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relaio.de

Die Plattform für nachhaltiges Unternehmertum

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Mach´s gut, relaio!

10. November 2020 By

relaio, die Plattform für gesellschaftlichen Wandel stellt den Betrieb ein. Aber auf anderen Websites der Hans Sauer Stiftung geht es weiter… 

Wie soll eine Gesellschaft aussehen, die ein gutes und gerechtes Leben für alle schafft und dabei die Belastungsgrenzen unseres Planeten achtet? Welche Werte, Praktiken und Technologien müssen sich ändern, damit wir die Welt und die Gesellschaft in der wir leben, nachhaltig gestalten können? Und wer sind diejenigen, die dazu beitragen können?  

Mit diesen Fragen beschäftigte sich relaio zuletzt. Und hat versucht Antworten darauf finden: relaio hat Wissen geliefert, wie gesellschaftlicher Wandel funktionieren kann und dabei Hintergründe und Konzepte zu aktuellen Themen aus Forschung und Gesellschaft beleuchtet. Wie sich Innovationen in der Gesellschaft verbreiten wurde dabei ebenso thematisiert, wie die Probleme der kapitalistischen Produktionsweise oder die Unzulänglichkeiten einer Circular Economy. relaio hat aber auch Lösungsansätze vorgestellt und Vorbilder interviewt, die demonstrieren, wie gesellschaftlicher Wandel gelingen kann. Sowohl Nischenakteur*innen wie das „Penthaus à la Parasit“ als auch renommierte Wissenschaftler wie Volker Quaschning kamen hier zu Wort. relaio wollte so auch seine Leser*innen dazu ermutigt, sich selbst als Gestalter*innen des Wandels miteinzubringen. 

Menschen dazu zu bewegen, sich einzusetzen und ihnen das hierfür nötige Wissen mitzugeben, war seit jeher das Ziel dieses operativen Projekts der Hans Sauer Stiftung. Es steht damit in der gedanklichen Tradition des Erfinders, Unternehmers und Stifters Hans Sauer, der bereits 1987 das „DABEI-Handbuch für Erfinder und Unternehmer“ erarbeitet hat, um Menschen einen Leitfaden für die Umsetzung von Innovationen an die Hand zu geben. Der Stifter beschäftigte sich daraufhin in den 1990er Jahren mit dem Thema der erfinderischen Kreativität und deren Beitrag zu einer funktionierenden „Ko-Evolution“ von Mensch und Natur. Seine Tochter Monika Sachtleben veröffentlichte 1999, drei Jahre nach dem Tod des Stifters, zu diesem Thema das Buch „Kooperation mit der Evolution“. Diese Veröffentlichungen lieferten die Wertedimension, die die Arbeit von relaio prägten: Die Förderung von technischen und sozialen Innovationen, bei denen der gesellschaftliche Nutzen im Vordergrund steht.  Eine digital erneuerte Version des „DABEI-Handbuch“ entstand 2009, die sich noch stark am Aufbau des ursprünglichen Handbuchs orientierte. Zeitweise wurde das Projekt dann am LMU Entrepreneurship Center in München weiterbearbeitet, wobei vor allem der aktuelle Wissensstand rund um das Thema „Nachhaltig Wirtschaften“ erarbeitet wurde. 2012 wurde dann das DABEI-Handbuch „digitalisiert“ und thematisch grundlegend ergänzt und für eine breitere Zielgruppe zugänglich gemacht.  Dies legte den Grundstein für das Projekt relaio, das als „Ideengarage“ gestartet wurde und dann 2015 als Plattform für nachhaltiges Unternehmertum online ging.  

Im Laufe der Zeit gewannen dabei aktuelle Themen der Stiftungsarbeit wie Social Design, Stadtentwicklung und Cirular Society immer mehr an Bedeutung. Diese Themen sind aktuell die Schwerpunkte der Stiftungsarbeit geworden und werden nun auch redaktionell auf- und beabeitet. Wer die Stiftungsarbeit also weiterhin verfolgen möchte, ist herzlich eingeladen dies auf www.socialdesign.de zu tun.  Die Seite relaio.de wird daher nicht weiter aktualisiert, bleibt aber in ihrer aktuellen Form erhalten. Die Plattform hat viele angehende Sozialunternehmer*innen und Pioniere des Wandels begleitet, ihnen Wissen zur Verfügung gestellt und versucht, ihnen neue Richtungen aufzuzeigen, die hierfür erarbeiteten Inhalte sollen daher auch anderen noch zur Verfügung stehen.  
An dieser Stelle möchte sich relaio zudem bei allen Leser*innen, Interviewpartner*innen und ehemaligen Mitarbeiter*innen bedanken – ohne euch wäre diese Plattform nicht so bunt, vielseitig und spannend geworden.  

Für uns heißt es jetzt aber Abschied nehmen, mach´s  gut relaio! 

 

Hear How You Like To Hear

26. Mai 2020 By

Warum können Hearables nicht wie Brillen einfach als Modeaccessoires gelten?

Viele Feinheiten von Sinneseindrücken bemerkt man gar nicht, bis sie einem fehlen. So geht es vielen Menschen, die auf ein Hörgerät angewiesen sind: Diese sind oft schlicht nicht in der Lage, den von einem gesunden Gehör produzierten Sinneseindruck zu reproduzieren. Menschen mit Höreinschränkungen probieren sich oft jahrelang durch verschiedene Hörgerät-Typen, sind dabei aber mit vielfältigen Problemen konfrontiert: So können Hörgeräte schmerzen, blöd aussehen oder einen nicht die Dinge hören lassen, die man hören wollte. Eine Gruppe von Menschen mit und ohne Höreinschränkungen haben sich im Rahmen des bürgerwissenschaftlichen Projekts „Hear How You Like To Hear“ daran gemacht, ihre Bedürfnisse ans Hören zu erforschen und Grundlagen für das Hearable der Zukunft zu entwickeln.

Das Projekt „Hear How You Like To Hear” ist am Fraunhofer IDMT angesiedelt und wird von der Informatikerin und Künstlerin Peggy Sylopp geleitet. Im Mittelpunkt stehen dabei subjektives Hören, Bedürfnisse und Wünsche der User*innen mit und ohne Höreinschränkungen. Für die Anwendung in alltagsakustischen Umgebungen entwickelte das HHYL2H-Team die intuitive liketophear-App und eine stabile 3D-gedruckte Box. So konnten die Mitforschenden Open Source Hörgeräte-Algorithmen auf einem Raspberry Pi steuern. Konkret ermöglichte das den Interessierten die Mitarbeit an der Algorithmenentwicklung sowie die Sammlung ihrer Bedürfnisse zu Aussehen und „Kompetenzen“ des Geräts an sich. In Zukunft sollen Nutzer*innen im Alltag ihren Hörgerätealgorithmus damit auch ohne professionelle Hilfe anpassen können.

Die liketohear-App&. Foto: Peggy Sylopp CC PY-NC-ND 4.0

Grundlagenforschung für das Hearable der Zukunft

Ein Teil des Projekts fand als konkrete Feldforschung statt: Ausgestattet mit der Box und App erprobten Interessierte den Prototyp in Alltagsumgebungen. Auf Basis deren Rückmeldungen und Erfahrungen damit wurde erfasst, welche Features notwendig sind und was weiter verbessert werden sollte. Eine grundlegende Frage war dabei: Was erwartet man sich eigentlich vom Hören? Die Interessent*innen testeten das Gerät sowohl im Außenraum als auch im Restaurant in einer Gesprächssituation mit Geräuschkulisse und passten dabei das Gerät individuell an ihre Bedürfnisse an. Somit erlangten die Projektleitenden einen Überblick, was die Teilnehmer*innen in bestimmten Soundumgebungen eingestellt haben. Dabei war sowohl die erfasste Klangumgebung mit den jeweiligen Anpassungen, die zum besseren Hören daran gemacht wurden, relevant, als auch deren Verbindung zur Persona von den Leuten, also die ungefähre Einschätzung des jeweiligen Hörvermögen: trägt Hörgerät, ist technik-affin, wünscht sich bestimmte Sachen vom Hören oder vom Hearable. Insgesamt haben bei dieser Feldforschung etwa 60 Early Adopters mitgewirkt. Weitere Bereiche des Projekts waren ein Online-Fragebogen, Hackathons mit Workshops und Austauschrunden und „Maker“, die selbst an der Weiterentwicklung der Geräte im physischen Sinne arbeiten. 

Die Projektleiterin Peggy Sylopp beschreibt dabei auch auftretende Probleme: „Es fehlt da oft an Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Nehmen wir zum Beispiel mal Hörgeräte im Bereich Hörtechnologie: wie die entwickelt wurden, welche Ideen, Algorithmen, Regelwerke dahinter stecken, das hat eine lange Geschichte aus Sicht der Wissenschaft und neue Entwicklungen stehen damit in diesem Kontext. Personen aus der  „normalen“ Gesellschaft, auch die, die diese Entwicklungen vielleicht bereits nutzen, wissen aber meist relativ wenig darüber. Das sieht man dann in der Praxis: es gibt ein Riesendefizit an Grundlagen, wie überhaupt an Hörforschung ranzugehen wäre, wie die Hörforschung bisher konzipiert ist und wie sie zu begreifen ist.“ Diese zu vermitteln, erforderte ein neues Selbst-Verständnis der Interessent*innen: Statt als Proband*innen ein Produkt zu rezensieren, beteiligten sich die Nicht-Berufswissenschaftler*innen hier an Grundlagenforschung. Diese neue Rolle erforderte auch Geduld, weil die Teilnehmenden nicht ein fertiges Produkt, sondern die Entwicklung der wichtigen Forschungsfragen und die Artikulierung der Anforderungen an ein Hearable der Zukunft entwickelten.

Teilnehmende beim Soundwalk in Berlin. Foto: Peggy Sylopp CC PY-NC-ND 4.0

Technische Möglichkeiten, Erwartungen und Wirklichkeit sind oft widersprüchlich zueinander

Peggy Sylopp spricht dabei auch die Erwartungshaltung an die Technik an: „Es wird ganz viel kommuniziert, auch von Werbung und Wissenschaft, was die Technik alles lösen kann: Sie kann für dich denken, kann das Gehirn auslesen – genau genommen stimmt das aber so alles nicht. Was auch ein wenig fehlt, ist eine ehrliche, transparente, diskursive Kommunikation über das, was zum Beispiel Technik, IT, wirklich kann und was sie nicht kann. Also da werden noch viel zu viel Ideen und Erfolge gefeiert, die eigentlich aber nur in kleinen Bereichen und ganz dezidierter Anwendung funktionieren. Da gibt es diese riesige Erwartung, dass es sich damit total gut anhört, dass ich damit alles Mögliche steuern kann und dies und jenes, das ist aber eigentlich in diesem Sinne gar nicht machbar, aus einem komplexen Anforderungsstrauß heraus.“

Die Eindrücke der Teilnehmenden an der Feldforschung wurden mit einer Online-Umfrage angefüttert. In dieser wurde abgefragt, welche Wünsche und Erwartungen man an ein tragbares Gerät zum Hören hat, welche Erfahrungen man dazu bereits gesammelt hat und welche weiteren Ideen dabei bereits aufkamen. Mit 650 Teilnehmenden wurde damit eine breite Basis an Eindrücken und Bedürfnissen erfasst.

In der Erforschung von technischen Möglichkeiten war ein weiterer Teil des Projekts angesiedelt:  Es fanden zwei Hackathons mit verschiedenen Workshops statt, in denen es darum ging, ganz praktisch Produkte für Anwendungen zu konzipieren und in den Austausch zwischen Anwender*innen und Entwickler*innen zu gehen. Der erste Hackathon war dabei eher spielerisch angesetzt: Die praktische Anwendung von Hearables im Alltag wurde behandelt. Die Teilnehmenden tauschten sich dabei über Bedürfnisse, Möglichkeiten und aktuelle Schwierigkeiten aus.

 

„Feels like in a sound bubble“ – die Teilnehmenden des Hackathons erprobten ihre eigene Hörwahrnehmung im Laufe des Prozess. (c) Nick Fewing

Im zweiten Hackathon wurden Expert*innen aus dem Audio-Bereich, aus der Hörgeräteentwicklung, aus der Industrie und aus der Hacker- und Makerszene eingeladen. Die Projektleiterin beschreibt diese als „zwei Tage sehr intensiven Austausch. Das war wirklich spannend, wie groß das Bedürfnis ist, sich aus den verschiedenen Ebenen auseinanderzusetzen. Da sind die Wissenschaftler mal greifbar für die Leute, die die Probleme haben. Anfangs haben viele nicht verstanden, was jetzt beispielsweise die Entwicklung von Lautsprecherboxen mit dem Hörproblem zu tun haben. Am Ende der zwei Tage war es dann aber für alle klar, worin die Nähe zwischen Klangqualität, Hearable und Hörunterstützung liegt. Für mich war das ein sehr wichtiges Thema, diesen scharfen Schnitt zwischen disabled – also Behinderung, Hörschwäche – und gutem Hören aufzulösen, und da weicher ranzugehen: was kann ein Hearable? Was ist gut für Leute mit Hörproblemen, aber auch für andere? Zum Beispiel hilft diese Funktion der Geräuschunterdrückung auch Leuten, die relativ normal hören können im Gespräch, weil sie damit weniger Höranstrengung haben. Andererseits heißt das für jemanden, der ein Hörproblem hat, dass er überhaupt was verstehen kann oder viel besser verstehen und damit überhaupt an Gesprächen teilnehmen kann. Da ging es also darum, diesen offenen Diskurs zu starten, das war auch nochmal eine andere Ebene“.

Hemmschwellen überwinden

Mit dem Ziel der Forschung von „Hear How You Like To Hear“, neue Impulse für die Entwicklung von Hörunterstützungen zu geben und dabei das Wohlbefinden der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen, soll das Selbstbewusstsein von Menschen mit Höreinschränkungen gestärkt und ihr soziales Umfeld zu einem bewussten Umgang ermutigt werden. Denn der Umgang mit einem Hörgerät erfordert oft das Überwinden großer Hemmschwellen: Bei der Erstnutzung schon sich länger graduell verstärkender Hörschwäche erscheinen Töne, die schon lange weg waren, neu: das ist ungewohnt, fast störend. Zum anderen ist das Sichtbarmachen dieser Schwäche, die nun Teil von einem ist und Selbstvertrauen voraussetzt, ein schwieriger Schritt.

Das gelingt den Teilnehmenden auch dadurch, dass sie neben dem, was Hörgeräte können sollen, auch erforschen, wie diese aussehen könnten. Für viele Menschen mit Höreinschränkungen ist es wichtig, dass das Gerät sichtbar ist. Schwerhörigkeit erfordert auch von der Umgebung eine Umstellung im Umgang miteinander. Wenn das Gegenüber bemerkt, dass der/ die* Gesprächspartner*in eingeschränkt hört, kann ein Gespräch unter günstigeren Bedingungen stattfinden. Deshalb ist für manche Betroffene wichtig, dass das Gerät sichtbar ist. Andere arbeiten an einer neuen Auffassung von Höreinschränkungen: Während Brillen selbst als modische Accessoires breit akzeptiert sind, werden Hörgeräte oft versteckt. Die Teilnehmenden des zweiten Hackathons entwickelten daher beispielsweise als Lösung ein Haarband in Kombination mit einem Fingerring, in dem ein Mikrofon eingebaut ist.

Prototyp einer sichtbar getragenen Hörunterstützung beim 1. Hack4Ears-Hackathon. Foto: Peggy Sylopp CC PY-NC-ND 4.0

Mit partizipativer Forschung gesellschaftliche Herausforderungen angehen

Aktuell befindet sich das Projekt in der Auswertungsphase. Hear How You Like To Hear wurde im Rahmen des Förderbereichs Bürgerforschung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Es gehört zu 13 Projekten, die bis Ende 2019 die Zusammenarbeit von Bürger*innen und Wissenschaftler*innen inhaltlich und methodisch voranbringen und Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen geben sollen.

Die Projektleiterin Peggy Sylopp betont die Vorteile partizipativer Forschung. Ihr war in allen Phasen des Projekts besonders wichtig, die Teilnehmer*innen als Mitforschende, nicht als Proband*innen wahrzunehmen, während sie betont, dass diese Vereinfachung natürlich aus Perspektive der Forschung, die ein Problem lösen will, zielführend ist. Obwohl Hear How You Like to Hear unkonventionelle Herangehensweisen nutzt, wird es am Institut ernst genommen und als relevanter Teil der Forschung gesehen. Peggy Sylopp sieht das als Teilerfolg für Citizen Science-Ansätze: „Ich würd behaupten, dass es sowas in allen Bereichen gut wäre, dass wirklich rausgegangen wird und die Sachen so frei gelassen werden, dass nicht nur Daten gesammelt werden, sondern auch Erfahrungen mit Forschung gesammelt werden. Es geht ja auch darum, dass Forschung neu gedacht wird und die konventionellen Forschungsideen oder deren Herangehensweisen nochmal neu gedacht werden, neu erprobt werden. Vielleicht können ja so nochmal neue Anstöße reingegeben werden, die mehr die subjektive Sicht von Usern oder von Betroffenen berücksichtigen. Das halte ich auch für eine grundlegende ethische Frage.“

Circular Cities

13. Mai 2020 By

Um gegen Ressourcenverschwendung vorzugehen, nehmen sich viele Städte eine Circular Economy zum Vorbild. Doch damit daraus eine vielversprechende Nachhaltigkeitsstrategie werden kann, muss auch die gesellschaftliche Komponente integriert werden.

Die Zukunft der Menschheit wird in Städten liegen: Im Jahr 2008 lebten weltweit zum ersten Mal mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Und dieser Trend setzt sich fort – die Stadtbevölkerung wird sich Prognosen der UN zufolge bis 2050 weltweit von heute knapp 4 Milliarden auf zukünftige 6,5 Milliarden vergrößern. Mehr als  zwei Drittel der Menschheit wird dann in Städten wohnen. Am dynamischsten wird diese Verstädterung dabei in den Schwellen- und Entwicklungsländern Afrikas und Asiens verlaufen. In vielen Ländern erfolgt das rasante Wachstum der Städte dabei durch den Zuzug der Landbevölkerung, wobei häufig informelle Siedlungen entstehen und bestehende Slums wachsen. Mit der Einwohnerzahl wächst dadurch auch die soziale Ungleichheit ungehindert.

Städte als Zentren der Take-Make-Waste Ökonomie

Doch bereits heutzutage sind Städte nicht nur Orte sozialer Ungleichheiten, sondern sie tragen auch zu massiven Umweltbelastungen bei und sind mitverantwortlich für das Voranschreiten des Klimawandels. Denn als global beherrschende räumliche Form menschlichen Zusammenlebens sind Städte auch Zentren der Produktion und des Konsums, was sie zu Kristallisationspunkten für die Probleme des linearen kapitalistischen Wirtschaftsmodells macht. Aktuellen Schätzungen zufolge werden in Städten 60 bis 80 Prozent der abgebauten natürlichen Ressourcen verbraucht, 50 Prozent des globalen Müllaufkommens produziert und zwischen 60 und 75 Prozent der weltweiten Treibhausgase ausgestoßen. Städte sind verantwortlich für die Versiegelung großer Flächen, den Verlust von biologischer Diversität und die Anreicherung von langlebigen, menschengemachten Schadstoffen in der Natur, wie zum Beispiel Quecksilber und Plastikrückständen.

Hinzu kommen Verschmutzungen der Atemluft und die Übernutzung und Verunreinigung von Wasserressourcen. Während Städte weltweit weniger als 3 Prozent der Landfläche der Erde bedecken, betreffen diese Effekte weitreichende Regionen. Städte externalisieren dabei bereits seit Jahrhunderten die Deckung ihres Ressourcenbedarfs und die Folgen ihrer Abfallproduktion, indem sie diese an entfernte Orte verlagern. Doch das „ökologische Hinterland“ der Städte umfasst mittlerweile den gesamten Planeten und die Aneignung von Ressourcen und die Verlagerung von Belastungen geschieht global.

Dabei sind Städte keineswegs nur Verursacher von Belastungen, sondern oft auch die Hauptleidtragenden von diesen. Fast 90 Prozent aller Stadtflächen befinden sich in Küstenregionen und sind damit besonders gefährdet für einen Meeresspiegelanstieg und andere durch den Klimawandel ausgelöste oder verstärkte Extremwettereignisse wie Wirbelstürme und Starkregenereignisse. Aber auch Dürren und Hitzewellen treffen Städte besonders hart, da in Städten oft kühlende Grünflächen fehlen und sich Beton und Asphalt ungehindert aufheizt. Die Temperatur in Städten liegt damit oft um mehrere Grad Celsius höher als im Umland und kann bei heißem Wetter zu nicht zu unterschätzenden gesundheitlichen Auswirkungen für die Bevölkerung führen. Immer mehr Städte stellen daher diese Situation angesichts der drohenden Klimarisiken, Umweltverschmutzungen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Versorgungsrisiken zunehmend in Frage.

Das Konzept der Circular Economy

In den letzten Jahren hat das Konzept der „Circular Economy” große Popularität in der Wirtschaftswelt erfahren und dadurch auch Beachtung bei Kommunen gefunden, die versuchen, resiliente Infrastrukturen auf- und internationale, nationale und regionale Abhängigkeiten abzubauen. Die Circular Economy ist dabei ein Entwurf für ein Wirtschaftsmodell, bei dem versucht wird, Produktion und Konsum in Kreisläufe zu überführen und so von Ressourcenverbrauch und Umweltbelastungen zu entkoppeln. Sie steht damit im Gegensatz zur gegenwärtigen linearen oder „Take-Make-Waste“ Ökonomie, bei der die wirtschaftliche Aktivität auf Kosten der Umwelt geht. Der Grundgedanke einer in geschlossenen Kreisläufen arbeitenden Wirtschaft ist dabei bereits in den 1960er und 1970er Jahren aufgekommen und wurde in den folgenden Jahrzehnten in Ansätzen in Form einer Recyclingwirtschaft in der deutschen und japanischen Wirtschaft umgesetzt. Eine weitere Entwicklung und Verbreitung der Idee einer Kreislaufwirtschaft geschah aber vor allem angesichts der wachsenden Umweltprobleme und Ressourcenknappheit in den 2010er Jahren.

In einer zirkulären Wirtschaft werden Rohstoffe dauerhaft werterhaltend in Kreisläufen gehalten, Abfälle werden so vermieden.

So wird eine Kreislaufwirtschaft mittlerweile in Schriften des Weltwirtschaftsforums und der EU diskutiert, von Beratungsunternehmen wie McKinsey beworben und international von Politiker*Innen wahrgenommen. Die wirtschaftsnahe Ellen Mac Arthur Foundation hat dabei mit dem RESOLVE-Ansatz einen wesentlichen Beitrag zur weiteren Ausarbeitung dieses Wirtschaftsmodells geleistet. Dieser basiert auf drei Prinzipien: Der Bewahrung und Wiederherstellung des natürlichen Kapitals, die Optimierung der Ressourcennutzung durch eine hochwertige Kreislaufnutzung und das Ausschalten und Wegdesignen von negativen Externalitäten. Die Umsetzung dieser Prinzipien soll durch sechs konkrete Strategien erfolgen:

  • Regenerate: Umstellung auf erneuerbare Energie und Materialien; Regeneration der Ökosysteme und Rückführung der wiedergewonnenen biologischen Ressourcen in die Biosphäre.
  • Share: Verlängerung und Intensivierung der Nutzung von Produkten im Kreislauf durch den gemeinsamen Gebrauch durch verschiedene Benutzer.
  • Optimise: Erhöhung der Leistung und Effizienz eines Produkts; Beseitigung von Verschwendung in der Produktion und Lieferkette; Nutzung von Big Data
  • Loop: Design auf Langlebigkeit und Wiederverwendbarkeit nach Ende der Nutzung, Halten von Komponenten und Materialien in geschlossenen Kreisläufen (Wiederverwendung, Recycling, Rückgewinnung, Wiederaufarbeitung).
  • Virtualise: Dematerialisierung der Ressourcennutzung durch virtuelle Bereitstellung.
  • Exchange: Ersetzung von Produkten und Dienstleistungen durch ressourcenschonendere Optionen.

Auf diese Weise soll die Circular Economy dazu beitragen, durch effektive und regenerative Rückführung Ressourcen zu schonen und Abfall zu vermeiden. Verlängerte Nutzungs- und Lebensdauern sowie neue Serviceangebote tragen dazu bei, Produktion und Konsum zu „entschleunigen“.

Die Circular Economy in der Stadt?

Der Resolve Ansatz ist dabei allerdings stark auf die Produktion von Gütern ausgelegt. Dies ist nicht verwunderlich, da insbesondere international agierende Großkonzerne wie Google, Phillips, Renault, Danone, H&M und Unilever zu den Partnern der Ellen Mac Arthur Foundation gehören. Doch kann ein Ansatz dieser Art auch in Städten Anwendung finden? Kann er auch hier dazu beitragen, Müll und Verschmutzungen wegzudesignen, Materialien werterhaltend im Umlauf zu halten und natürliche Systeme in und um Städte herum zu regenerieren? Mehrere Kommunen in Europa versuchen bereits, zirkuläre Prozesse in ihren Städten aufzubauen und so zu einer „Circular City“ zu werden. So werden in Amsterdam Materialflüsse in der Stadt analysiert und Möglichkeiten gesucht, diese hochwertig zu schließen. Reparieren, Wiederverwendung und Sharingkonzepte werden dabei bevorzugt, es liegt jedoch auch ein Fokus auf innovativen Recyclingmethoden: So werden zum Beispiel Nährstoffe aus Lebensmittelabfällen zurückgeführt, Roh- und Mineralstoffe wie Phosphat, Zellulose, Nitrat und Proteine aus Klärschlamm wiedergewonnen und zum Teil die Bausubstanz von abgerissenen Häusern wiederverwendet. Die recycelten Ressourcen werden dabei auf städtischem und regionalem Niveau in Kreisläufe integriert. Auch die Stadt Glasgow geht ähnliche Wege und plant, aus überschüssiger Hitzeenergie aus Bäckereien Strom zurückzugewinnen, nährstoffreiches Abwasser aus Aquakulturen als Dünger für die Landwirtschaft zu verwenden und weggeworfenes Brot zu Bier zu fermentieren. Diese Beispiele verdeutlichen, dass Städte durch ihre Nahräumlichkeit und Dichte gute Voraussetzungen bieten, um technische und biologische Kreisläufen lokal zu schließen.

Biologische und technische Kreisläufe ermöglichen eine langanhaltende Nutzung von Rohstoff und Materialflüssen.

Bei der Integration einer Kreislaufwirtschaft in Städten ist es aber darüber hinaus wichtig zu betrachten, dass Städte nicht nur Orte der Produktion, sondern vor allem auch des Konsums sind. Und wenn eine Stadt wirklich eine „Circular City“ werden will, muss auch mitgedacht werden, wie städtische Infrastrukturen, urbane Mobilität, Energiesysteme und die gebaute Umwelt in zirkuläre Muster überführt werden können. Während diese Bereiche in für die Stadt optimierten Circular Economy Frameworks Beachtung finden, gibt es eine Ressource, die bisher in diesen außen vor gelassen wird: Land.

Kritik an der Circular Economy

Der Grund und Boden ist in vielen hochbevölkerten und dichtbebauten Städten gleichzeitig das wichtigste und knappste Gut. Dabei spielt es nicht nur eine Rolle, wie etwa durch Kontaminierung oder durch Leerstand ungenutzte Flächen wieder aufbereitet und einer Verwendung zugeführt werden können, sondern es adressiert auch das Thema Bodenbesitz. 

Auf welche Weise kann Land in Kreisläufe integriert werden, so dass sie für ökologische Ausgleichsflächen oder für dringend benötigten Wohnraum für ökonomisch schlechter Gestellte zur Verfügung stehen?

Diese Frage bleibt bei gegenwärtigen Konzeptualisierungen einer Circular City und einer Circular Economy unbeantwortet. Dies wirft aber Licht auf einen zentralen Kritikpunkt an diesen Strategien: Als unverändert markt- und rein wirtschaftsorientiertes Modell gibt eine Circular Economy keine Lösungen für tiefgreifende soziale Probleme. Vielmehr stellt eine Circular Economy eine ökologisierte, technologische Lösung für das Versagen des globalen Kapitalismus in Bezug auf die Bewahrung natürlicher Ressourcen dar. Um aber zu echter Nachhaltigkeit beizutragen, müssten Aspekte wie Teilhabe, soziale Gerechtigkeit und Lebensqualität integriert werden. Dies trifft auch auf die bisherigen Versuche von Kommunen zu, Kreisläufe in Städten als Kreislaufwirtschaft zu schließen. So reproduzieren die verbreiteten Circular City-Konzepte oft den technisch-wirtschaftlichen Ansatz aus der Circular Economy und sind als von der Politik und Verwaltung entwickelte Strategiebilder meist als top-down angelegte Prozesse konzipiert, die wenig Raum für Anliegen und Mitsprache der Bürger*Innen einer Stadt lassen.

Transformatives Potential einer Urban Circular Society

Ein Problem in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist eine zirkuläre Wirtschaft und Gesellschaft, weit mehr als das lineare System, auf Kooperation, Zugänglichkeit und Solidarität angewiesen. Denn das Schließen von Kreisläufen birgt auch die Gefahr einer weitergehenden Machtkonzentration bei einigen wenigen, die dann neben Produktionsmechanismen auch die weitere Verwertung und Wiederverwendung von Ressourcen kontrollieren könnten. Das Schließen von Kreisläufen kann dadurch auch das Ausschließen von Teilen der Gesellschaft mit sich bringen. Dies ist umso mehr von Bedeutung, da zum anderen in vielen Regionen der Welt das Wachstum von Städten ohnehin mit einer steigenden Ungleichheit einhergeht.

Um das Potential von Zirkularität in vollem Umfang nutzen und um den notwendigen soziokulturellen Wandel verstehen und angehen zu können, ist es daher erforderlich, das wirtschaftliche Grundgerüst der Circular Economy um eine gesellschaftliche Dimension zu erweitern. Dafür eignen sich Städte als Transformationsfeld ideal, denn diese können selbst Orte sozialer und technischer Innovationen und Triebfeder gesellschaftlicher Umbrüche und Wandlungsprozesse sein. Sie haben „transformatives Potential“, um neue Wege in Richtung Nachhaltigkeit zu erproben und zu implementieren. Denn Städte sind Zentren zivilgesellschaftlicher Initiativen und Orte, an denen eine diverse Stadtgesellschaft Möglichkeitsräume suchen und finden kann, um neues Wissen und neue Praktiken zu entwickeln und zu erproben.

Aber wie kann dieses Potential genutzt werden und die Stadtbevölkerung an der Entwicklung zirkulärer Zukunftsszenarien beteiligt werden?

Zentral hierfür ist eine Integration und Beteiligung von Bürger*Innen in partizipativen Gestaltungsprozessen und die Ergänzung oder Ersetzung von kommunalen Top-Down Strategien durch Bottom-Up Initiativen und Grassroots Bewegungen. Hierfür ist es allerdings wichtig, die Bürger*Innen zu unterstützen und insbesondere subalterne und marginalisierte Gruppen zu empowern. Eine Strategie dabei ist es, diesen Akteur*Innen aus der Praxis Gewicht und Teilhabe bei der Wissensproduktion für Nachhaltigkeitsherausforderungen zusprechen. Experimentelle Ansätze wie Reallabore und partizipative Formen der Forschung wie eine „Citizen Science“ können dabei nicht nur die Expertise von tagtäglich mit diesen Herausforderungen konfrontierten Menschen adressieren, sondern bergen auch das Potential, die oftmals dominante Lücke zwischen Wissen und Handlung zu schließen.

In einer Circular Society wird eine Circular Economy um soziale Aspekte erweitert.

Auch die Bereitstellung einer adaptiven Infrastruktur zur Förderung neuer Formen der Organisation und Zusammenarbeit kann Bürger*Innen dazu befähigen, an der Entwicklung zirkulärer Praktiken teilzuhaben. Dies muss begleitet werden von einer Kultur der Transparenz und der Kooperation, die veränderte Denkweisen zulässt und wirkmächtig werden lässt. Dann nämlich haben Städte das Potential, nicht nur durch eine Circular Economy die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Umwelt zu minimieren, sondern auch im Sinne einer „Urban Circular Society“ die Gesellschaft in diesen Prozess mit einzubetten. Dafür kann es hilfreich sein, Städte nicht nur als Ort von Produktion und Konsum zu verstehen, sondern vielmehr als einen „urbanen Metabolismus“ zu begreifen. So kann die wirtschaftliche Perspektive vom Schließen von Stoff- und Ressourcenkreisläufen erweitert werden auf Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und Wirtschaft, zwischen Stadt und Umland und Technik und Umwelt.


(c) Alle Abildungen: Hans Sauer Stiftung

Der Klimawandel aus lokaler Perspektive

29. April 2020 By

Mitforschen bei KlimNet – Stadt und Land im Fluss

Es ist erst Ende April, doch die Warnsignale sind bereits deutlich: Beinahe flächendeckend herrscht in Deutschland derzeit eine mehr oder minder schwere Dürre. Von Mitte März bis Mitte April fielen vielerorts weniger als zehn Liter Regen pro Quadratmeter, Wärme und Wind haben die oberen Bodenregionen ausgetrocknet. Dadurch wächst die Waldbrandgefahr, in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen kam es bereits zu großen Einsätzen. Extreme Wetterereignisse sind auch in Deutschland längst keine Randphänomen mehr.

In Anbetracht dessen stellen sich auch Deutschland immer mehr Menschen die Frage: Wie können wir dem Klimawandel in unserer Stadt und unserer Region trotzen? Dazu haben die Ruhr-Universität Bochum (RUB), die Universität Bonn und der Wissenschaftsladen Bonn e.V. gemeinsam das Projekt KlimNet initiiert: Darin werden gemeinsam mit Bürger*innen Ideen und Strategien entwickelt, die Menschen zeigen, was sie tun können, um ihre Stadt an den Klimawandel anzupassen, bevor Jahrhunderthochwasser, Starkregen, langanhaltende Trockenheit oder Hitze bedrohlich werden.

Waldbrände treten auch in Deutschland immer häufiger auf. (c) Matt Howard

Prof. Dr. Andreas Rienow von der Ruhr-Universität Bochum schildert den Vorgang der Versiegelung: „Die Versiegelung in NRW nimmt weiterhin zu, auch wenn sie in den letzten Jahren ein wenig abgeschwächt wurde. Besonders stark ist das zu sehen, wenn wir uns anschauen, wie viel in Innenstädten gebaut wird, also die Verdichtung bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von Flächen nach außen. Es ist ein großes Problem, in einer Zeit zu leben, in der eben die Folgen des Klimawandels immer stärker zu spüren sind: Wir hatten dieses Jahr wieder keinen richtigen Winter, wir hatten in den letzten zwei, drei Jahren extreme Hitzeereignisse hier in Deutschland. Entsprechend sind die Folgen zu spüren. Das ereignet sich in verschiedenen Städten, unterscheidet sich aber oft innerhalb verschiedener Stadtteile: Dabei gibt es im wahrsten Sinne des Wortes Hotspots in den Städten, in denen wir tropische Nächte beobachten, die zunehmen, aber natürlich auch Starkregenereignisse, die den Keller volllaufen lassen.“

Gemeinsame Handlungsleitlinien für die Klimaanpassung entwickeln

Das beschäftigt Menschen in ihrem Alltag und in der Wissenschaft. Deshalb hat das bürgerwissenschaftliche Projekt KlimNet das Ziel, Wissen und Engagement aus unterschiedlichen Bereichen, also sowohl aus der Gesellschaft als auch der Wissenschaft, in Bezug auf Klimawandelanpassung zu mobilisieren. Damit können Bürger*innen aus diversen Zielgruppen über Facetten des Klimawandels in der eigenen Heimat informiert und sensibilisiert werden. Die Teilnehmenden generieren daraus Handlungsoptionen zur Klimaanpassung. Das gelingt durch drei verschiedene Teilprojekte: Die Bereitstellung von Informationen über den Klimawandel in der Region, die Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten mit dem Ziel einer klimaresilienten Stadt und die Umsetzung erster praxisorientierter Maßnahmen.

Teilnehmende identifizieren und kategorisieren Orte in ihrer Umgebung. (c) KlimNet

KlimNet wird aktuell in den Pilotstädten Bonn und Gelsenkirchen mit der Option auf Erweiterung durchgeführt. Durch die wissenschaftliche Basis verbunden mit praktischen Erfahrungen der Akteur*innen vor Ort können die Maßnahmen auf andere Städte übertragen werden.

Zur Bereitstellung der Informationen wurden Satellitendaten von 1985 bis heute hinsichtlich diverser Aspekte wie Bodenbedeckung, Dichtheit, Versiegelung und Nutzung analysiert, um Veränderungen der städtischen Gebiete zu beobachten und zu quantifizieren. Daraus ist ein webbasiertes interaktives geographisches Informationssystem (GIS) hervorgegangen. Anhand von aus Satellitenbildern abgeleiteten Daten zur Flächenversiegelung aus den Jahren 1985 bis 2017 können Nutzer*innen in ganz Nordrhein-Westfalen die Landnutzungen vergleichen. Durch das interaktive Web-Geoinformationssystem (WebGIS) mit zahlreichen Funktionen können die Bürger*innen selbst lokal Orte in der Stadt identifizieren und markieren, die entweder Handlungsbedarf aufweisen oder als gute Beispiele vorangehen. Außerdem werden darauf basierend gemeinsam Ideen entwickelt, wie mit den spürbaren Auswirkungen des Klimawandels umgegangen werden kann.

Ziel ist dabei auch, Handlungsleitlinien zu entwickeln, die das Projekt überdauern. Der daraus hervorgegangene Aktionsplan spricht unterschiedliche, wichtige Akteur*innen der Stadtgestaltung an: Für einige Leitlinien brauchte es ein Votum der Politik und die Kompetenz der Stadtverwaltung, für andere engagierte Unternehmer*innen und Verbandsvertreter*innen. Für wiederum andere ist nur die Lust, etwas im eigenen Umfeld zu verändern, notwendig. Deshalb ist im Projekt KlimNet die Zusammenarbeit zwischen Bürger*innen, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft notwendige Voraussetzung. Langfristig werden dabei alle Teilnehmenden auch für den Klimawandel an sich sensibilisiert, was neben der lokalen Klimawandelanpassung auch ein stärkeres Engagement für den Klimaschutz hervorbringt.

Bürger*innen als Forschende

Besonders am Projekt KlimNet ist die Einbindung von Bürger*innen als Forschende. Im Allgemeinen wird in Citizen-Science-Projekten Forschung unter Mithilfe oder komplett von interessierten Amateur*innen, teilweise auch professionellen Amateur*innen, durchgeführt. Die Bürgerforscher*innen formulieren dabei Forschungsfragen, melden Beobachtungen, führen Messungen durch, werten Daten aus und/oder verfassen Publikationen. Dabei ist die Einhaltung wissenschaftlicher Kriterien Voraussetzung. Bürgerwissenschaftliche Projekte binden Laien in wissenschaftliche Prozesse ein, was einerseits zur Produktion wissenschaftlich valider Daten und Analysen beiträgt.

Etwa 46 Prozent der Siedlungs- und Verkehrsflächen sind laut dem Umweltbundesamt versiegelt, das heißt bebaut, betoniert, asphaltiert, gepflastert oder anderweitig befestigt. Damit gehen wichtige Bodenfunktionen, vor allem die Wasserdurchlässigkeit und die Bodenfruchtbarkeit, verloren. (c) KlimNet

Andererseits wird der Bürgerwissenschaft aber vermehrt das Potential zugesprochen, das gesellschaftliche Verständnis für Wissenschaft und Forschung zu erhöhen und damit gesellschaftliche Herausforderungen aus Bürger*innensicht und aus der Perspektive der Wissenschaft neu bewerten zu können. Zudem wird von der Bürgerwissenschaft erwartet, dass sie einen positiven Einfluss auf die wissenschaftliche Bildung von Laien hat. Dies ermöglicht einerseits neue Erkenntnisse durch neue Kontexte, die Bürgerforscher*innen aus ihren Lebenswelten bringen, aber bei höherem Grad der Partizipation in bürgerwissenschaftlichen Projekten auch wissenschaftliche Projekte mit Fragestellungen, die gerade in regionalen oder lokalen Kontexten durch die Bedarfsgruppen selber ermittelt werden können.

Eine wissenschaftsoffene Haltung aus der Gesellschaft kann zu verstärktem Austausch und Wissensdiffusion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft führen, was Wissen in beiden Bereichen erweitern und damit Handlungsspielräume in demokratischen Diskursen verbessern kann.

Die eigene Umgebung neu entdecken

Genau um dieses Zusammenspiel geht es bei KlimNet, das die unterschiedlichen Erfahrungs- und Wertungsbereiche von Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Verwaltung mit einbezieht und damit Raum für gemeinsame, allgemein akzeptierte Lösungsvorschläge schafft.

Dafür ist auch ein hohes Maß an Eigeninitiative und Engagement seitens der Bürger*innen notwendig. Einer der Projektleiter erklärt, welche Menschen dabei mitmachen: „Einerseits sind das Bundesfreiwillige, die die Workshops als Seminarangebot wählen könnten. Diese waren besonders an den Geomethoden interessiert. Das Tolle daran ist, etwas so Pragmatisches mit einem idealistischen Thema, was die Klimaanapassung ist, zu koppeln und die jungen Menschen für Themen der Nachhaltigkeit zu begeistern. Eine andere Gruppe ist über Aufrufe des Wissenschaftsladen Bonn und der Stadt Gelsenkirchen gekommen: Jugendliche, die einfach Interesse an der Thematik haben, die teilweise auch aus „Problemvierteln“ kommen. Deren Interesse an Klimaanapassung war besonders beeindruckend, weil die ja wirklich oft auch noch ganz andere Probleme bis hin zu Existenzängsten haben. Weiter kommen natürlich auch immer Leute, die generell an Nachhaltigkeit, Umwelt und Entwicklungsthemen interessiert sind. Also generell sind das Menschen, die ihre Nachbarschaft nochmal mit anderen Augen entdecken wollen.“

Brachfällen stellen ein enormes Flächenpotential dar. (c) KlimNet

Für die Bürgerwissenschaftler*innen sieht Rienow zusätzlich den Anreiz, dass sie durch die intensive Beschäftigung mit den Entwicklungen auch in Diskussionen besser auf Grundlage von Fakten argumentieren können. Außerdem tragen die Projekte zur Gemeinschaftsbildung bei und oft lernen sich durch die Vernetzung Akteur*innen kennen, die diese Kontakte noch längerfristig nutzen können. Für die Wissenschaftler*innen bietet die Zusammenarbeit wiederum die Möglichkeit, die Öffentlichkeit aktiv in die wissenschaftliche Entwicklung einzubinden und damit Verständnis und Akzeptanz zu fördern, sowie, ganz praktisch, mehr Datenmaterial zu generieren und damit größere Flächen zu beobachten.

Andreas Rienow unterstreicht besonders das Alltagswissen, das für das Projekt unverzichtbar ist: „Aus räumlicher Perspektive gesprochen, kennen die Menschen einfach ihre eigene Nachbarschaft am besten und wissen, wie es noch vor zehn Jahren aussah, wo vielleicht Ecken sind, an denen sich immer Pfützen bilden, wo eben eine grüne Fläche auf einmal versiegelt wurde und ein Spielplatz entstanden ist, der die einen stört, die anderen aber begeistert, aber auch, wo man die Möglichkeit hätte, doch eine Fläche zu nutzen, die eigentlich nur brachliegt. Dieses räumliche Wissen ist enorm hilfreich und das können wir als Geographen optimal nutzen.“

Das Projekt KlimNet findet noch bis Juni 2020 statt – eine Verlängerung wird aktuell beantragt.


Titelbild: Beispielfoto Luftansicht Standsted, London. (c) Nik Ramzi Nik Hassan

Die Welt in Quarantäne – #Gerechtigkeit

30. April 2020 By

Wir alle, die Gesellschaft, sind derzeit unter Quarantäne gestellt. Vielleicht ist das genau die richtige Zeit, um sich mal ein paar grundlegende Fragen zu stellen.

Die Krise ist einfach überall. In der Wirtschaft, zu Hause, im eigenen Gemüt und im News-Channel sowieso. In Zeiten von Corona (ja das kann man so sagen) ist die „Krise“ fast schon zur Normalität geworden. Vielleicht nicht normal, aber bekannt ist der Begriff der Krise ja auch schon ein bisschen länger. Schon die alten Griechen verwendeten ihn als „κρίσις“ (krísis), wenn auch noch als Bezeichnung für das Unterscheiden von Dingen. Aber genau dieses Unterscheiden macht unser heutiges Verständnis von Krise (schwierige Lage und so) sogar wieder deutlich. Denn in der Krise unterscheiden wir doch allzu gern in eine Welt vor und nach Corona – ach wie schön doch alles war (Vorsicht, Ironie!). Gerne wird in all der Krisenhaftigkeit noch eine andere Unterscheidung gemacht. Nämlich in eine zweckrationale und eine moralische Gesellschaftsordnung. In eine Gemeinschaft also, in der das Prinzip der Nutzenmaximierung ganz oben in der Werteskala thront und in eine, in der so ein „Nutzen“ im besten Falle Mittel zum moralischen Zweck ist.

(K)eine Frage von Wert

Diese Gegenüberstellung einer zweckrationalen und – und nicht selten – ökonomisch beanspruchten sowie einer vordergründig humanistisch, gemeinwohlorientierten Welt ist nicht nur heillos überspitzt, sondern momentan auch Ausgangspunkt verschiedenster Diskussionen, deren Inhalt kaum besorgniserregender sein könnte. Denn die Diskussionsfragen dazu lauten meist so: „Geld oder Leben?“ (FAZ), „Triage: Wer wird behandelt, wer nicht?“ (Deutsche Welle), „Wessen Leben ist mehr wert?“ (ntv). Mehr als besorgniserregend ist dann vielleicht noch die Aussage Wolfgang Schäubles im Interview mit dem Tagesspiegel. So könne dieser der Aussage „alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten“ keinesfalls zustimmen. Denn das sei „in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ Hinter diesem Satz lässt sich letztlich eine Abwägung zwischen Wirtschaft und Mensch vermuten, die auch eine Abwägung des Wertes von Menschenleben beinhaltet. Zumindest ist es naiv anzunehmen, es gäbe in der Wirtschaft keine durchgesetzten Interessen, Motive und Ziele, die ihren Platz in Schäubles Satz eher bei „alles andere“ einnehmen und nicht „dem Schutz von Leben“ dienen.

So eine Abwägung wäre aber nicht nur zynisch, sondern auch aus Aspekten der Logik schlichtweg falsch – denn ist die Würde jedes einzelnen Menschen doch unantastbar, dann ist sie auch nicht durch wirtschaftliche Interessen in Frage zu stellen. Sind diese Interessen aber nicht immer dem Leben von Menschen unterzuordnen, kann das nur bedeuten, dass ökonomische Interessen Menschenleben fordern dürfen. Ist diese Deutung Schäubles Aussage überspitzt? Ist sie bloß ein Ausdruck eines anderen Standpunktes? Möglich. Nicht möglich ist und bleibt jedoch die Abwägung des Wertes eines Menschen untereinander – die ist letztlich auch gar nicht notwendig.

Eine Frage der Struktur

Denn notwendigerweise gibt es keine gesellschaftliche Zwickmühle, in der so oder so jede Entscheidung ihre Opfer fordert, weil man sich ganz für die Wirtschaft und gegen die Moral oder andersherum entscheiden müsste. Denn das würde bedeuten, dass wir keine Wahl über das System hätten, indem wir leben wollen. Es würde auch bedeuten, dass ökonomische Interessen unvereinbar mit moralischen Grundsätzen und Normen sind. Das ist aber nicht der Fall, denn Wirtschaft und Moral sind kulturelle Errungenschaften und nicht durch Naturgesetze vorgegeben. Das heißt auch, dass eine Gesellschaft sehr wohl dazu in der Lage ist, über die Art und Weise des Zusammenspiels von Wirtschaft und Moral nachzudenken, zu diskutieren, es zu entwickeln und zu etablieren. Wenn es also ein Abwägungsproblem gibt, dann eines über die Rolle der einzelnen Personen und Institutionen innerhalb einer Gesellschaft und somit eines über ihre Struktur. Aber wie kann das funktionieren?

Gerechtigkeit als Fairness

Um das herauszufinden, muss man nicht erst auf eine Antwort aus der Zukunft hoffen, sondern einfach in bereits vorhandener Literatur nachblättern. Eine solches Fundstück vergangener Tage ist etwa John Rawls‘ „Eine Theorie der Gerechtigkeit“. Rawls, einer der vielleicht einflussreichsten Philosophen des 21. Jahrhunderts, hat dabei auf mehr als 600 Seiten festgehalten, wie die Mitglieder einer Gesellschaft gerecht und damit fair miteinander umgehen können. Rawls‘ Überlegungen haben damit also keineswegs an Bedeutung verloren und wirken gerade jetzt aktueller denn je. Vielleicht können sie ja sogar zeigen, wie eine besserer Gesellschaftsordnung nach der Krise aussehen könnte.

Zuerst muss man zugeben, dass Rawls den Begriff „besser“ nicht verwenden würde. Vielmehr redet er von der sogenannten „wohlgeordneten Gesellschaft“. Das ist sie vor allem dann, „wenn sie nicht nur auf das Wohl ihrer Mitglieder zugeschnitten ist, sondern auch von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung wirksam gesteuert wird. Es handelt sich also um eine Gesellschaft, in der (1) jeder die gleichen Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennt und weiß, dass das auch die anderen tun, und (2) die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen bekanntermaßen diesen Grundsätzen genügen.“ Wie diese gemeinsamen Grundsätze letztlich aussehen sollen, beschreibt Rawls anhand der „beiden Grundsätze der Gerechtigkeit“.

1:
Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.

2:
Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.

Ohne Gerechtigkeit geht es also nicht und die muss verstanden werden als eine Art faire Chancengleichheit. Ein Zustand in dem „vernünftige Wesen“ in einer vernünftigen Weise über ihre Ziele und somit über ihre eigenen Lebenspläne frei entscheiden können. Fair und somit gerecht ist dabei das, was eine Besser- oder Schlechterstellung durch äußere Umstände, unter in freier und gleicher Beziehung zu einander stehender Menschen ausschließt. Mal ganz einfach ausgedrückt: Niemand kann einen Nachteil aus etwas ziehen, für das er oder sie nichts kann. Alles schön und gut, aber in der Realität kaum umzusetzen, oder?

Ungleiches unter Gleichen

Rawls war durchaus Realist. Ihm war klar, dass Gleichheit nicht heißen kann, dass jeder die gleiche Position in einer Gesellschaft einnehmen kann, zumindest dann nicht, wenn es um die Besetzung bestimmter „Positionen und Ämter“ in einer Gesellschaft geht. So gibt es in jeder Gesellschaft Grundgüter in Form von „Rechten, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen“, die auch grundsätzlich gleich zu verteilen wären, was aber aufgrund verschiedener physischer und sozialer Startbedingungen nicht immer möglich ist. Für Rawls Gerechtigkeitstheorie gilt dann: Auch eine Ungleichverteilung von gesellschaftlichen Grundgütern ist gerecht, sofern so eine „ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht.“ Ungerecht sind also die „Ungleichheiten, die nicht jedermann Nutzen bringen“ und gerecht die „jeden besser stellen als in dem angenommenen Ausgangszustand.“ Auch für Rawls gibt es also die Gerechtigkeit im Ungleichen – aber eben nur, weil er das Ungleiche an ein gleiches Ergebnis koppelt – nämlich der Besserstellung eines und einer jeden.

Fair und somit gerecht ist demzufolge ein Zustand oder eine Handlung nach dem Unterschiedsprinzip. Wenn also der Unterschied bei der Verteilung der gesellschaftlichen Grundgüter besser ist als deren Gleichverteilung. Das macht durchaus Sinn, denn wie gesagt, die Startbedingungen zur Verwirklichung der eigenen „Lebenspläne“ sind nicht für alle die gleichen. Äußere, nicht selten ungerechte, Umstände und Einflüsse und die ungleiche Verteilung – wie Rawls sie nennt – „natürlicher Güter“ in Form von „Gesundheit und Lebenskraft, Intelligenz und Phantasie“ verhindern das nur allzu oft. Wer nicht naiv ist, muss zugeben, dass eine Gemeinschaft mehr davon hat, Rechte und Pflichten nach diesen „Begünstigungen“ zu verteilen – zumindest einige davon. Aber gelten müsse dabei eben immer: „die besseren Aussichten der Begünstigten [sind] genau dann gerecht, wenn sie zur Verbesserung der am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft beitragen“.

Rawls geht es also um diejenigen in einer Gesellschaft, die am wenigsten besitzen und die nicht durch irgendwelche Bedürfnisse von denjenigen, denen es eh schon besser geht, noch zusätzlich benachteiligt werden sollen. Das macht auch durchaus Sinn, denn es scheint die einzige Möglichkeit in einer liberalen Gesellschaft zu sein, auch diejenigen mitzunehmen, die sonst nur allzu gerne vergessen werden. Zumindest ist so kein weiteres Auseinanderdriften von Besser- und Schlechtergestellten möglich, sondern tritt im Laufe der Zeit die „Annäherung an den vollkommen gerechten Zustand jedermanns Aussichten“ ein – so jedenfalls die Abicht Rawls‘.

Freiheit vor Reichtum

Damit aber Ungleichheit zur Wohlfahrtssteigerung aller führt, muss man ihr Grenzen setzen – alles andere würde Rawls Vorhaben auch unlogisch erscheinen lassen. So macht es vielleicht Sinn, dass bestimmte Personen anderen talentierteren Personen in einer bestimmten Sache den Vorzug zum Wohle aller überlassen, in dem sie etwa auf die Vorteile durch das Innehaben bestimmter Ämter oder Positionen verzichten. nicht aber der Verzicht der eigenen Freiheitsrechte. Denn zu was würde das führen? Es würde dazu führen, dass Menschen nicht mehr selbstbestimmt leben können, Fremdbestimmung somit legitimiert wird und damit vielleicht auch alle möglichen Gefahren für das eigene Wohl und Leben drohen. Von diesem Punkt aus betrachtet, ist es nur schwer vorstellbar, dass Rawls und Schäuble Freunde geworden wären. Denn für Rawls muss sehr wohl alles andere vor dem Schutz des Menschen zurücktreten. Denn für ihn gilt, dass „Verletzungen der vom ersten Grundsatz geschützten gleichen Grundfreiheiten nicht durch größere gesellschaftliche oder wirtschaftliche Vorteile gerechtfertigt oder ausgeglichen werden können.“ Zumindest nicht in einer Gesellschaft der gleichen Menschenwürde für jeden. Denn wie soll sie erhalten werden, wenn sie eintauschbar ist? Und wie könnte sie zurückgefordert werden, wenn man auf sie, mitsamt den damit verbundenen Freiheiten und Rechten, nicht mehr verzichten will oder kann? Die Antwort kann dazu nur lauten: möglicherweise gar nicht. So ein „gar nicht“ ist für Rawls nicht hinnehmbar, was dazu führt, dass der erste Gerechtigkeitsgrundsatz immer zur Bedingung des zweiten wird.

Gerechtigkeit lässt sich also ordnen und das aus gutem Grund. Solch ein Vorrang individueller Grundfreiheiten vor soziökonomischen Vorteilen mitsamt dem erwähnten Unterschiedsprinzip ist zudem die logische Konsequenz der Vernunft. So muss man sich schon fragen, warum eine vernünftige aber mit wenig gesellschaftlichen Grundgütern ausgestattete Person dem Handeln einer an gesellschaftlichen Gütern reichen Person zustimmen sollte, wenn sie dadurch einen Nachteil erleidet? Aus vernünftigen Überlegungen würde sie das vermutlich nicht tun. Um das zu veranschaulichen, macht Rawls ein Experiment und versetzt die Personen einer Gesellschaft als gleichberechtigte Vertragspartner*innen in einen hypothetischen Urzustand und das mit Hilfe des sogenannten „Schleier des Nichtwissens.“

Die Zukunft, ein Experiment?

Rawls versteht ihn als „angemessenen Ausgangszustand, der gewährleistet, dass die in ihm erzielten Grundvereinbarungen fair sind. Eine bisschen klarer ausgedrückt: Unter diesem Schleier des Nichtwissens gibt es keine „empirischen Ungleichheiten“ in dem Personen gegenüber anderen bevorteilt sind, weil sie einfach mehr Glück im Leben hatten und vielleicht in besseren Verhältnissen geboren wurden oder eine bessere Bildung als andere erhalten haben. Für Rawls sind das alles eben nur Zufälligkeiten. Sie können zurecht keinen Ausgangspunkt für eine institutionelle Gesellschaftsordnung sein. Jedenfalls dann nicht, wenn ihr höchstes Ziel darin besteht, dass jede*r, im eigenen möglichen Rahmen, den eigenen Interessen nachgehen kann. Anderenfalls würde eine Gesellschaft nur dazu dienen, die Begünstigten einer Gesellschaft noch mehr zu begünstigen und die schlecht gestellten noch schlechter zu stellen.

Unter dem Schleier des Nichtwissens wird demnach die unfaire Wirkung von Zufälligkeiten beseitigt, indem man diese hypothetisch ausklammert und den Menschen im Urzustand die Kenntnis über mögliche Vorteile und somit Potentiale von Vorteilshandlungen nimmt und damit empirische Ungleichheiten zumindest theoretisch korrigiert. Unzulässige Kenntnisse sind demnach: das Wissen über den eigenen Platz oder Status in der Gesellschaft sowie Kenntnisse über die eigene Klasse, Intelligenz oder physische und kognitive Fähigkeiten. Außerdem darf ebenso wenig über die eigene Vorstellung vom Guten, konkrete Vorstellungen des eigenen, vernünftigen Lebensplanes oder die Spezifika der eigenen Psyche oder Risikobereitschaft bekannt sein. Darüber hinaus gibt es dort kein Wissen über die spezifischen gesellschaftlichen Strukturen oder der eigenen Generationszugehörigkeit. Dass die Menschen in so einem Zustand ein faires Miteinander aushandeln würden, erscheint dabei fast schon unausweichlich. Denn, da der Mensch dort „vernünftigerweise [..] nicht mehr als einen gleichen Anteil an den gesellschaftlichen Grundgütern erwarten kann und nicht weniger hinnehmen wird“ ist es am vernünftigsten Gerechtigkeitsgrundsätze anzuerkennen, die „gleiche Grundfreiheiten für alle sowie faire Chancengleichheit und Gleichverteilung von Einkommen und Vermögen“ fordern.

Was nützt nun so ein Gedankenspiel mitsamt einer Gerechtigkeitstheorie im wahren Leben? Vielleicht ein ganze Menge, wenn es zeigt, dass die Würde der Menschen in einer Gesellschaft nicht verhandelbar ist. Denn der Mensch ist schließlich der Zweck und nicht das Mittel. Vielleicht zeigt es auch, dass eine Gesellschaft nur nachhaltig funktionieren kann, wenn sie nicht ihre schwächsten Mitglieder vergisst. Was zeigt uns das für die Zeiten in und nach der Krise? Bei aller Unklarheit eines wohl sehr deutlich: Wer es mit der Gerechtigkeit ernst meint, wägt sie nicht ab.       


Alle weiteren Zitate aus: 
Rawls, John (1971): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (Im Text:  §§1-26) 

(c): Montage: Christoph Eipert/relaio
Material: John Rawls icon icon by Icons8, phrase.it  

Die Welt in Quarantäne – #Solidarität

21. April 2020 By

Wir alle, die Gesellschaft, sind derzeit unter Quarantäne gestellt. Vielleicht ist das genau die richtige Zeit, um sich mal ein paar grundlegende Fragen zu stellen.

Zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat Angela Merkel zu mehr Solidarität ermahnt. Aber was genau meint sie eigentlich damit? Ein Blick in die Medien, Max Weber und der aktuelle Umgang mit tausenden Geflüchteten verraten schnell: Wir müssen hinterfragen, was es bedeutet solidarisch zu sein und dabei an diejenigen erinnern, die an den Grenzen Europas allein gelassen werden.

Gemeinsinn vs. Krieg

„Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“ Mit diesen Worten mahnte die Bundeskanzlerin Angela Merkel zu mehr Solidarität, um „alle in unserer Gemeinschaft zu schützen und den ökonomischen, sozialen, kulturellen Schaden zu begrenzen.“ Gemeint ist damit ihr Appell an die Bevölkerung zur Eindämmung des Coronavirus SARS-CoV-2. Den hielt Merkel in einer TV-Ansprache im März diesen Jahres. Der Münchner Merkur bezeichnete ihre Worte dabei als „historisch“, und für die Süddeutsche Zeitung war es fast schon der „letzte Versuch, die Menschen wachzurütteln“. Wie auch immer: ihre direkte Rede an die Nation war – wie es ZEIT Online treffend beschreibt – „ein Novum“, von der sie nicht einmal auf den Höhepunkt der Flüchtlingskrise Gebrauch gemacht hat und wie er sonst nur allerhöchstens zum Jahreswechsel stattfindet.

In Zeiten der Krise soll es nun die Solidarität regeln. (c) Christoph Eipert

Vielleicht kein Novum, aber ein Alleinstellungsmerkmal war hingegen die Rhetorik in Merkels Ansprache – zumindest im internationalen Vergleich. Denn während Emmanuel Macron in Frankreich seinen Zuhörer*innen verkündete: „Ja wir sind im Krieg“ und Donald Trump twitterte „The world is at war with a hidden enemy“, ist von Krieg und Feinden im Bundeskanzleramt keine Rede. Dort ist alles auf Solidarität gestellt. Auch Stephan Hebel, der bereits mehrere Bücher über Merkel geschrieben hat, hat darauf in der Wochenzeitung der Freitag hingewiesen und sich zugleich gefragt: Was könnte Merkels „Solidarität“ über den Tag hinaus bedeuten? Ja, was könnte sie eigentlich?  

(K)ein grundsätzliches Problem  

Ganz formal verkörpert Solidarität „die freiwillige (nicht zwangsläufig verpflichtende) Bereitschaft, anderen, denen man sich verbunden fühlt und die in Not geraten sind, zu helfen (ohne dass sie ein Recht auf Hilfe hätten)“. So schreibt es zumindest der Philosoph Martin Hartmann. Demnach benötigt Solidarität keinen Herkunftsnachweis und auch keine Aufenthaltserlaubnis, um bestehen zu können. Die für ihre Existenz notwendigen Bedingungen sind zunächst einmal die Not anderer und der eigene Wille, dieser Not ein Ende zu setzen. Solidarität lässt sich also unabhängig von politischen Konventionen und rechtlichen Legitimationen und Restriktionen denken. Das heißt auch: Solidarisch sein ist auch dann möglich, wenn Regierungen oder staatliche Verfassungen Menschenrechte – nicht selten im wahrsten Sinne des Wortes – mit Füßen treten. Solidarität kann also zeigen, dass auch Menschen unabhängig von irgendeiner Staatsbürgerschaft Hilfe brauchen und es keinen Unterschied machen darf, ob man das Leben eines Menschen vor einem Virus in München oder auf Lesbos schützt.  

[#Solidarität]
„ … die freiwillige (nicht zwangsläufig verpflichtende) Bereitschaft, anderen, denen man sich verbunden fühlt und die in Not geraten sind, zu helfen (ohne dass sie ein Recht auf Hilfe hätten).“ Martin Hartmann

Aber die Sache hat einen Haken: ausrichten kann Solidarität deshalb noch lange nichts. Denn allein die Bereitschaft zu etwas reicht noch nicht aus, um tatsächlich die Not und das Leid anderer zu beseitigen. Oder anders formuliert: Es genügt nicht, es einfach nur zu wollen, vielmehr muss man dafür auch handeln. Ist Solidarität aber eher als Einstellung in Form einer Bereitschaft und nicht als eine Tat zu verstehen, bleibt die Frage, welchen Wert sie überhaupt besitzt und welchen Beitrag sie zur Bekämpfung menschlicher Katastrophen in dieser Welt beitragen kann?

Ohne Innen keine Außen

Mit dieser Frage soll jedoch keineswegs der Wert des eigenen Willens bestritten werden. So ist Solidarität als bloßer Ausdruck eines Helfen-Wollens, eines Dazu-Bereit-Seins ganz und gar nicht wertlos. Vielmehr wird sie so zur Grundlage moralischen Handelns. Aber der Reihe nach: Wer etwas will oder eben zu etwas bereit ist, hat sich in aller Regel dazu frei entschieden. Das Motiv und der Wille zum Solidarisch-Sein bleibt also meist nicht dem Zufall oder Affekten überlassen, sondern ergibt sich aus einer bestimmter Haltung heraus. Formal lässt sich so eine Haltung als ein Ausdruck des „Standpunkteinnehmens“  beschreiben. So steht es auch etwa in der „Europäischen Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften“. Dort steht auch: im Sinne einer moralischen und somit sozialen Einstellung bedeutet „Standpunkteinehmen“ soviel wie „individuelle Kognitionen, Bewertungen und Bereitschaften, bestimmte soziale Objekte in bestimmter Weise wahrzunehmen und sich gegenüber ihnen zu verhalten.“

Solidarität muss man wollen, oder? (c) Christoph Eipert

Kein Zweifel, das trifft auch auf die Solidarität zu. Denn auch sie kann nicht bestehen, ohne dass die Einen die Anderen in einer bestimmten Weise werten und infolgedessen wahrnehmen. Denn wer andere aus ihrer Not retten und somit vor weiteren Leid bewahren will, muss dieses Leid als solches zuerst einmal wahrnehmen und die Notleidenden als solche anerkennen. Das geht nicht ohne bestimmte Bausteine der Moral. So braucht es dazu Empathie, um sich in die Situation der anderen einzufühlen, aber auch eine moralische Achtung gegenüber den eigenen Mitmenschen. Achtung bedeutet dabei so viel wie die eigenen Mitmenschen als Gleiche unter Gleichen zu erachten. Oder wie es die Philosophin Susanne Schmetkamp treffend beschreibt – ihren „moralischen Status anzuerkennen welcher sich aus ihrer Würde und ihrem Anspruch, in grundlegenden Hinsichten ernstgenommen und angemessen berücksichtigt zu werden, konstituiert“. Ohne diese moralische Achtung geht es nicht. Denn in einem Weltbild, indem das Leben anderer weniger oder gar nichts wert ist, wird auch das Leid anderer egal und nicht selten sogar zur Rechtfertigungsgrundlage der eigenen Unmoral. Die Bereitschaft zur Nothilfe wäre damit verschwunden und somit am Ende auch die Solidarität.
Der Wert der Solidarität als Wille besteht also darin, dass dieses Wollen ein Bekenntnis zu grundlegenden moralischen Werten ist, ohne die ein gerechtes und gleichberechtigtes Miteinander nicht möglich wäre. 1984 hat der Philosoph Ronald Dworkin diese Gleichheit als Anspruch formuliert und zwar in Form auf „das Recht auf gleiche Behandlung“ und auf „das Recht, als ein*e gleiche*r behandelt zu werden“. Ob Angela Merkel das in ihrer Ansprache vor kurzem auch so gemeint hat, lässt sich höchstens vermuten.

Der Zweck ist entscheidend

Sicher ist aber, dass sie Solidarität als eine Art des Handelns versteht, zumindest komme es  für sie schließlich „auf unser gemeinsames solidarisches Handeln“ an. Kann man Solidarität auch als Handlung verstehen, wäre ihr Ruf gänzlich gerettet. Sie wäre dann nicht nur eine Bereitschaft, sondern tatsächlich etwas, dass Menschen aus ihrem Leid befreien kann. Will Solidarität also nicht nur, sondern kann sie auch etwas?

Um das zu beantworten, sollte klar sein, was es heißt, sich nicht einfach nur irgendwie zu verhalten, sondern tatsächlich auch zu handeln. Was damit gemeint ist, hat bereits vor gut einhundert Jahren der Soziologe Max Weber erklärt. Menschliches Verhalten definiert er als „äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden“. Handeln hingegen „soll [..] ein menschliches Verhalten […] heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden“. Was der alte Wahlmünchner damit meint, ist, dass beim Handeln das eigene Tun nicht nur reaktiv wie ein Reflex ist, sondern ein Tun darstellt, dass eine sogenannte „Evidenz“ im Sinne einer rational oder durch Einfühlung erkennbare und somit nachvollziehbare (evidente) Ausrichtung zur Erfüllung bestimmter „Zwecke“ oder „Werte“ aufweist.

Beim solidarisch sein zählt nicht allein nur der Wille. (c) Christoph Eipert

Sozial wird so ein Handeln für Weber wiederum dann, wenn dessen Sinn und somit dessen beabsichtigter Zweck „auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ Genau genommen orientiert sich soziales Handeln demnach am „gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer“. Wer also etwa ökonomisch handelt, aber nicht „beim Konsum den künftigen Begehr Dritter mitberücksichtigt“ handelt noch lange nicht sozial. Soziales Handeln hat außerdem nichts mit Naturgesetzen zu tun. Weber erklärt es sportlich: „Ein Zusammenprall zweier Radfahrer [..] ist ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen. Wohl aber wären ihr Versuch, dem andern auszuweichen, und die auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung »soziales Handeln»“ Was er damit sagen will, ist das Folgende: es liegt in unserer Verantwortung, wie wir uns in bestimmten Situationen entscheiden zu handeln und damit eine eigene und gemeinsame; eine soziale Wirklichkeit schaffen.
Das passt ziemlich gut zur Solidarität. Denn wer sich bereit erklärt, anderen zu helfen, entscheidet sich letztlich zu einer Art des sozialen Handelns, als Antwort auf ein bestimmtes Geschehen und schafft damit eine soziale Wirklichkeit, in der Not reduziert und beseitigt oder zumindest der Versuch dazu unternommen wird.
Taugt die Solidarität also nicht nur als Wille, sondern auch zur Handlung, ist damit aber noch lange nicht beantwortet, was Solidarität auch tatsächlich bewirken kann. Denn damit sich auch frei nach dem eigenen solidarischen Willen handeln lässt, muss man das auch dürfen. Denn nur wer darf, der kann, oder?

Man darf nicht nur, man muss sogar

Das zu beantworten ist in Zeiten von Corona nicht leichter geworden. Denn zum Wollen, Können und Dürfen ist in den letzten Wochen noch ein Müssen hinzugekommen. So werden diejenigen, die auf Social-Distancing pfeifen und somit das Leid anderer eher vergrößern als es zu reduzieren, öffentlich verwarnt und mit teilweise hohen Bußgeldern bestraft. Im Umkehrschluss könnte man also auch sagen: wer nicht solidarisch ist, wird eben dazu gezwungen. Aber ist so ein Zwang zur Rücksichtnahme noch Solidarität, wenn der solidarische Wille dazu fehlt? Darüber kann man streiten: für den Soziologen und Ethnologen Émile Durkheim etwa ist Solidarität ohne Zwang erst gar nicht denkbar – jedenfalls nicht als ein Ausdruck der Moral. Denn „moralisch ist […]  alles, was den Menschen zwingt, mit dem anderen zu rechnen, seine Regungen auf etwas anderes abzustimmen als die Triebe des Egoismus“. Dem lässt sich aber entgegnen, dass eine Gesellschaft, doch vor allem die Summe eines und einer jeden einzelnen ist und letztlich kein System sie zur Solidarität zwingt, sondern sich eine Mehrheit der einzelnen eben frei dazu entscheidet. Die Antwort liegt wohl irgendwo dazwischen  – schlagen sie dafür doch einfach mal unter „Freiheit“ bei Jean-Paul Sartre, Henri Bergson, dem alten Hegel oder Jürgen Habermas nach. Unterm Strich könnte man doch aber sagen: wer solidarisch sein will, kann es auch, weil er oder sie es darf, ja sogar muss. Darüber hinaus ist solidarisch sein gerade sogar ein Leichtes. Das klappt nämlich schon, indem man einfach mal zu Hause bleibt, ein paar Wochen auf Kneipen, Geburtstagspartys und Tinder-Dates verzichtet.

Wer solidarisch ist, bleibt einfach zu Hause. Doch so einfach geht es nicht immer. (c) Christoph Eipert

 

Solidarität ja, aber bitte nicht für alle!

Das war es aber auch schon wieder mit all der Einfachheit. Denn einfach umzusetzen ist solidarisches Handeln im beste Falle nur innerhalb bestimmter Ländergrenzen. Anderswo ist es dagegen mehr als schwierig, überhaupt an Solidarität zu denken. Die Rede ist von Orten wie dem Flüchtlingslager Moria im Landesinneren der griechischen Insel Lesbos. Die Frage, ob man sich aus freien Stücken zur Solidarität verpflichtet fühlt, oder sich – vielleicht sogar bereitwillig? – aufzwängen lässt, stellt sich dort erst gar nicht. Denn an den Außengrenzen Europas ist Solidarität nicht erwünscht. So werden vehement die wenigen Nothelfenden vor Ort bei ihrer Arbeit bedroht oder gar nicht erst Raum zur Hilfe geboten. So befindet sich das Camp von Moria auf einem stillgelegten Militärkomplex, das ursprünglich für 3.000 Menschen konzipiert wurde und nun jedoch bereits über 20.000 Geflüchtete aufgenommen hat. Helfer*innen vor Ort berichten zudem von weiteren, wilden Camps, in denen die Geflüchteten ohne medizinische Hilfe ausharren müssen.

Die gesundheitlichen Folgen sind gravierend. So berichtete etwa das ZDF von Unterkünften aus Plastikplanen und Pappe sowie von verheerenden hygienischen Bedingungen durch fehlende Sanitäranlagen. So müssen sich in einigen Teilen des Lagers bis zu 200 Personen eine Toilette teilen und bis zu 500 Geflüchtete eine einzige Dusche. Das etwa erfuhren die Reporter von der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen e.V.“ Sie ist eine der wenigen die vor Ort Hilfe leisten , staatliche Ärzte sucht man dagegen vergebens. Masern, Krätze und andere Infektionskrankheiten sind eine Folge dieser Zustände, die andere ist Gewalt: So erzählte erst vor kurzem der Kapitän des Seenotrettungsschiffes „Mare Liberum“, Dariush Beigui, in einem bekannten Podcast von weiblichen Geflüchteten des Camps, die immer wieder Bedrohungen, Missbräuchen und Vergewaltigungen zum Opfer fallen. Er sowie Ärzte ohne Grenzen e.V. berichten zudem davon, dass Behörden wie die europäische Grenzschutzagentur Frontex oder die griechische Küstenwache systematisch und tatenlos vor Menschenrechtsverletzungen auf offener See die Augen verschließen.  

In den nächsten Tagen und Wochen wird sich diese jetzt schon menschenverachtende Situation nochmals um ein Vielfaches verschlimmern, denn der Coronavirus macht auch dort nicht halt. Social Distancing ist jedoch in überfüllten Zeltbehausungen nicht möglich, genauso wenig wie die Einhaltung überlebenswichtiger Hygienestandards. Denn dazu bräuchte es fließend Wasser und Seife – einfachste Dinge, die es in Moria nicht gibt.

Die einfachsten Dinge sind an Orten wie Moria kaum möglich. (c) Christoph Eipert

Solidarität, die keine ist

Moria ist eine moralische Bankrotterklärung. Wer es mit der Menschlichkeit genau nimmt, kann nicht widersprechen, dass es solche Zustände, wie sie dort herrschen, zu keiner Zeit geben darf. Auch  – oder gerade deshalb – ist all das ebenso wenig mit hier geltenden Rechtsgrundsätzen zu vereinen. So ist nach Artikel 1 des Grundgesetzes die Würde des Menschen unantastbar. Mehr noch: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Verwendet das deutsche Grundgesetz in keiner einzigen Zeile den Begriff Solidarität, macht es jedoch ebenso wie sie keinen Unterschied in der Würde von Menschen. So heißt es im zweiten Satz desselben Artikels: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Jede*r also und über die Grenzen hinaus.

„In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“
Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Auch rechtsstaatlich kann man sich also nicht vor der eigenen humanistischen Verantwortung drücken. Wer das nicht glaubt, da Moria kein eigenes, sondern ein griechisches Problem sei, der oder die irrt. Denn letztlich ist es ein europäisches. Spätestens jetzt wird Solidarität wieder auf den Plan gerufen. Denn laut Präambel der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ ist Solidarität neben der Würde, Freiheit und Gleichheit der Menschen, einer der „unteilbaren und universellen Werte“ der Staatengemeinschaft. Das heißt auch, dass nicht nur Griechenland, sondern alle Gemeinschaften innerhalb dieser Wertegemeinschaft solidarisch zeigen sollten. Zumindest dann, wenn sie sich an die selbstgesetzten europäischen Werte auch tatsächlich halten wollen und im Artikel 80 des „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ eingefordert wird.

Das zuvor entdeckte Dürfen und Müssen der Solidarität wird hier also zur greifbaren und verpflichtenden Realität. Dass das Gleiche für ein organisatorisches wie ökonomisches Können von Solidarität gilt, muss an dieser Stelle nicht mehr diskutiert werden. Ein in diesem Text entdeckter Aspekt der Solidarität scheint hier jedoch zu fehlen – nämlich ihr Wollen. Denn wenn die Regierung eines der reichsten Länder dieser Erde nicht mehr als 50 Minderjährige aus den Lagern am Mittelmeer aufnimmt, gleichzeitig aber weiterhin Tausenden jede Hilfe verwehrt, ist das nicht solidarisch, sondern im besten Fall zynisch. Um das zu verdeutlichen, muss man eigentliche keine Vergleiche zu staatlichen Solidaritätsbemühungen mit der heimischen Edel-Gemüse-Industrie bemühen. Letztlich scheint doch aber Spargel gegenwärtig einen höheren Stellenwert zu besitzen, als so manches Menschenleben (reine Vermutung!).   

Wer es mit der Solidarität ernst nimmt, kann sich vor der eigenen, humanistischen Verantwortung nicht drücken. (c) Christoph Eipert

Bezieht man das alles in die hier gemachten Überlegungen zur Solidarität mit ein, muss man Angela Merkel doch noch einmal fragen, was sie in ihrer Ansprache tatsächlich mit dem Begriff Solidarität zum Ausdruck bringen wollte. Einen Akt der Bereitschaft und Umsetzung der Beseitigung von Not und Leid anderer kann sie nicht gemeint haben. Zumindest nicht in dem Sinn, wie ihn dieser Text erkundet hat. Denn wie deutlich wurde, schert sich Solidarität ganz formal nicht um den rechtlichen Status von Personen, sondern um ihre Situation. Dass die hiesige Regierung aber auch viele andere in Europas politischen Spitzenpositionen  nicht dieser Auffassung folgen, macht das Geschehen um Moria deutlich. Eine Solidarität, die einer solchen Politik entspricht, ist eine, die Menschen in ihrem Mensch-Sein einen unterschiedlichen Wert zuspricht und dabei ihrer eigenen Maxime der Gleichheit widerspricht. Solidarität wird dann zu etwas, dass das Leid von Menschen ignoriert und sie im Vergleich zu anderen diskriminiert. Dann ist die Rede von einer Solidarität, die keine ist.  


(c): Montage: Christoph Eipert/relaio
Material: Dianakuehn30010 for Pixabay (ohne Maske), phrase.it  

Städte für Kinder

4. April 2020 By

Demokratieerfahrungen und Selbstwirksamkeit stärken

Wie entsteht Demokratie? Wie bildet sich demokratisches Bewusstsein? Welche Erfahrungen wie Ausgrenzung oder Wertschätzung führen zu welchen Handlungen in einer Demokratie? Bildung ist ein entscheidender Faktor für spätere politische Biographien, Haltungen und Werte – durch Erfahrungen, die in der Kindheit und Jugend gesammelt werden, wird das Vertrauen in demokratische Ordnung und die eigene Relevanz in dieser entscheidend geprägt.

Dafür spielen Lebenswelten der Umgebung, der Nachbarschaft und des Alltags von Lernenden eine tragende Rolle und müssen ernst- und wahrgenommen werden. Schulen sind dabei ein wichtiger Ort des Lernprozesses, aber auch andere Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche ihre freie Zeit verbringen, sind prägend. Meist werden diese Orte, Einrichtungen und Institutionen von Erwachsenen geleitet und spiegeln auch deswegen deren Erfahrungen und Vorstellungen wider.

Emotionen, Ideen und Interessen von Kindern und Jugendlichen brauchen Raum. Aber welche Möglichkeiten haben Kinder und Jugendliche dazu? Welche Räume können sie für sich nutzbar machen? Wie können sie in der Öffentlichkeit ihre Realitäten sichtbar machen?

Im Folgenden werden Projekte vorgestellt, die es Kindern und Jugendlichen ermöglichen, unterschiedliche Szenarien  im Bereich Ökonomie, Politik und Gesellschaft zu erproben, um in diesen Bereichen auch in der realen Welt verantwortungsvoll zu agieren. Erfahrungen über eigenmächtiges Handeln und dessen Konsequenzen sind maßgeblich prägend für das Verständnis und eine konstruktive Interaktion mit gegebenen Umwelten und Umständen.

Oft stehen Kindern und Jugendlichen nur begrenzt Plätze zur Verfügung. Besonders freie Räume, die unterschiedliche Nutzungsformen ermöglichen, sind schwer erreichbar. (c) Randy Yip

Greater form – Projektraum für kulturelle Teilhabe in Leipzig-Grünau

Die Projektgruppe greater form möchte Kinder und Jugendliche dazu ermächtigen, selbstbestimmt Verantwortung für sich und ihren Lebensraum zu übernehmen. Seit 2015 forschen sie mit Kindern und Jugendlichen der Großwohnsiedlung Leipzig-Grünau zum Leben und Erleben im Stadtteil, in dem sich Herausforderungen unserer Zeit wie Verdrängungsmechanismen, prekäre Arbeitsbedingungen und erhebliche Lohnunterschiede oft sehr verdichtet darstellen.
Greater forms Ansatz basiert auf Teilhabe. Das Projektexperimentiert mit prozessoffenen Formen der Kollaboration. Im Leipziger Stadtteil Grünau, der oft als sozialer Brennpunkt wahrgenommen wird, organisiert die Gruppe Austellungen, Talk-Shows, Videodrehs, einen Ort zum Abhängen und erstellt Publikationen. Die Projekte von greater form bauen inhaltlich und methodisch aufeinander auf, sodass sich über die Zeit eine Eigendynamik entfaltet, in der die Arbeitsphasen länger und die Projekte selbst zusehends freier konzipiert wurden – das ist auch deswegen möglich, weil die Kinder und Jugendlichen immer wieder kommen.

Diese haben mit greater form einen Raum zur Verfügung gestellt bekommen, den sie sich selbst aneignen können. Die Gruppe experimentiert dabei mit der Frage, wie viel Mitbestimmung möglich ist. So kommt es dann auch dazu, dass sich die jungen Teilnehmer*innen dazu entscheiden, sich mit bestimmten Auseinandersetzungen zu gesellschaftlichen Themen, zum Beispiel bei einer geplanten Ausstellung mit Zeichnungen von Erwachsenen aus dem Viertel, nicht zu beschäftigen, oder dazu, von gesammelten Geldern nach einer basisdemokratischen Diskussion Nike-Turnschuhe für alle zu kaufen. Das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden ist dabei stetig ein wechselndes.

Der derzeitige Raum der Gruppe ist wandelbar und kann an einem Tag eine Bühne beinhalten und am nächsten Tag wieder leer geräumt werden. „Das soll ermöglichen, dass wir spontan auf Ideen der Kinder und Jugendlichen reagieren können. Dementsprechend eine Lösung finden, wie wir uns jeweils eine Arbeitssituation einrichten. Von Holzwerkstatt bis Computerbürosituation ist alles möglich“, beschreibt Philipp Rödel, einer der Projektverantwortlichen, in einem Interview mit Sachsen-Fernsehen.

Spielstädte – ein kollektiver Lernort

Mini-München ist ein spiel- und kulturpädagogisches Projekt, mit dem alle zwei Jahre für drei Wochen in München eine Kinderstadt stattfindet. Das Projekt bietet allen Kinder und Jugendlichen unabhängig von Herkunft und Bildungshintergrund eine Fülle an Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten.

Die Kinder und Jugendlichen beleben dabei selbst ihre Stadt, gehen verschiedenen Berufen nach, verhandeln politische Fragen, studieren, treffen sich, gehen einkaufen und essen. Beim ersten Besuch erhalten sie im Einwohnermeldeamt ihren persönlichen Mitspielpass mit den wichtigsten Informationen und Spielregeln. Beim Arbeitsamt werden Jobs und an der Hochschule Studienplätze angeboten. Wer arbeitet oder studiert, kann „MiMüs“ verdienen und damit im Gasthaus essen, ins Kino und Theater gehen, im Supermarkt einkaufen, sich ein Grundstück pachten oder sein Geld auf ein Sparbuch einzahlen. In den letzten Jahren sind viele Spielstadtprojekte in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Dänemark, sogar in Mexiko und besonders in Japan nach dem Vorbild Mini-Münchens entstanden.

Mini-Münchner*innen bei einer Bürgerversammlung. (c) Kultur& Spielraum e.V.

Über die sich in den Wochen bildenden Strukturen von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen in der Stadt hinaus wird eigener Gestaltungswille gefördert und Neues denkbar gemacht. Zum Beispiel gründet eine Teilnehmerin in der Warteschlange zum Arbeitsamt ihr eigenes Tattoostudio und beendet es wieder, sobald sie genügend Geld für sich gesammelt und keine Lust mehr hat. Vorgeschlagene Motive, die ihr nicht gefallen, malt sie ihren Kund*innen auch nicht auf. Jeden Tag werden Grenzen und Muster ausgelotet, aufgebaut und wieder verworfen. Die Stadt befindet sich in einem ständigen Balanceakt zwischen dem Aufrechterhalten des regulären Spielbetriebs und einer Offenheit für Aktionen der Unterbrechungen. Damit fungiert die Spielstadt als kollektiver Lernort, sowohl für die Spielleiter*innen als auch für die Spielenden.

Aufbau im Spielclub Oranienstraße 25. (c) Benjamin Renter

Die neue Gesellschaft für bildende Kunst veranstaltete im Januar dieses Jahres den „Spielclub Oranienstraße 25“. Die Idee basiert auf einem der ersten Projekte des Kreuzberger Kunstvereins, dem „Spielklub Kulmer Straße 20a“, der in den 70er Jahren in einer Fabriketage in Schöneberg existierte. Damals sollte explizit eine kapitalismuskritische Spielpraxis mit Kindern aus der Arbeiterklasse entwickelt werden, um ihnen zu mehr Selbstbewusstsein und Ausdrucksfähigkeit in der realen Welt zu verhelfen.

Im aktuellen Projekt geht es vor allem um Fragen zur Kapitalisierung der Stadt. Spielerisch werden dort aktuelle Fragen der Stadtentwicklung behandelt: Mietpolitik, Verdrängung und Teilhabe. Eine Fragestellung ist dabei schon in den Spielverlauf eingebaut: Was passiert, wenn die Häuser nicht mehr zum Wohnen, sondern zum Geldverdienen da sind? Ältere Kinder und Jugendliche kennen Verdrängungsmechanismen der wachsenden, kapitalisierten Stadt bereits von Nachbar*innen oder sind selbst mit ihrer Familie davon betroffen. Sie gründen basierend auf diesen Erfahrungen in der Spielstadt beispielsweise Vereine, um Mieterhöhungen zu bekämpfen. Viele der Kinder freuen sich aber trotz der Implikationen der Spielleiter*innen daran, sehr viel Geld zu horten. Ob diese Aktion die Kinder direkt zu Kapitalist*innen macht, bleibt anzuzweifeln. Der Versuch, den Kindern die Realität der wahren Umstände in einer Stadt beizubringen, wirkt dabei oft umgekehrt auch als Lerneffekt für die Organisator*innen.

Beide Projekte setzen sich dabei auch intensiv mit ebensolchen Fragen auseinander: Welche Werte vermitteln die Umstände der Spielstädte? Was bedeutet es, Spielgeld zu horten? Wie schafft man es, Selbstwirksamkeit und die Rolle der (erwachsenen) Spielleitern zu vereinen? Wer bestimmt, wann und wie das Spiel zu Ende ist?

Die Frage, welche ökonomische Logik in das Geschehen der Städte bereits vorintegriert ist und inwieweit es möglich ist, diese umzudeuten oder manchmal auch aufzuheben, wird in jedem Versuch neu ausgelotet. Teils unangenehme Realitäten wie die Faszination vieler Kinder für Polizei- und Autoritätssymbole oder der Spaß daran, sich tagelang mit dem Taxi herumfahren zu lassen, anstatt das Geld zum Beispiel solidarisch zu teilen, sind dabei nicht auszuklammern. Kinder und Jugendliche haben nicht immer Recht. Dass sie aber auch im Zweifelsfall, wenn sie zum Beispiel Unrecht haben, gehört und ernst genommen werden, schafft erst die Basis für selbstkritische Bewertung des eigenen Verhaltens.

In jedem Fall lernen die Kinder und Jugendlichen, Verantwortung für ein Geschehen zu übernehmen, das sich über mehrere Tage hinweg verändert, verschiedene Grade der Kollaboration und Interaktion bereithält und dadurch einen Handlungsraum eröffnet, in dem eine Stadt in vielen möglichen Strukturen erfahrbar wird. Ein Reservat, das Erwachsene für die Kinder bereithalten, um sich frei bewegen zu können?

Bildungslandschaften entdecken

Im Projekt „Bildungslandschaften“ der Initiative „Schule macht sich“ geht es darum, informelle Orte und Beziehungen als bildungsrelevant zu begreifen und diese auch in den Schulalltag zu integrieren.

Wenn Schulen sich hin zur direkten Nachbarschaft in ihren Stadtvierteln öffnen, können sie eine ganzheitliche Lernwelt für Schüler*innen schaffen: In einem partizipativen Verfahren trägt bei dem Projekt „Bildungslandschaften entdecken“ die gesamte Schulfamilie zur Öffnung der Schule, hin zur Nachbarschaft, bei. Es ist dabei besonders wichtig, dass die Schüler*innen der Schule selbst zur Erschließung von informellen Lernorten beitragen, da sie selbst diese Orte am besten kennen. Somit kann die Schule eine größere Rolle im Stadtteil einnehmen oder sich selbst (informelle) Bildungspartner*innen in den Schulalltag einladen.  Damit solche Orte mehr sind als ein Reservat, das Erwachsene für Kinder und Jugendliche bereithalten, sind Verbindungsprojekte wie das von „Schule macht sich“ essentiell.

Wichtig ist der Bezug zu den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen: so kann ein potentieller Ausbildungsbetrieb aus der Nachbarschaft, aber auch ein Bolzplatz Teil einer Bildungslandschaft werden.

Wer ermächtigt wen, was zu tun?

Den vorgestellten Projekten ist gemein, dass Kinder und Jugendliche auch einen Platz – oft eine bestimmte Räumlichkeit – zum Ausprobieren, Experimentieren und auch mal Falsch-Liegen haben. Die demokratischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Umgebungen werden ernsthaft untersucht und Bezüge zur Lebenslage der Beteiligten werden hergestellt.

Kinder und Jugendliche benötigen in jedem Fall eine Öffentlichkeit, in der sie ihre sozialen, kognitiven und emotionalen Fähigkeiten voll entfalten können. Diese Öffentlichkeit kann aber zunächst nur durch Erwachsene hergestellt werden. Dinge und Gegebenheiten müssen darin eine gewisse Offenheit besitzen, um neu besetzt werden zu können. Die Entdeckung und der Gebrauch eigener Ausdrucksmittel befördert die Wirklichkeitsaneignung der Kinder und Jugendlichen.

Das fördert auch die Teilhabe der Kinder und Jugendlichen am öffentlichen Leben. Es muss weiter Ziel sein, die aktive Mitgestaltung am sozialen und kulturellen Leben zu ermöglichen. Dabei ist auch das Nicht-Partizipieren-Wollen eine Entscheidung – wenn das Gegenteilige auch tatsächlich möglich gewesen wäre.


Titelbild: (c) Kultur& Spielraum e.V.

Die Große Transformation

26. März 2020 By

Wie sich die Wirtschaft im Kapitalismus gegenüber seinen natürlichen und gesellschaftlichen Grundlagen verselbstständigt

Die Brände in Australien zum Jahreswechsel von 2019 zu 2020 waren eine ökologische und gesellschaftliche Katastrophe. Milliarden Lebewesen sind den Flammen zum Opfer gefallen und die Natur hat immense Schäden genommen. Die Angst, dass die dortigen Ökosysteme dauerhaft aus dem Gleichgewicht geraten, scheint berechtigt. Und zu der Dürre, die die Brände begünstigt hat, kamen gleichzeitig noch weitere, durch den Klimawandel ausgelöste Extremwetterereignisse wie Starkregenfälle und Überschwemmungen hinzu. Australien gehört damit zu den Industrieländern, die bereits jetzt am stärksten vom Klimawandel betroffen sind. Paradoxerweise gehört das Land auch zu den größten Verursachern des Klimawandels. Australien ist der zweitgrößte Exporteur von Steinkohle weltweit. Wenn die Verschmutzung durch diese Exporte berücksichtigt werden, ist das Land laut einer Studie der Australian Conservation Foundation mit seinen nur 25 Millionen Einwohnern für fünf Prozent der globalen Emissionen verantwortlich. Der Abbau von fossilen Brennstoffen geht dabei keineswegs zurück, sondern werden weitere Investments in den Abbau getätigt, darunter auch von deutschen Konzernen. Sowohl Wirtschaftsunternehmen als auch die Politik in Canberra weigern sich aber diesen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, der hier so nah wie selten zusammentrifft, anzuerkennen und zu bekämpfen. Stattdessen blockiert die australische Regierung zusammen mit den USA und Brasilien internationale Klimaübereinkommen, wie zuletzt in Madrid 2019. Und mit dem Ende der Feuerstürme fand bisher kein Umdenken statt.

Zwangsläufig stellt sich hier die Frage, wie die Politik und die Wirtschaft in Australien und in den anderen Industrieländern angesichts dieser Zerstörungen wie gewohnt weitermachen können. Denn der Raubbau an der Natur kommt einer gesellschaftlichen und ökologischen Selbstzerstörung gleich.  Um eine Antwort darauf zu finden, warum dies so ist,  wird in den vergangenen Jahren oft ein Klassiker der Wirtschaftssoziologie herangezogen, der aber nichts von seiner Aktualität verloren hat: Der österreich-ungarische Wirtschaftshistoriker und Soziologe Karl Polanyi lieferte bereits 1944 in seinem Hauptwerk „Die Große Transformation“ einen Erklärungsversuch für diesen selbstzerstörerischen Mechanismus. Er konstatiert hier, dass sich die Wirtschaftsordnung im kapitalistischen System in einem Langzeitprozess gegenüber seinen natürlichen und gesellschaftlichen Grundlagen verselbstständigt und sozialen Kontrollmechanismen entzogen hat. Zu dieser „Entbettung“ der Wirtschaft kam es während der Industriellen Revolution durch langfristige und tiefgreifende Eingriffe der politischen Eliten, so dass am Ende der großen Transformation nicht mehr die Gesellschaft die Ökonomie, sondern umgekehrt die Ökonomie die Gesellschaft bestimme.

Gesellschaftliche Einbettung der Wirtschaft

Doch wie sah es zuvor aus? In allen vormodernen Gesellschaftsordnung war die Wirtschaftsordnung durch soziale Beziehungen und Institutionen geordnet. So gab es laut Polanyi weder bei den frühen Hochkulturen der Antike, noch im feudalen Mittelalter oder dem Merkantilismus der frühen Neuzeit die Idee eines Marktes, der von Politik oder Gesellschaft unabhängig war. Stattdessen waren die Wirtschaftssysteme dieser Zeit stets Produkte der sozialen Strukturen, was er als „Einbettung“ der Wirtschaft in die Gesellschaft bezeichnet. Polanyi unterscheidet hier zwischen drei Wirtschaftsformen, die oft nebeneinander und nicht immer klar zu unterscheiden in Gesellschaften auftraten:

  • In redistributiven Systemen werden Produktion und Handel von einer zentralen Einheit wie einem Stammesführer, einem Feudalherrn oder einer Zunft gesteuert. Diese verteilen dann die Erträge an die Mitglieder ihrer Gesellschaft, wodurch die eigene Stellung legitimiert wird.
  • In einem reziproken System basiert der Austausch von Gütern auf dem wechselseitigen Austausch von Gaben und Geschenken zwischen sozialen Einheiten. Der gegenseitige, oft ritualisierte Austausch verfestigt die sozialen Beziehungen und hält diese aufrecht. Das Verhältnis zwischen den einzelnen sozialen Einheiten ist dabei nicht notwendigerweise egalitär, sondern durch komplexe Hierarchien und gegenseitige Abhängigkeit von mehr als zwei Gruppen gekennzeichnet. Dabei sind auch Fälle bekannt, in denen es zur Herausbildung von zirkulären Wirtschaftssystemen in Form von Tauschringen kam.
  • Als Haushaltssysteme werden Wirtschaftsformen bezeichnet, in denen die Produktion auf einzelne mehr oder weniger autarke Haushalte konzentriert ist. Familieneinheiten produzieren die Nahrungsmittel und Güter für ihren eigenen Gebrauch und Konsum, allerdings existiert dies oft als Mischform im Zusammenhang mit den beiden obigen Systemen

Gesellschaftliche Hierarchien schlagen sich in der Wirtschaft nieder und werden so verfestigt und reproduziert. Politik und Wirtschaft sind damit untrennbar miteinander verbunden. Das wird deutlich am Beispiel der mittelalterlichen, feudalen Gesellschaftsordnung, in der adelige Grundherren den Zugang über Land und Ressourcen beherrschten und über die Arbeitskraft ihrer Untertanen und Pächter verfügten. Aus dieser allumfassenden Ordnung gab es kein Emporarbeiten. Den ständischen Kollektiven ging es um den Machterhalt, den einfachen Landbevölkerung um den bloßen Lebensunterhalt. In ihrem wirtschaftlichen Handeln waren die einfachen Landbewohner damit unfrei, genauso wie in ihren gesellschaftlichen Positionen.

Neben diesen, die Wirtschaft ordnenden Prinzipen gab es aber auch immer Handel nach Marktmechanismen, also der Preisbildung durch Angebot und Nachfrage. Dies trifft insbesondere zu, wenn Waren mit Menschen außerhalb der eigenen Gesellschaft gehandelt wurden, die nicht selbst produziert werden konnten, was insbesondere auf den Fernhandel zutrifft.

Die Entbettung der Wirtschaft und Verselbstständigung gegenüber der Gesellschaft

Während alle vorherigen Gesellschaften auf der Welt in diese drei Wirtschaftsordnungen eingeordnet werden konnten, verortet Polanyi den Beginn des modernen Wirtschaftssystems nach dem Marktprinzip im Großbritannien zur Zeit der industriellen Revolution. Hier kommt es im 17. und 18. Jahrhunderts zu einem Umbruch, der zunächst einmal ein politischer ist. Das englische Parlament, in dem immer mehr niederer Adel vertreten war, entriss der Krone zunehmend die Macht, so dass die feudale Gesellschaftsordnung zu bröckeln begann und im Zuge der Aufklärung das Individuum gegenüber der ständischen Gesellschaft hervortrat. Wurde zuvor die ständische Ordnung als gottgegeben betrachtet, stand nun die Suche nach Naturgesetzen im Vordergrund, die auf die menschlichen Gesellschaften übertragen wurden.

Das englische Parlament erlaubte es den Grundherren zunehmend, das vorher von der Landbevölkerung gemeinschaftlich bewirtschaftete Land, die Allmende, einzuhegen und den Pächtern und abhängigen Bauern ihr Land wegzunehmen. Gleichzeitig wurde die Landbevölkerung aus ihrer Abhängigkeit befreit und die Freizügigkeit beschlossen – allerdings bei alternativloser Streichung der Armenfürsorge.

Hunger, Armut und Verelendung trieben weite Teile der Bevölkerung in die Lohnarbeit.

Für die wohlhabenden Landbesitzer fiel damit die Verpflichtung weg, für die Untertanen zu sorgen und aus den vielen verpachteten Kleinbetrieben wurden landwirtschaftliche Großbetriebe. In diesen wurde dann die weitaus profitablere Viehhaltung betrieben, wodurch aber die Kleinbauern zum Stillen ihres Lebensunterhaltes keinen Ackerbau mehr betreiben konnten. Dies wurde im Rückblick als eine „Revolution der Reichen gegen die Armen“ bezeichnet, weil die Landbevölkerung die Mittel verlor, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Hunger, Armut und Verelendung trieben dann weite Teile der Bevölkerung in die wachsenden Städte der beginnenden Industrialisierung sowie in die Lohnarbeit. Diese Einführung eines freien Arbeitsmarktes kommt in erster Linie durch den Zwang zur Lohnarbeit infolge der fehlenden Möglichkeiten zur Selbstversorgung zustande. Vor diesem Hintergrund kommt es nun zu drei bedeutenden Veränderungen:

  • Die Herausbildung einer scheinbaren Trennung zwischen einer Sphäre der Wirtschaft und einer der Politik. Die Marktwirtschaft wird dabei als ein sich selbst regulierender, freier Mechanismus betrachtet, der festen Gesetzmäßigkeiten folgt. Eine politische Einmischung in diese freie Entfaltung des Marktes wird als Störung betrachtet. Dabei wird allerdings außen vorgelassen, dass diese Trennung zwischen Politik und Wirtschaft selbst das Ergebnis eines politischen Prozesses ist. Nur durch einen erstarkenden Nationalstaat und heftige Einschnitte in die sozialen Strukturen war es möglich, die feudale und merkantile Ordnung niederzureißen und eine scheinbar freie Marktwirtschaft zu kreieren und aufrechtzuerhalten.
  • Mit der Vorstellung eines den Naturgesetzen folgenden Marktes kommt es nach Polanyi auch zu einem „emotionalen Glauben an die Spontaneität“ des Marktes und der Veränderung der ökonomischen Mentalität der Menschen hin zu einem scheinbar rationalen, Nutzen maximierenden Kalkül. Dies führt auch zur wirkmächtigen Entstehung des Mythos des Homo Oeconimicus, der arbeitet, um seinen Nutzen zu maximieren und nicht mehr, um sich in die soziale Ordnung einzufügen.
  • Arbeit, Boden und Geld wurden in zunehmenden Maße kommodifiziert, also zu Waren gemacht, die nach Angebot und Nachfrage am Markt gehandelt werden. Im Gegensatz zu anderen Waren, die durch menschliche Arbeit für den Verkauf hergestellt werden, nehmen diese drei Dinge aber eine Sonderrolle ein: Sie bilden vielmehr die Vorstufe jeder wirtschaftlichen Aktivität. Polanyi nennt diese deswegen „fiktive Waren“. Aber insbesondere Arbeit und Boden sind noch viel mehr: „Arbeitskraft und Boden bedeutet nichts anderes, als die Menschen selber, aus denen jede Gesellschaft besteht, und die natürliche Umgebung, in der sie existiert“ – sie stellen damit die Grundlage einer jeder Gesellschaft dar. Werden sie in den Marktmechanismus mit einbezogen, heißt das, dass die Substanz der Gesellschaft den Gesetzen des Marktes selbst untergeordnet wird.

Diese drei Veränderungen sorgten laut Polanyi dafür, dass sich die Gesellschaft, ausgehend von Großbritannien, in der titelgebenden „großen Transformation“ in eine Marktgesellschaft, verwandelt hat. In dieser bestimmt nicht mehr die Soziale Ordnung die Wirtschaft, sondern der Marktmechanismus die Gesellschaftsordnung. Diese verselbstständigte und entbettete Wirtschaft ist gemäß Polanyi der Grund, warum sich der moderne Kapitalismus in einen Mensch und Umwelt zerstörenden Modus begeben hat:

„Wenn man den Marktmechanismus als ausschließlichen Lenker des Schicksals der Menschen und ihrer natürlichen Umwelt […] zuließe, dann würde das zur Zerstörung der Gesellschaft führen.“

Was bringt uns dieses Wissen?

Karl Polanyis „Große Transformation“ ist eine historische Analyse, anhand der sich nachvollziehen lässt, wie es zur Herausbildung der modernen Marktgesellschaft kam. Wichtig dabei ist, dass Polanyi den Marktmechanismus, also die Preisbildung nach Angebot und Nachfrage, nicht per se kritisiert, sondern die Entbettung der Wirtschaft und den Verlust der politischen und sozialen Kontrolle. Um also den gegenwärtigen, umwelt- und gesellschaftszerstörenden Mechanismus der globalen Marktwirtschaft zu beenden, ist es daher nötig, die politische und soziale Kontrolle über die Wirtschaft wieder herzustellen. Zentral dabei ist es, besonders den Zugang zu den von Polanyi als fiktive Waren bezeichneten Grundlagen der Gesellschaft anders zu gestalten und in besonderen Märkten neu zu organisieren, um sie wieder zum Wohle der Gesellschaft in den Dienst zu nehmen. Dies trifft insbesondere auf das Gut Boden zu, womit die ganze Umwelt gemeint ist und das vor allem auch die Rechte zur Extraktion und Gewinnung von Ressourcen aus der Natur betrifft.

In der gegenwärtigen Diskussion um Nachhaltigkeit wird regelmäßig wieder auf Polanyi verwiesen. So steht etwa das Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) von 2011 unter dem Namen „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“. Darin wird die Notwendigkeit einer post-fossilen Wirtschaftsweise betont und Möglichkeiten hin zu einer Wende zur Nachhaltigkeit aufgezeigt. Dieses Gutachten ist ein zentraler Referenzpunkt für die deutschsprachige Nachhaltigkeitsdebatte und lehnt sich mit ihrem Transformationsverständnis in zentraler Stelle an Polanyi an. Doch das Gutachten ist in seinem Transformationsverständnis weitaus weniger radikal – es schweigt dazu, wie sich der gegenwärtige Kapitalismus gegenüber dessen gesellschaftlichen und natürlichen Grundlagen verselbstständigt hat. Doch für eine Überwindung des selbstzerstörerischen Zustands des Wirtschaftssystems wäre die Anerkennung dieses Zusammenhangs elementar.


(c) Alle Bilder: Wikimedia Commons. Beitragsbild: Coalbrookdale at night. Ölgemälde von Philipp Jakob Loutherbourg d. J.

Was kosten eigentlich Produkte?

11. März 2020 By

Im Wertschöpfungsverständnis der kapitalistischen Produktionsweise werden die Schäden, die dabei entstehen, nicht im Preis mit abgebildet. Wie kann das sein?

Was kosten eigentlich neue Produkte? Eine scheinbar leicht zu beantwortende Frage, denn die Kosten, die Konsument*innen dafür bezahlen müssen, sind meist offensichtlich auf dem Preisschild ausgezeichnet. Wenn das Unternehmen, welches das Produkt anbietet, wettbewerbsfähig arbeiten möchte, werden mit diesem Preis alle Kostenpunkte, die dem Unternehmen im Herstellungs- und Distributionsprozess anfallen, an die Konsument*innen weitergegeben. Und hinzukommt noch die Marge, mit der sich ein Gewinn durch den Verkauf des Produktes erzielen lässt. In dieser Logik schafft das Unternehmen durch die Weiterverarbeitung von Rohmaterialien, die Herstellung von Produkten und deren Verkauf einen Wert. Das Zusammenspiel all dieser Prozesse, die zusätzlich auch die Kosten für das Personalwesen, die Entwicklung neuer Technologien und die Unternehmensinfrastruktur beinhalten, wird als Wertschöpfungskette bezeichnet. Die Wertschöpfung an einem Produkt durch den Hersteller endet in den meisten Fällen mit dem Verkauf des Produktes an den Konsumenten. In manchen Fällen gibt es aber auch noch ein Aftersales-Geschäft, bei denen die Produzenten den Konsumenten weitere Dienstleistungen für die weiterführende Nutzung und Instandhaltung eines Produktes anbieten. Aber meist nimmt auch der Verdienst der Hersteller hier schnell ab.

Die Werschöpfungskette. (Eigene Illustration)

In dieser linearen Wertschöpfung entsteht Wert dadurch, dass zuvor scheinbar wertlose Natur durch menschliche Arbeit abgebaut, in physische Artefakte umgewandelt, veräußert und schlussendlich wieder entsorgt wird. Diese Form der Wertschöpfung wird auch als „Take, Make, Waste-Ökonomie“ bezeichnet, da die Ressourcen hierbei nicht wieder in die natürlichen Kreisläufe zurückgeführt werden.

Externe Kosten und Effekte

Hier fallen aber auch Kosten an, die nicht in der Preisbildung in der Wertschöpfungskette berücksichtigt werden und folglich nicht direkt vom Konsumierenden getragen werden. Wird zum Beispiel von einer Konsument*In in einem Café ein Coffee-to-go in einem Einwegbecher erworben, so sind in dem Preis, der dafür bezahlt wird, anteilig unter anderem die Kosten für den Anbau und die Ernte der Kaffeebohnen, deren Transport und Weiterverarbeitung, die Gewinnmarge des Kaffeeproduzenten, die Personalkosten des Cafés, die Miete für dessen Räumlichkeiten und die Anschaffung- und Instandhaltungskosten für die Kaffeemaschine enthalten. Wenn aber der Einwegbecher nach dem Konsum im Mülleimer oder auf der Straße landet, fallen auch Kosten für die öffentliche Müllentsorgung oder die Straßenreinigung an. Diese Kosten werden als externe Effekte bezeichnet, da sie nicht in der Kosten-Nutzen-Rechnung des Herstellers berücksichtigt werden. Aber trotzdem muss jemand dafür bezahlen: In dem Fall wird die Kosten für die Müllentsorgung und Straßenreinigung von den Steuerzahler*innen getragen und die externen Kosten so kompensiert. Die Beteiligten in der Wertschöpfungskette und die Konsumierenden profitieren dadurch, da sie nicht für die von Ihnen verursachten Kosten bezahlen müssen, wohingegen die Allgemeinheit für einen Schaden aufkommen muss, den sie nicht verursacht hat. Aber so einfach wie im Beispiel der Müllbeseitigung ist es meist nicht, denn die externen Effekte sind zahlreich und oft unüberschaubar. So fallen in der Wertschöpfungskette des Coffee-to-go eine kaum zu überblickende Menge von Kosten an: So finden zwar die Kosten für eine Rodung einer Anbaufläche für Kaffee Eingang in den Preis, nicht aber die Schäden am Ökosystem Regenwald, die dadurch entstehen. Und der Anteil für den Treibstoff, mit dem die gerösteten Kaffeebohnen über den Ozean verschifft werden, wird berücksichtigt, nicht aber die vom Containerschiff verursachte Luftverschmutzung. Im Prozess der Wertschöpfung entstehen so eine Vielzahl von Schäden, die nicht im Preis beinhaltet sind und für die der Endverbraucher auch nicht bezahlt.

Kritiker*innen des linearen Wirtschaftssystems sind sich dabei sicher: Die Schäden, die durch das wirtschaftliche Handeln entstehen, sind weitaus größer, als der produzierte Wert. Und während die geschaffenen Werte kurzfristig bestehen, sind die Schäden an Ökosystem und Gesellschaften oft langfristig und irreversibel.

Die Schäden, die im linearen Wirtschaftssytem entstehen, sind weitaus größer, als der produzierte Wert. (Eigene Illustration in Anlehnung an Jaeger Erben et al. 2019)

Externalisierung

Doch wie kann es sein, dass mehr Kosten und Schäden entstehen als Wert und Nutzen? Ein solcher Zusammenhang müsste doch klar als selbstzerstörerisch zu erkennen sein und würde unweigerlich zu einem Umdenken führen. Wie kann also ein Wirtschaftssystem funktionieren, das die realen Kosten der Produktion und des Konsums nicht mit abbildet sowie Schad- und Wertschöpfung nicht zusammen betrachtet?

Beim Versuch, diese Fragen zu beantworten, wird schnell klar, dass ein Zusammenhang oft nicht so klar zu erkennen ist, wie das bei einem Produkt, dass nur auf einmalige Benutzung ausgerichtet und dem Anfallen von mehr Müll der Fall ist. So ist zum Beispiel eine Häufung von Atemwegserkrankungen, für die das Gesundheitssystem aufkommen muss und unter denen Menschen leiden, auf den Schadstoffausstoß von Automobilen mit Verbrennungsmotoren zurückzuführen. Aber auch Emissionen aus der industriellen Produktion und der Energieerzeugung sorgen für Gesundheitsbelastungen, genau wie Alkoholkonsum, starkes Rauchen und auch Viren, Bakterien und Pilze. Entstehende Schäden sind somit nicht eindeutig auf eine Ursache zurückzuführen und es ist nicht einfach möglich, die Verantwortung für die Schäden einem Urheber zuzuschreiben.

In vielen Fällen treten aber Wert- und Schadschöpfung gar nicht erst gemeinsam auf. Dies wird deutlich, wenn besonders komplexe Wertschöpfungsketten betrachtet werden, wie zum Beispiel die Entwicklung, Produktion und Nutzung von Smartphones. Diese sind Hochtechnologieträger, in denen immens viel Forschungs-, Entwicklungs- und Designleistung steckt. An den Standorten der IT- und HightechIndustrie weltweit findet hier durch die Entwicklungsarbeit und anschließend in den Industrieländern durch Distribution und Verkauf eine immense Wertschöpfung statt. Aber in Smartphones stecken auch eine Menge aufwendig zu fördernder Rohstoffe und eine arbeitsintensiver Weiterverarbeitungs- und Produktionsprozess. Hier kommt es zu einer ganzen Reihe von Schadschöpfungen:

  • Beim Abbau von Mineralien und seltenen Erden kommt es zu Umweltschäden durch den Bergbau. Durch die Nutzung von Säuren zum Auswaschen des Gesteins fallen Giftschlämme als Abfallprodukt an, die langfristig Mensch und Umwelt toxisch belasten. Der Abbau der Rohstoffe findet dabei insbesondere in Schwellen- und Entwicklungsländern statt
  • Die Arbeitsbedingungen in den Abbaustätten sind oft gefährlich und es existieren wenige Sicherheitsvorkehrungen. Arbeitsunfälle und prekäre Arbeitsverhältnisse wie Kinderarbeit gehören zum Alltag
  • Die Förderung der Rohstoffe findet darüber hinaus oft in Krisengebieten statt. Die Gewinne aus der Förderung werden oft für Waffenkäufe verwendet und führen zur Fortführung der bewaffneten Konflikte
  • Beim Transport der Rohmaterialien hin zu den Produktionsstandorten fallen Co2 Emissionen und andere Umweltbelastungen an
  • An den Produktionsstandorten, die häufig in asiatischen Schwellenländern liegen, herrschen meist geringe Gesundheits- und Sozialstandards
  • Es kommt zu Umwelt- und Gesundheitsbelastungen durch die Nutzung von fossilen Energieträger zur Energieerzeugung bei der Herstellung
  • Weitere Emissionen durch Transport und Distribution
  • Energieverbrauch von Servern durch Internet Nutzung auf dem Smartphone
  • Ablenkung durch Smartphone Nutzung als häufigste Ursache für Verkehrsunfälle
  • Entwicklungsstörungen bei Jugendlichen und Stressbelastung bei Erwachsenen durch ständige Erreichbarkeit
  • Umwelt- und Gesundheitsschäden durch unsachgemäßes Recycling auf Elektromülldeponien in Entwicklungs- und Schwellenländern

Bei der der Betrachtung der Schadschöpfungskette wird deutlich, dass der größte Teil dieser Schäden in den Ländern anfallen, in denen Rohstoffgewinnung, Produktion und Entsorgung stattfinden. Bei diesen Ländern handelt es sich oft um Entwicklungs- oder Schwellenländer.

Dieser Zusammenhang ist dabei grundlegend für das Funktionieren eines globalisierten Wirtschaftssystems, das mehr Schäden produziert als Wert: Während die Wertschöpfung in den westlichen Industrienationen passiert und die Gewinne hierhin transferiert werden, wird die Schadschöpfung in die Länder der globalen Peripherie ausgelagert. Die Wertschöpfung erfolgt damit auf Kosten der Umwelt- und der Bevölkerung an anderen Orten und ermöglicht das angenehme Leben in den kapitalistischen Zentren. Dieser Zusammenhang wird in den Sozialwissenschaften als Externalisierungsprozess bezeichnet. Er stellt sich als ein globalisierter Ausbeutungsprozess dar, der aufgrund der weltweiten Machtasymmetrien zwischen den reichen Industrieländern und der globalen Peripherie möglich ist. Diese Ungleichheit wird dabei nicht nur ausgenutzt, sondern durch die entstehenden Schäden, durch die die Entwicklung in den Schwellen- und Entwicklungsländern gehemmt wird, auch noch verstärkt.

Die Ausblendung der tatsächlichen Kosten

Die Tatsache, dass andere hier und jetzt den Preis für das angenehme Leben in den kapitalistischen Zentren zahlen, wird aber in diesen weitestgehend ausgeblendet. Man sieht es einem Produkt nicht an, zu welchen Bedingungen es produziert wurde und welche Schäden dabei entstanden sind. Und oft genug versuchen die Hersteller*innen bewusst die Herkunft der Produkte oder deren Entstehungsumstände zu verschleiern. Doch auch diese Verdunklungsstrategien dürften eigentlich Konsument*innen nicht darüber hinwegtäuschen, dass andere Menschen an anderen Orten die vollen Kosten und Schäden für Produkte zu Dumpingpreisen tragen müssen. Doch laut dem Soziologen Stephan Lessenich ist es uns Menschen in den Industrienationen bereits so in Fleisch und Blut übergegangen, auf Kosten anderer zu leben, dass dies vorbewusst als gegeben wahrgenommen wird. Denn die Externalisierungsprozesse sind tief in der Wirtschaft, der Politik und der Mentalität der Menschen verwurzelt. Es wird auf Kosten anderer gelebt, weil man es kann – und weil man nicht anders kann. Denn es ist nicht so einfach, so zu konsumieren, wie man möchte und nicht jeder kann sich frei entscheiden, ethischen Konsum zu betreiben. Daher werden die Folgen ausgeblendet oder sogar durch eine Schuldumkehr legitimiert. So werden zum Beispiel die bewaffneten Konflikte in den östlichen Provinzen der demokratischen Republik Kongo in den westlichen Medien oft auf Spannungen zwischen ethnischen Gruppen zurückgeführt. Dass diese Konflikte wesentlich um den Zugang zu für die Elektronikindustrie wichtige Mineralienvorkommen geführt und aus den Einnahmen durch deren Abbau finanziert werden, wird hingegen oft ausgeblendet.

Ein ähnliche Schuldumkehr findet statt, wenn auf die hohen Emissionswerte von China aufmerksam gemacht wird – China belegt unter allen Ländern weltweit den Spitzenplatz für den höchsten Co2 Ausstoß. Aber 50% dieser Emissionen fällt bei der Herstellung von Konsumgütern an, die für ausländische Märkte produziert werden. Diese Emissionen stellen damit „outgesourcte“ Schadstoffausstöße aus, die eigentlich dem Land zur Last gelegt werden müssten, in denen sie konsumiert werden.

Wege aus der Krise

Das kapitalistische Wirtschaftssystem, das auf dem Internalisieren von Gewinnen und dem Externalisieren von Schäden beruht hat über Jahrzehnte in den Zentren für einen nie dagewesenen Wohlstand gesorgt. Doch es basiert auf einem Außen, das Quelle günstiger Rohstoffe, billiger Arbeitskräfte und bequemer Entsorgungsmöglichkeiten ist. Dieses Außen schwindet jedoch. So fungieren Schwellenländer wie China oder Indien zwar noch als Produktionsstätten der Weltwirtschaft – doch die dortigen wirtschaftlichen Eliten praktizieren mittlerweile einen vergleichbaren Lebensstil und auch der Wohlstand und Konsum der Mittelschicht wächst. Diese Länder treten damit in Konkurrenz um das Außen. Und auch die jahrzehntelange Schadschöpfung in den Entwicklungsländern fällt auf die kapitalistischen Zentren zurück. Umweltzerstörungen und durch Klimawandel hervorgerufene Extremwetterereignisse erschweren das Leben in diesen Ländern und immer weniger Menschen sind bereit, die Kosten für das Leben der anderen zu tragen, was sich unter anderem in Fluchtbewegungen nach Europa niederschlägt.

Der Erfolg der kapitalistischen Produktionsweise kommt also an seine Grenzen. Doch welche Wege könnten aus der Krise führen?

Preise müssen alle entstehenden Kosten abbilden, auch die Schäden, die in anderen Weltgegenden anfallen. Solange das nicht geschieht, wird Wertschöpfung immer auf den Schäden anderer basieren. Doch damit ergeben sich andere Probleme, unter anderem durch die Monetisierung der Schäden. Wie sind die Kosten für die Zerstörung einer Regenwaldfläche zu bewerten? Was kostet das Aussterben einer Art, was kann der monetäre Ausgleich für eine Stunde Fabrikarbeit und den widrigsten Bedingungen sein? Während die Bewertung dieser Schäden eine Herausforderung ist, würde die Einpreisung dieser Schäden in ein lineares Wirtschaftssystem zwangsläufig dafür sorgen, dass es sich nicht mehr „lohnt“. Langfristig kann also nur die Schließung von wirtschaftlichen und natürlichen Kreisläufen am Ende dieser Entwicklung stehen.


(c) Alle Bilder: Sebastian Preiß

Hausaufgaben fürs Bildungssystem

12. März 2020 By

Über die Notwendigkeit, Kindern und Jugendlichen in der Schulgestaltung zuzuhören

Die Welt von morgen wird anders aussehen als die von heute. Lange herrschte der Glaube, dass junge Menschen sich kaum für Politik und das derzeitige Weltgeschehen interessieren. Mittlerweile hat sich herausgestellt: Tun sie doch, und dabei drängt es. „Dabei wäre es das einzig Sinnvolle, die Notbremse zu ziehen. […] Selbst diese Bürde überlassen Sie uns Kindern.“ – nicht nur bei diesem Zitat aus der emotionalen Rede der Klimaaktivistin Greta Thunberg beim UN-Klimagipfel in Kattowitz 2018 wird klar, mit welchen Zukunftssorgen Kinder und Jugendliche zu kämpfen haben.

Heranwachsende stehen angesichts steigender Komplexität gesellschaftlicher Herausforderungen unter Druck – das Versprechen, die eigene Zukunft gestalten zu können und sein Glück zu schmieden, erscheint anhand von am Horizont erscheinenden enormen Umbrüchen unsicher. Das stimmt manche kämpferisch, oft wirkt es aber auch lähmend. Große Jugendbewegungen wie Fridays for Future, aber auch die steigende Zahl an Depressionen im Kinder- und Jugendalter stehen sinnbildlich für dieses Spannungsfeld.

Seit mehr als einem Jahr gehen weltweit jeden Freitag Tausende Jugendliche auf die Straßen, um auf die Gefahren des Klimawandels und der Dringlichkeit zum Handeln aufmerksam zu machen. (c) Mika Baumeister

Komplexität begreifen lernen in Schulen

Gleichzeitig befindet sich die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen als Schüler*innen einen Großteil der Woche in Klassenräumen: Schule ist mehr denn je gefragt, Kinder und Jugendliche dafür zu gewinnen, global, demokratisch und umweltbewusst zu denken, zu handeln und sich gegenüber Gesellschaft und Umwelt verantwortungsbewusst zu verhalten. Das hohe Tempo des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels erfordert, dass die Lernenden gut mit den erforderlichen Schlüsselkompetenzen und transversalen Fähigkeiten ausgestattet sind, um Unsicherheiten zu begegnen, widerstandsfähig zu sein, gemeinsam an Lösungen komplexer Probleme zu arbeiten und aktive Bürger zu werden, denn: Auf sie kommt so einiges zu.

Dabei hat die Schule als Station im Leben, die alle in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen durchlaufen, echtes Potential: Sie könnte jungen, sehr unterschiedlichen Menschen die Erfahrung bringen, dass die eigene Meinung, aber auch das eigene Handeln Auswirkungen hat. Solche Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und auch der eigenen Verantwortung in Umfeld und Umwelt sind unabdingbar. Erprobungen davon finden in Schulen noch geschützte Räumen, die Platz lassen sollten, auch mal falsch zu liegen, über die Stränge hinauszuschlagen oder außerhalb bestehender Normen zu hinterfragen.

In der Form, in der von jungen Menschen Weltoffenheit, globales Denken und couragiertes Handeln gefordert, erwartet und benötigt wird, müssen auch die Orte des Lernens entsprechend strukturiert sein – insbesondere die, in denen sich die jungen Menschen aus institutionalisierter Verpflichtung aufhalten: Schulen. Das bedeutet nicht nur, dass alle Schulen enorme finanzielle Mittel aufbringen müssen, um zeitgemäß ordentlich digital ausgestattet zu sein. Das geht beispielsweise in Deutschland schon angesichts starker regionaler und bildungspolitischer Unterschiede nicht in absehbarer Zeit und in gleicher Geschwindigkeit.

Das gesamte Bildungssystem müsste dagegen flexibler und dynamischer werden, innovative Ansätze für das Lernen und Lehren anwenden, die traditionellen Rollen und Akteure im Bildungswesen überdenken und sich für ein breiteres Spektrum von Akteuren, Gemeinschaften und Lebenswelten öffnen. Dabei ist besonders relevant, nicht nur zu überdenken, was, sondern vor allem wie gelernt wird. Diesen Anspruch haben bereits viele Schulen und Lehrende in sich. Doch wie anfangen, wenn wie bereits genannt finanzielle Mittel fehlen und institutionelle Vorgaben sich nur langsam verändern?

Schulen als lernende Organisationen

Die Initiative „Schule macht sich…“ setzt genau hier an und will Schulen dazu befähigen, sich mithilfe von Partizipation, erweiterten Lernformen, innovativen Lernformaten sowie passenden und adaptiven Lernumgebungen weiterzuentwickeln, um auf diese Weise selbst zu lernenden Organisationen zu werden. Die Beteiligung der „Expert*innen vor Ort“, also der Schüler*innen, der Lehrer*innen und der Eltern, spielt dabei eine zentrale Rolle.

Das Ziel ist, auf der alltäglichen Ebene des Schulsystems Innovationsprozesse zu initiieren, zu entwickeln und zu testen. Dadurch soll einzelnen Schulen und langfristig dem Bildungssystem insgesamt ein „Werkzeugkoffer“ für Innovationen von unten zur Verfügung gestellt werden.

Klassenräume bieten auch mit kleinen Veränderungen unterschiedliche Nutzungspotentiale. (c) Hans Sauer Stiftung

Gelungen ist das bereits in der Südschule Bad Tölz. Die Schule will partizipative Schulentwicklung fördern. Mit dem Projekt „Hack your Classroom“ sollte die Umgestaltung des Schulgebäudes bis auf die Klassenzimmerebene herunter gebrochen werden, denn: Ein groß geplanter Umbau ist kosten-, zeit- und energieintensiv und braucht oft lange Zeit bis zur Realisierung. Zudem gibt es durch die kleinschrittigen Veränderungen für die Nutzer*innen der Schule die Möglichkeit auf neu auftretende Situationen zu reagieren, sie zu beeinflussen und zu initiieren und bereits Getätigtes gegebenenfalls wiederum zu überarbeiten.

Konkret haben sich in der Südschule Bad Tölz drei Klassen aus unterschiedlichen Jahrgangsstufen gemeinsam mit ihren Lehrer*innen auf den Weg gemacht, ihr Klassenzimmer durch kleine „hacks“ zu ertüchtigen. Die Projektleiterin Vera Steinhauser betont, dass es dabei vor allem auf das Erfahren von Selbstwirksamkeit für die Schüler*innen ankommt. Die entstandenen Prototypen wurden von einem Schreiner in Bauanleitungen für die Möbel übersetzt und gemeinsam mit den Schüler*innen gebaut. So entstanden neue Möglichkeiten, den Raum schnell und bedürfnisorientiert an Lernformate und Situationen anzupassen. Die räumlichen Veränderungen bieten auch neue Potentiale für innovative Lehrformate.

Auch weitere Projekte von „Schule macht sich“ unterstützen bei der Etablierung neuer, innovativer Strukturen und Praktiken  –  zum Beispiel das »Inspiration Game«: Dabei handelt es sich um ein Spiel für Schulentwicklungsprozesse. Es soll ermöglichen, neue Lern- und Lehr-Ansätzen zu unterstützen sowie auf dem Weg zu einer neuen Lernkultur. Durch die Beschreibung innovativer Lernformate bietet es Inspirationen und gleichzeitig eine methodische Struktur, um diese für den individuellen Schulentwicklungsprozess kreativ zu nutzen. Ziel ist dabei, Schulteams bei der Entwicklung neuer Lernformate zu begleiten. Das »Inspiration Game« besteht aus unterschiedlichen Spielkarten – Inspirations- und Prozesskarten – mit deren Hilfe Teams aus Lehr*innen ihren Schulentwicklungsprozess kreativ gestalten können.  Durch solche hilfreiche Tools können auch andere Schulen Erfahrungen, die in Bad Tölz gemacht wurden, reproduzieren. Die Projektinitiator*innen sehen darin die Chance, „durch kleine und große Projektideen zu inspirieren und somit einen langfristigen Wandel in der Schulgestaltung einzuleiten“.

Montessori-Pädagogik und Mehrsprachigkeit für alle

Auch die frisch eröffnete Schule „Campus di Monaco“ in München verfolgt neben der Montessori-Pädagogik einen innovativen Ansatz: Die ganztägige Mittelschule mit M-Zug vereint Konzepte der Mehrsprachigkeit und Inklusion miteinander. Durch die unterschiedlichen Hintergründe der Kinder und Jugendlichen wird mitbestimmt, welche Sprachen im Unterricht mit einfließen. Ziel ist dabei nicht, dass die Kinder und Jugendlichen in jeder Sprache alles verstehen, sondern dass sie ein übergreifendes Verständnis für sprachliche Vielfalt entwickeln und damit neue Zugänge zu unterschiedlichen Themen- und Wissensfeldern finden. Die neue Mittelschule bietet mehrere Fremdsprachen, bilingualen Fachunterricht sowie „Deutsch als Zweitsprache Klassen“ an.

Die Schulleiterin Antonia Veramendi betont: “Wichtig ist uns, Lern- und Erfahrungsräume zu öffnen und formale und non formale Bildung zu verzahnen.“ (c) Campus di Monaco

Außerdem soll der Genuss der Montessori-Pädagogik explizit auch Kindern aus einkommensschwachen Familien ermöglicht werden: Durch ein Solidarprinzip können Kinder aus Familien mit geringem Einkommen ermäßigtes Schulgeld, Kinder aus Familien ohne Einkommen ganz ohne Schulgeld am Unterricht der Schule teilnehmen. Der Aufbau der Modellschule wird wissenschaftlich begleitet, im nächsten Schuljahr steht ein Umzug in ein neugebautes Schulhaus in Ramersdorf-Perlach an.

Transformation braucht auch Bestrebungen der Bildungspolitik

Um transformativen Wandel in der Bildungslandschaft zu erreichen, die gegenwärtige gesellschaftliche Veränderungen aufgreift, sind isolierte Beispiele innovativer Schulen ein guter Anfang, reichen jedoch in eben dieser Isolation nicht aus.  Die Bildungspolitik muss sich besser dafür einsetzen, wie und wann sie innovative Ansätze in ihren laufenden Bemühungen um die Förderung von Reformen des Bildungssystems und die Verbesserung seiner Steuerung und Innovationsfähigkeit übernimmt. Das Wissen darüber, wie Schüler am besten lernen, ist heute viel umfangreicher als zu Zeiten der Entwicklung der Schulpolitik.

Abgesehen von einigen seltenen Ausnahmen erfordert die Einführung innovativer Ansätze in bereits bestehenden Schulen grundlegende Veränderungen in der Schulkultur, anstatt einfach isolierte Praktiken einzuführen oder zu ändern. Um erfolgreich zu sein, müssen Schulinnovationen flexibel sein, auf lokale Bedürfnisse reagieren, in lokale Kontexte eingebettet und offen für ihr Umfeld sein.  Auch kulturelle Sensibilität und das tatsächliche Einbeziehen unterschiedlicher Interessensgruppen ist dafür notwendig – denn „Einheitsgrößenmodelle“ gibt es nicht.

Es ist an der Zeit, neue Wege des Lernens zu denken und diese auch zu beschreiten. Dabei wird es unabdingbar sein, auf individuelle Bedürfnisse und Lebenswelt einzugehen und gleichzeitig die Einbettung der schulischen Bildung von Kindern und Jugendlichen in einer diversen, komplexen Welt zu begreifen.

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