. So wurde die Nachfrage der Kund*innen essentiell für die Auswahl der Produkte. Durch die nun erreichte Anbindung an den konventionellen Markt stieg die Anzahl der beteiligten Akteur*innen bedeutend. Die Erschließung des kommerziellen Marktes führte auch zu einer Einbeziehung von konventionellen Unternehmen statt des zuvor ausschließlichen Verkaufs über eigene Weltläden.

Zu Anfang der Fairtrade-Bewegung war aber nicht die ökonomische Marktdominanz, sondern die Standardisierung von Fairtrade-Prinzipien im allgemeinen Welthandel das erklärte Ziel. Der Transport dieser Information geht durch das unreflektierte Einkaufen im Supermarkt, im Gegensatz zum Weltladen, verloren. So landet die Fairtrade-Schokolade sicher auch mal neben einer Schokocreme, die nicht ganz frei von Kinderarbeit scheint. Gerade weil Fairtrade-Produkte immer beliebter werden, steht die Einhaltung von Richtlinien durch die erhöhte Anzahl von beteiligten Akteur*innen und Interessensgruppen vor einer Probe. Für die wachsende Zahl an bewussten Konsument*innen ist es wichtig, einer nachhaltigen, fairen, integren Entwicklung weiterhin beim Einkauf vertrauen zu können.  Eine mögliche Lösung wäre dafür verstärkte Kampagnen- und Informationsarbeit. Nach wie vor wäre aber langfristig eine Implementierung der Fairtrade-Grundsätze in einem kollektiven Ansatz, also beispielsweise durch nationale Regulierungen und die Einhaltung von Verboten wie Kinder- oder Zwangsarbeit sowie angemessene Vergütung, wünschenswert.

Damit würden politische Forderungen und eine Etablierung von fairerem Welthandel mehr Gewicht erhalten. So bleibt die Möglichkeit eines internationalen Handelssystems ohne globale Ausbeutungslinien vielleicht nicht nur Utopie.


Einen Überblick über Fairtrade-Zertifizierungen findet ihr hier.

Warum eine Circular Economy nicht genug ist

22. Oktober 2019 By

Zirkuläres Handeln darf nicht nur die Vermeidung von Umweltschäden bedeuten, sondern es sollte auch soziale Teilhabe gewährleisten

Gegenwärtige Wirtschaftsmuster folgen einer weitgehend linearen Logik: Ressourcen werden verarbeitet, aus ihnen werden Dinge hergestellt, die konsumiert und schließlich entsorgt werden. Aus diesem Wirtschaftsmodell entstehen umfassende Schäden: Klimawandel, Umweltverschmutzung und globale Ausbeutungslinien gehören mit dazu. Was passiert also, wenn Ressourcen nicht mehr als nutzbare und sich selbst erneuernde Selbstverständlichkeit wahrgenommen werden? 

Die Circular Economy setzt an diesem Punkt an: Produktion, Konsum und Verwertung der genutzten Produkte sollen einen Kreislauf bilden, aus dem möglichst wenig Schaden entsteht. Ein Großteil der eingespeisten Ressourcen wie Materialien und Energie sollen wiederverwendet und in weitere Kreisläufe eingespeist werden. Dabei spielen Praktiken wie Recycling, die langlebige Konstruktion von Produkten, Instandhaltung und Wiederverwendbarkeit eine zentrale Rolle. Etwa könnten bei einer Waschmaschine durch reparaturfreundliches Design nach ihrem Ableben noch funktionierende Teile wieder oder vielmehr weiter-verwendet werden. Ressourcen aus nicht mehr funktionierenden Teilen könnten in einem Recycling-Prozess extrahiert und die Rohstoffe beispielsweise als nächstes in einem Smartphone zum Einsatz kommen.

Allerdings kann die Circular Economy als implementiertes Wirtschaftsmodell tiefgehende Problematiken wie globale Ausbeutungsmechanismen nicht durchbrechen. So ist sie auch ein Instrument, weiterhin wirtschaftlichen Wachstum entkoppelt vom Verbrauch natürlicher Ressourcen zu ermöglichen. Das birgt unter anderem die Gefahr einer weitergehenden Machtkonzentration bei einigen wenigen, die dann neben Produktionsmechanismen auch die weitere Verwertung und Wiederverwendung von Ressourcen kontrollieren könnten. Zwar ermöglicht die Circular Economy die Minimierung des Verbrauchs natürlicher Ressourcen sowie die Reduzierung umwelt- und gesundheitsgefährdender Schäden. Allerdings ist Linearität weiterhin tief in gesellschaftliche Regeln, Standards, Gesetze, Verhaltensmuster und Handlungsketten eingeschrieben. So werden gesellschaftliche Aspekte wie Teilhabe, globale soziale Gerechtigkeit und Lebensqualität durch die bloße Umgestaltung des linearen zu einem zirkulären Wirtschaften hin nicht ausreichend angegangen. 

Eine Circular Society schließt Kreisläufe, ohne einzelne einer Gesellschaft auszuschließen. (c) Hans Sauer Stiftung

Von der Circular Economy zur Circular Society

Um einen Wandel zu mehr gesellschaftlichen, zirkulär orientierten Denken und Handeln zu vollziehen, braucht es also mehr als das: So muss man sich zunächst fragen, was eigentlich Mittel und was eigentlich Zweck zirkulären Wirtschaftens ist. Letztlich ist es doch der Mensch, der das Wirtschaften als Mittel zur Umsetzung der eigenen Interessen nutzt und nicht umgekehrt. Circular Economy kann eben nur Mittel zum Zweck sein. Geht es also in erster Linie um jede*n Einzelne*n in der Gemeinschaft selbst, sollte zirkuläres Handeln auch gesamtgesellschaftlich gedacht werden. Zum Schluss kann es folglich nur eine Circular Society sein, an der sich menschliches Handeln orientiert. Wer die Minimierung des Verbrauchs natürlicher Ressourcen vorantreiben will, muss sich also fragen, welcher gesellschaftliche Mehrwert dabei entsteht.

Keine Zweifel dürften darin bestehen, dass eine Gesellschaft die Summe ihrer Teile ist, nämlich die aus jeder und jedem einzelnen. Auch klar ist, dass jede*r einen gleichen Wert unter gleichen besitzt. Diese Gleichwertigkeit ist enorm wichtig, denn sie bedeutet Gleichberechtigung – eine zur gesellschaftlichen Teilhabe und Mitgestaltung. Spätestens jetzt wird klar, warum es nicht ausreicht, Zirkularität aus rein wirtschaftlicher Sicht zu betrachten und Gleichberechtigung in den Hintergrund zu rücken. Denn damit steigt die Gefahr, dass ein wirtschaftlicher Kreislauf zwar zirkulär und geschlossen, aber auch verschlossen ist – dass also einige von möglichen Wohlstand ausgeschlossen werden oder ihnen ihr Anspruch auf Selbstbestimmung verwehrt wird. Aber: Wie wird eine Gesellschaft zirkulär, was macht sie zu einer Circular Society?

Gleichberechtigung scheint die Gefahren eines falschen Verständnisses von Zirkularität zu zähmen und somit ein wesentliches Merkmal für eine Circular Society zu sein. Das heißt aber auch, dass in ihr partizipative Gestaltungsmöglichkeiten vorhanden sein müssen, um mit deren Hilfe gemeinschaftlich an sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen zu erarbeiten. Das Social Design Lab der Hans Sauer Stiftung bedient sich für so eine kooperative Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse der Herangehensweise des Social Designs. Das bedeutet, dass Methoden und Praktiken aus dem Design (und auch anderer Disziplinen) konsequent zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen nutzbar gemacht werden. Im Verständnis und der Praxis des Labs heißt das, dass partizipativ, iterativ, ergebnisoffen und „bottom-up“ an Lösungen gearbeitet wird. Forschung, Praxisakteur*innen und die jeweils betroffenen Menschen werden zusammengebracht und es wird schrittweise und gemeinschaftlich an neuen Modellen, an Lösungen „von unten“ gearbeitet und diese werden dann praktisch auf ihre Wirkungen und Effekte hin erprobt. 

Partizipative Gestaltungsmöglichkeiten sind ein wesentliches Merkmal einer Circular Society. (c) Hans Sauer Stiftung

Vom Wertstoffhof zum Mehrwerthof

Können beherrschende Muster des Ressourcenverbrauchs lokal verändert werden und wie kann kreislauforientierten Denken und Handeln mehr Raum und Relevanz verschafft werden? Wertstoffhöfe sind heutzutage zentrale Orte in dem Bestreben, eine Kreislaufwirtschaft zu etablieren. Hier werden nicht weiter genutzte Dinge und Stoffe gesammelt, sortiert und einer erneuten Verwertung zugeführt.

Manche Stoffe, wie Glas, Papier und viele Metalle können gut recycelt werden. Doch bei einigen Stoffgruppen wird die Linearität unseres Wirtschaftssystems offenkundig: Im Müll landen dann leicht zu reparierende, aber aus der Mode gekommene Sofagarnituren, Unterhaltungselektronik, die dem aktuellen Stand der Technik hinterherhinken oder Haushaltsgeräte, bei denen eine Reparatur nicht möglich oder zu teuer wäre. Für die Nutzer*innen endet hier dann oft der Kontakt zum Produkt. Die Frage, ob das entsorgte Produkt ganz oder in Teilen wiederverwendet, downgecyclet oder als Sondermüll behandelt werden muss, bleibt häufig unklar.

In einem Projekt der Technischen Universität München wurden Stadtmöbel aus recycelten Materialien gebaut. (c) Hans Sauer Stiftung

Die Chance, die entsorgten Produkte sinnvoll in eine Kreislaufnutzung zu überführen, ist oft bereits vertan – zu sehr ist ihr Design auf Obsoleszenz und Linearität ausgelegt. Aber die Wertstoffhöfe bieten eine andere Gelegenheit: Sie stellen einen Anknüpfpunkt dar, um zirkuläre Modelle mehr in der Gesellschaft unterzubringen. Das Social Design Lab der Hans Sauer Stiftung geht zusammen mit der IKEA Stiftung der Frage nach, inwiefern Wertstoffhöfe zu Ausgangspunkten eines veränderten, konsequent an der Schaffung von Kreisläufen orientierten Umgangs mit Ressourcen werden können. Beim Neubau eines Wertstoffhofs in Markt Schwaben bei München wird versucht, die dort praktizierten Muster des Wegwerfens zu durchbrechen und zu erweitern. Gemeinsam mit ansässigen Akteur*innen wird ein über die bisherige Funktionen und Praktiken eines Wertstoffhofs hinausgehender Ort entwickelt. Zusammen mit dem Markt Markt Schwaben, der anderwerk GmbH und anderen Partnern werden bei dem Projekt „Mehrwerthof Markt2 Schwaben” in einem partizipativen Ansatz Lösungen gesucht und Transformationswege erprobt.

In neuartigen Allianzen zwischen Kommunen, Sozialwirtschaft, Stiftung, Hochschulen und den Menschen vor Ort werden Pilotprojekte initiiert: Reparaturveranstaltungen, Tauschpartys und Prototyping von Stadtmöbeln aus recycelten Materialien. Dabei werden gesellschaftliche Veränderungs- und Innovationsprozesse angestoßen, die von den Menschen aktiv mitgestaltet und – so die Hoffnung – auch breit und nachhaltig getragen werden.

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